(ein Versuch einer Einleitung in 5 Minuten)
Kafka! Wo soll ich da überhaupt beginnen, es gibt weder einen Anfang noch ein Ende, und kaum habe ich über dieses oder jenes nachzudenken begonnen, schon entziehen sich mir Aussagen und Antworten, es tauchen allerdings weitere Fragen auf, es ist ein stetes Kreisen, manchmal, in den besseren Momenten, ein eigentümlicher Tanz um sich selbst. Doch um gleich mal eine Konkretheit zu benennen, um meine Überlegungen wenigstens mit einem fixen Anhaltspunkt zu starten: Es gibt in Wien (in der Capistrangasse 8) das „Café Kafka“, ein altes, ein altehrwürdiges, kleines Kaffeehaus abseits aller touristischen Aktivitäten, möchte man hinzufügen. Man setzt sich hin, schlürft seine Melange und blickt zu Kafka, der sich dort beispielsweise in einem großen Plakat manifestiert. Dort erkennt und liest man eines seiner Zitate: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern …“.
Dieses stammt aus den sogenannten Zürauer Aphorismen (benannt nach dem böhmischen Dorf Zürau, wohin sich Kafka zur Erholung zurückzog), welche später von Max Brod (Kafkas Herausgeber) publiziert wurden (unter dem Titel: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, 1917-19). Es ist ein Zitat über welches man, reichlich nachdenken kann; man nippt demnach weiter an seinem Kaffee, denkt plötzlich über Zielsetzungen und Verzögerungen nach, Absichten und Unwegsamkeiten, symbolische Wegelagerer und allerlei verschlungene Pfade, ja plötzlich ist der erhoffte Weg kein Ziel mehr, er ist ein kläglicher Anfang vom Ende; etwas, das man gar nicht erst beschreiten mag, wozu auch, alle (und einen selbst ganz besonders) erwartet ein einziges, großes Scheitern. Was war nochmal das eigentliche Ziel? Und wie lässt sich ein in einen selbst eingeschriebenes Zögern (danke, Kafka!) überhaupt vermeiden?
Doch ich schweife ab, kreise längst wieder in irgendeinem unsäglichen Strudel und verzettele mich; eigentlich wollte ich von etwas ganz anderem erzählen, das mir bemerkenswert, ja nahezu kafkaesk erscheint: Besagtes Café Kafka zu Wien (bestimmt gibt es auch anderorts Cafés mit dem Namen Kafka, einen Moment, das haben wir gleich, ja doch, etwa in Barcelona, Ankara, Brüssel etc.), jedenfalls, in Wien befindet sich das Etablissement in der Capistrangasse, einem unscheinbaren, kleinen Nebengässchen der unsäglichen Mariahilferstraße, einer der bekanntesten Einkaufsmeilen Wiens. Johannes Capistran war ein fanatischer, katholischer Prediger, der einst nach Mähren zog, um dort an der restriktiven Bekehrung der Hussiten mitzuwirken. Nach dem Fall Konstantinopels (1453) agitierte er unablässig für einen Kreuzzug gegen die Türken, 1456 erwirkte er in Ungarn höchstpersönlich die Aufstellung eines Kreuzheeres (unter Johann Hunyadi, einem ungarischen Staatsmann und Heerführer) und nahm selbst am Kampfe teil; das ungarische Heer blieb sogar siegreich, Capistran selbst allerdings verstarb – so vermerken es die Chroniken – an Erschöpfung.
Vielleicht wird sich jetzt mancher fragen, was dies – im engeren Sinne – mit Kafka, der Strafkolonie, Verwandlung etc. zu tun hat – und ich müsste diesem antworten: Nahezu alles, aber wirklich alles hat irgendwie mit Kafka zu tun! Zum Beispiel unterzogen Forscher im Auftrag der Universität und Stadt Wien (2011 bis 2013) die Benennung der Wiener Straßennamen einer zeithistorischen Kontextualisierung; jedenfalls, aufgrund der daraus resultierenden Erkenntnisse zur historischen Einordnung des Herrn Capistran, wurde der Straßenname als ein „Fall mit Diskussionsbedarf“ eingestuft. Demnach empfahlen die Wissenschaftler den Straßennamen zur Diskussion, als sich herausstellte, dass Johannes Capistran neben seiner Funktion als Inquisitor (erwähnte Bekämpfung der Hussiten) auch für seine antijudaistischen Polemiken bekannt war. Und: Er ließ höchstpersönlich 1453 bei einem Pogrom in Breslau 41 Juden und Jüdinnen verbrennen, die noch verbliebenen Gemeindemitglieder vertreiben und deren Kinder zwangstaufen.
Was ich damit wohl andeuten mag: Kafka und seine Werke sind stetige und niemals sich schließende Fälle mit Diskussionsbedarf; wie man sich ihnen nähert, bleibt tatsächlich einem selbst überlassen; es gibt weder einen falschen Zugang, noch eine vollkommen absurde Lesart, gewiss kein noch so abwegiges Herantasten und Deuten, denn, man vergegenwärtige sich einmal noch des Kafka-Zitats, einen, oder gar den Weg gibt es nicht – und somit stehen uns alle, wirklich alle Wege offen.
Keinesfalls müsste man hier erwähnen, da es wohl jedem bekannt sein dürfte, dass Kafka einer tschechischen (damals noch Böhmen und Mähren), jüdischen Familie entstammte; mir scheint so gesehen die Tatsache, dass sich das Wiener Café Kafka in einer Straße wiederfindet, die sich einen antitschechischen, jüdischen Schlächter und katholischen Fundamentalisten zum Namenspatron erkor, nun, wie schon erwähnt, einigermaßen kafkaesk. Selbstverständlich ist das nur ein Zufall, eine Randnotiz der Geschichte, bestimmt wird kein Verantwortlicher in Wien jemals diese Gasse ernsthaft umbenennen wollen. Es möge demnach Herrn Capistran weiterhin das ehrwürdige Café Kafka ein Dorn im Auge bleiben, ich bin mir zudem absolut gewiss, Kafka würde sich daran erfreuen, ja diesen, meinen Humor teilen.
Eine Auseinandersetzung mit Kafka scheint mir in erster Linie eine Konfrontation mit sich selbst, vielleicht ist dies die unmittelbarste aller Wahrheiten, die ich zu benennen vermag; das eigenen Denken, Fühlen und Handeln dominiert die Lesart und Deutung von Kafka, bestimmt mehr als bei anderen Schriftstellern. Nach Kafka-Lektüren bezieht man unweigerlich alles auf den eigenen Kontext, die einem gegenwärtigste und unmittelbarste Zeit; es ist dies eine der vielen Qualitäten Kafkas, die Zeitlosigkeit und zugleich Teilnahmslosigkeit, der er uns (und seine Protagonisten) aussetzt. Oder, um Ulrike Wörner zu zitieren: „Ausfüllen muss diese Lücken der Leser selbst – ähnlich wie bei einem Comic die Geschichte zwischen den jeweiligen Panels weitergeht … „Unbestimmtheitsstellen“ wie Roman Ingarden diese Leerstellen einmal genannt hat. Je mehr solcher Stellen ein Text vorweisen kann, desto intensiver schreibt sich der Leser durch den Akt des Lesens in den Text hinein – weshalb ein solcher dann mit jedem neuen Leser wiederum zu einem neuen Text wird.“
„Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus“, schrieb einst der Dichter Paul Celan, und jener Akt des Sich-Aussetzens scheint mir ohnedies ein gutes Credo zu sein, welches das Leben und die Poetik (oder auch Biographie und Literatur) in einem Punkt zusammenführt. Dass die Fokussierung auf eine (poetische) Aufgabe keine zwanghafte Vereinnahmung meint, dies wurde mir später ausdrücklich klar; die Literatur muss eine Geste ins Nichts sein, in der Hoffnung, dass jemand die ausgestreckte Hand ergreift – und jenes Fassen und Greifen ins Nichts, es ist für mich ein Sinnbild für Kafkas Literatur in ihrer ureigensten Form …
Ich las meinen ersten Kafka-Text in der Schule, mit vierzehn (oder früher), es handelte sich hierbei um Die Verwandlung, wohl einen der bekanntesten Texte überhaupt. Und ich muss gestehen: Müsste ich nochmals zur Schule gehen, ich würde gar nicht erst versuchen, Kafkas Texte analysieren und begreifen zu wollen, jedenfalls nicht im oftmals eingeforderten, schulischen dogmatischen Sinne, also einem richtig vs. falsch! Kafka überlässt einem die vollkommene Deutungshoheit, und alles, was man nach einer Lektüre erkennt, ist schlicht Wahrheit, irgendeine Wahrheit, eine persönliche, mir zugehörige, Irgendwie-Wahrheit meinetwegen. Man liest Kafka und reflektiert die eigenen Erfahrungen, Geschehnisse, Haltungen und Meinungen, immer jedoch drängen sich die elementarsten Fragen unserer Menschlichkeit, ja unserer Gesellschaft auf: Was ist Freiheit? Was ist ein Individuum? Was ist Macht? etc.
Schlichter ausgedrückt: Kafka stellt uns in seinen Geschichten unablässig Fragen, die ein jedes Individuum, eine jede Generation ohnedies beschäftigen, er selbst bleibt allerdings (zurecht!) äußerst wage in diesbezüglichen Antworten (Kafkas Anmerkung, er selbst sei ein „stehender Sturmlauf“ spricht da Bände …). Sein Erzählen ist verrätselt, voller unscheinbarer Details, angereichert mit diffusen Stimmungen, Skurrilitäten und Unbehaglichkeiten. Eines ist doch offenbar: Keineswegs stimmt mit der Welt alles, mit einem selbst wohl auch nicht.
Link zur Veranstaltung
Michael Stavarič, Schriftsteller, geb. 1972 in Brno (Tschechien), zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (2012) und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur (2007/2009/2012). Zuletzt erschienen: „Königreich der Schatten“ (C.H. Beck 2013) und „Mathilda will zu den Sternen“ (NordSüdVerlag 2015).