Ein probates Mittel, um sich Kafka zu nähern, ist keinesfalls nur Improvisation und Interpretation, vielmehr scheinen mir als Schriftsteller auch Nachahmung, Paraphrase, Persiflage, sprich Cover-Versionen jeglicher Art, geeignet; nicht zu vergessen, dass sich Kafka selbst gerne anderer Texte und Kontexte bediente. In der Verwandlung wird beispielsweise Dostojewski und dessen Roman Der Doppelgänger paraphrasiert, dieser beginnt mit den Worten: „Es war kurz vor acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakoff Petrowitsch Goljädkin nach langem Schlaf erwachte (…) Von allen am nächsten stand ihm ein junger, schlanker Offizier, vor dem Herr Goljädkin sich wie ein richtiger Käfer vorkam.“ (zitiert nach Hartmut Binder, Kommentar zu sämtlichen Erzählungen). Nachgewiesen ist etwa auch die stoffliche Vorlage für In der Strafkolonie; Octave Mirbeaus pornographisches, anarchistisch-sadistisches Machwerk Le Jardin des Supplices hatte Kafka in dessen Motivik und Thematik fasziniert, fand er hier doch die für seine Sicht der Dinge typische Verbindung von Geschlechtlichkeit und Tod (W. Burns: Variations on a Theme by Octave Mirbeau)
Ich ließ es mir nicht nehmen, selbst einen längeren Text zu schreiben, der Kafka folgt, ein kurzer Auszug scheint mir durchaus zielführend, betrachten wir also eine Verwandlung der Verwandlung:
(…) „ich fühlte jählings ein leichtes Jucken in meinen Händen, als wäre beinahe alles Blut aus ihnen gewichen, es kribbelte und prickelte, als wäre kaum noch etwas von diesem Lebensspender enthalten; ich öffnete die Augen, hob den Kopf etwas an, um meine Gliedmaßen sorgfältiger in Augenschein zu nehmen. Das Kribbeln an sich war nichts Neues, der Hausarzt hatte es mir schon vor Jahren als ein Kreislaufproblem schmackhaft gemacht, ich erinnerte mich, diesbezüglich sogar Lexika gewälzt zu haben. Kribbelkrankheit, die … Kornstaupe, Ergotismus, Raphania; eine durch den Genuss von schlechtem, aus unreinem oder verdorbenem Getreide gebackenem Brote; früher als St. Antoniusfeuer bekannt, einer in ganz Europa verbreiteten Volkskrankheit, bei welcher die Glieder brandig wurden und abfielen; nach St. Antonius benannt, weil dessen in der Kirche zu St. Didier la Mothe aufbewahrten Gebeine Wunder gegen dieselbe taten. Symptome u.a. ein höchst peinigendes Ameisenkriechen, welches in den Händen und Füßen beginnt; zur inneren Hitze gesellt sich Marmorkälte, Mattigkeit, Schmerzhaftigkeit und endlich Gefühlslosigkeit; hinterlässt chronische Unterleibsleiden, einen Ausfall von Haaren, Zähnen, selbst Nägeln; Behandlung: Opium.
Ich fand alte Lexika seit je her unterhaltsam, nahezu alles wurde mit Opium behandelt und angeblich, im rudimentären Sinne, geheilt, mein Hausarzt verschrieb es mir allerdings nie. Ich öffnete also die Augen, mein Kopf zuckte ein wenig, als müsste meine Nacken- und Gesichtsmuskulatur neu kalibriert werden. Ich ließ den Blick schweifen, meine Hände, die Ober- und Unterarme, die Handrücken, die Finger, was soll ich sagen, nichts davon war zu erkennen. Instinktiv wollte ich mit der rechten Hand nach der Linken greifen, diese ausgiebig betasten, doch zog ich den Arm sogleich zurück, die winzigste Berührung hinterließ einen Kälteschauer.
Ich sah überall nur ein Federkleid, meine Ober- und Unterarme hatten sich in Flügel, die Fingerknochen in Federn verwandelt, die großen Schwungfedern stachen dabei besonders ins Auge, sie waren es auch, die wie verrückt kribbelten. Ich wagte es kaum, meine Beine zu betrachten, denn diese hatten sich zurückgebildet, ich erkannte ganz deutlich ein paar von Hornschuppen übersäte Vogelfüße, mit langen, spitzen Krallen. Mein äußerst beweglicher, stark gefiederter Vogelhals ließ keinerlei Zweifel zu; ich beäugte Füße, Finger, Arme, Oberkörper ausgiebig von allen Seiten, beinahe konnte ich erneut einen Rundumschwenk wagen, doch am Ergebnis ließ sich nicht rütteln: Ich war ein Vogel.
Einigermaßen erstaunt glitt ich in meine frühere Lage zurück, „dieses frühzeitige Aufstehen“, dachte ich noch, „es macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss ausreichend Schlaf bekommen, sonst kann das übel enden.“ (…)
(Michael Stavarič, God, make me a bird!, Erzählung)
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Michael Stavarič, Schriftsteller, geb. 1972 in Brno (Tschechien), zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Adelbert-von-Chamisso-Preis (2012) und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur (2007/2009/2012). Zuletzt erschienen: „Königreich der Schatten“ (C.H. Beck 2013) und „Mathilda will zu den Sternen“ (NordSüdVerlag 2015).