Quelle: wikimedia, Jochen2013
Quelle: wikimedia, Jochen2013

Olga Flor: Moral und Öffentlichkeit

in Writers' Blog

Nicht lange nachdem ich aufgrund äußerer Umstände von der deutschen Großstadt, und das war zufällig Köln, in die österreichische Provinz versetzt wurde, lernte ich das Konzept des AUSGREIFENS kennen. Ausgreifen, so hieß das, wenn die männlichen Heranwachsenden versuchten, die Brüste der Mädchen aus dem Hinterhalt und meist im Schutz der Gruppe zu packen und in den Händen zu quetschen. Das war schon eher unangenehm, noch schlimmer allerdings war das Konzept des SICH-AUSGREIFEN-LASSENS, ich denke, da begann ich die miefige Logik einer religiös verbrämten Moralvorstellung wirklich zu verstehen:

Ein Mädchen, das sich gegen die rüde Behandlung nicht ausreichend wehrte – und dass die überhaupt vor sich gehen konnte, war ja in sich schon Beweis genug für ihr stilles Einverständnis –, eine junge Frau, der also unterstellt wurde, sie habe den solcherart aus sich selbst heraus legitimierten Übergriff mit Wohlwollen über sich ergehen lassen, das war nun wirklich, jugendgesellschaftlich gesehen, das Letzte. Sie wurde damit, und genau an dieser Stelle spielte noch das im Rahmen der Religion definierte Frauenbild hinein, gewissermaßen unrein, über sie konnte man sagen: Die lässt sich ausgreifen. Damals, in den 80er-Jahren, in Europa.

Und diese Unterstellung kam sofort, sie war die verlässlich hinter der körperlichen Attacke hinterhergeschickte Munition, denn sie machte wirklich mundtot und verwies die jungen Frauen auf ihren Platz: nicht nur selbst schuld, da sie schließlich einen Busen hatten, der womöglich auch zu erkennen war, sondern gar noch Gefallen an dessen Misshandlung gefunden, diese moralisch fragwürdigen Existenzen. So funktioniert das Durchsetzen hegemonialer Interessen, das begannen Mädchen früh zu begreifen. Getoppt wurde die Sache nach weiterer physischer Reifung der Beteiligten von der Argumentation, dass eine junge Frau, die einem jungen Mann die Erfüllung seiner Gelüste mittels Penetration verwehrte, nun, da sie ihn doch schließlich erregt habe, ein Umstand, den sie ja irgendwie verschuldet haben musste und der sie damit konsequenterweise mit einer Bringschuld versah, gefälligst auch für die Triebabfuhr zu sorgen habe, dann halt manuell, gnadenhalber, seinetwegen.

Zum Glück schritt die subversive Ausbreitung der Subjektwerdung von Frauen seitdem deutlich voran. Einen Rückfall, wie in Köln, braucht Europa nicht, der ist mitsamt seinen Motiven zu benennen, und die liegen klar in einem männlichen Hegemonialanspruch, sei er nun in den Augen der Täter religiös oder gesellschaftlich legitimiert; die Täter sind auszuforschen und zu bestrafen. Raum ist nur dann öffentlich, wenn er für ALLE sicher benutzbar ist, und öffentlicher Raum ist nun mal der Boden der Demokratie.

Flor_Portraet2Olga Flor, Schriftstellerin, geb. 1968 in Wien, lebt in Graz und Wien. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Jüngste Romane: „Die Königin ist tot“ (Zsolnay, 2012), „Ich in Gelb“ (Jung und Jung 2015).

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