2119 gibt es, wie wir wissen, den Planeten Erde nicht mehr, weil der einstimmig von seinem Vater bestimmte Weltregent Barron Trump ihn während seiner Inauguration mit seinem hochtechnologisch aufgerüsteten Gameboy in die Luft gesprengt hat. Ob aus erblich bedingter, verzeihlicher Zerstreutheit oder in einem kostbaren Moment der Klarsicht, darüber streiten sich die Sonnensystemgeschichtsschreiber von Milchstraße zu Milchstraße. Die Hauptsache ist jedenfalls, dass die Grazer Literatur den sogenannten Weltuntergang zumindest in Teilen überstanden hat. Und so können wir heute als unseren Ehrengast auf dem virtuellen Podium Alfred Kolleritsch begrüßen, er hat den finalen Atomschlag überstanden, ohne seine menschliche Gestalt eingebüßt zu haben, letzter noch lebender Zeitzeuge neben Keith Richards.
Klaus Hoffer hat sein komplettes geistiges Potential nach dem Vorbild Oswald Wieners rechtzeitig in einen Computer einspeisen lassen. Als künstliche Intelligenz schweigt er künstlerisch noch eindrucksvoller. Als das Wünschen noch geholfen hat, ist Gerhard Roth Seite für Seite in seinem Archiv aufgegangen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fiel Wilhelm Hengstler in ein Wurmloch. Barbara Frischmuth lebt faktisch alternativ als Frau im Mond. Alfred Paul Schmidt besiedelt die Rückseite.
Wir anderen haben uns in unsere Moleküle, Atome, Quarks aufgelöst, es fällt schwer, uns einer Person zuzuteilen, auch wissen wir selber nicht mit Bestimmtheit, ob wir leben, ob wir gestorben sind, die Wahrheit wird wohl sein, dass manche unserer Partikel durch die Radioaktivität besonders belebt wurden, sie scheinen auch ein Bewusstsein zu haben, unseren Bruchstücken sind lauter Mikrogehirne gewachsen, die gar nicht anders können als zu denken, und wer denkt, der dichtet auch. Nur dass wir in unserem aufgelösten Zustand nichts davon aufzeichnen. Wir schreiben nicht, wir dichten. Schon zu unseren unversehrten Zeiten hatten sich Menschen nur noch von Berufs wegen mit Literatur befasst. Alle anderen mieden sie wie Aussatz, Pestilenz und Cholera.
Das musste niemandem leid tun. Die Literatur nach der Moderne lebte davon, die alten Geschichten noch einmal zu erzählen, die vor der Moderne alle zum seligen Einschlafen gebracht hatten, und weil sich unbewusst alle an alles erinnern, was jemals erzählt wurde, wollten alle wie Kinder die gleichen Geschichten noch einmal und immer wieder hören. Neue Erkenntnisse verschaffte das nicht, das immer schon Gewusste wurde aufs freundlichste bestätigt. Aber die Erkenntnis war längst aus der Dichtung ausgewandert und anderswo daheim. Unbekannten Aufenthalts. Vielleicht ständig auf der Flucht.
Aber wenn die Literatur auch dahinsiechte und zu schwach zum Sterben war, so blieb doch immer noch – die Poesie. Die Poesie ist dieses benannte Unnennbare, das jeder kennt, der sich wünscht, fliegen zu können. Wer sie aber begrifflich fassen möchte, dem löst sie sich beim Sprechen auf. Die Poesie ist tatsächlich unsterblich, sie überlebt die Sonne, weil sie älter ist als sie. Auf die Poesie müssen wir nicht vertrauen, sie ist immer für uns da, auch wenn wir längst fort sind. Sie macht alles für uns, weil wir alles für sie tun. Und was bleibt uns auch anderes übrig? Mit der Literatur hat sie weniger zu schaffen, als uns scheinen mag. Wir wissen oder ahnen sehr stark, dass sie etwas anderes ist. Wir können nur sagen, was sie ganz bestimmt nicht ist. Ein Allerweltsunterhaltungsindustrieprodukt.
Wir sind reiner Geist, ein unhörbares Murmeln unerhörter Diskurse, wir sind eine Schwarmpoesie, die ganz Gegenwart ist, und deshalb ewig. Fern jeder Überlieferung flüchten unsere Eingebungen vor uns selbst.
Wohl gibt es haltbare Gerüchte, der eine oder die andere habe sich vorübergehend materialisiert, trotz Verwandlung unverkennbar mit einem früheren Selbst verwandt. So soll es Frequenzen geben, die alle Teilchen, auch die kleinsten, die sie vernehmen, in sich zusammenstürzen lassen. Auch erscheint an hohen Festtagen ein Himmelskörper, die tote Königin genannt, der sich von Sternen ernährt. Aber das sind wohl Mythen, die sich unsere Restbestände ausdenken, um über die Himmelsrunden zu kommen.
Unsere Hymne summt in uns: Unser Leben, das ist ein Schweben/ durch die Ferne, die keiner bewohnt. Ja, niemand außer uns nimmt uns wahr, das könnte uns traurig stimmen, aber so etwas wie Trauer kennen wir nicht, das Wort schon, das Wort, die Wörter alle, sie sind um uns, die Wörter hören uns womöglich, an die Wörter wenden wir uns, sie werden uns überleben, es sei denn, wir vergessen sie, wie wir uns selbst vergessen haben, denn wir könnten nicht sagen, wer wir einmal gewesen sein könnten, auf der Zunge das Fremde vielleicht, unsere Materie nur Sprachmaterial, Sätze, die noch in uns verglühen. Ist, was wir erfinden, vor unserer Zeit Vorgefundenes, nichts als Nachhall? Wer soll uns antworten, wenn nicht wir?
Wen kümmert’s, wer spricht? Uns sicher nicht. Und die Sätze, die uns zufallen, klingen wie Zaubersprüche für eine Welt, die verfallen ist. Hohl klingt, was einmal sphärisch klang.
An eine Zukunft glauben wir nicht, da wir so etwas wie Zeit längst hinter uns haben, nach dem großen Knall, jetzt steht nur als Orientierung ein Wort neben dem anderen, wir wissen nicht, wie wir sie lesen sollen, auch scheint alles ständig an Bedeutung zu verlieren, unsere immer dichtere Masse schrumpft, es zieht uns zusammen, bis auf einen ausdehnungslosen Punkt.
Kinga Tóth: Grazer Literatur in 100 Jahren
Schreibt man in 100 Jahren noch? – war meine erste Reaktion auf...