Kinga Tóth: Grazer Literatur in 100 Jahren

in Writers' Blog

Schreibt man in 100 Jahren noch? – war meine erste Reaktion auf diese Frage, ob der Mensch noch da ist. Vielleicht ist die Frage wirklich, ob es noch jemanden gibt, der schreibt, und dann wie. „Kim Jong Nummer 2“ hat schon in seiner Neujahrsrede erwähnt, einer seiner Finger ist immer auf dem Atombombenknopf. Well.. Das ist also eine Drohung an BigBoom2, und wir sind erst beim ersten Punkt dieser Liste.

Lassen wir uns jetzt faktisch und logisch überlegen, wenn alles so weiter geht, wenn wir unsere Gewässer und damit indirekt die Natur weiter mit Plastik füttern, wie kommt das bei uns an? Wie mutieren wir weiter? Werden wir noch fähig sein, mit unseren Plastikfingern irgendwelche Tastaturknöpfe zu drücken, oder werden wir neue Reime in unsere Plastikhäute einnähen-einkratzen? Neutechnovolksliederstickerei auf die Herzen. Klingt nicht morbider, als ein Walmagen mit Plastikbojen, aber wenigstens werden wir alle Blue, also um die Tütenhautfarbenproblematik müssen wir uns nicht mehr kümmern.

Oder werden wir Inkubatoren von Pflanzen, was nach der Grabsituation sowieso passiert. Heutzutage kann man sich kompostieren lassen (als letzter Wunsch) und den Platz wortwörtlich den Pflanzen weiter (eigentlich zurück)geben. Vielleicht ist das neue Jahrhundert das Jahrhundert der Pflanzen, sie (oder eher wir zusammen) fotosynthetisieren die schönsten Allegorien der Welt, immer lebendigere und dickere Hymne an und aus Sauerstoff und unsere botano-technischen Clouds sammeln die Hymnen in liquiden Datenbanken.

Für diese Ideen ist die Lage von Graz geografisch ideal: die Mur ist doch noch relativ sauber, aber es gibt noch 100 Jahre um das zu ändern und es herrscht auch viel Grünes, dazu ist es leicht anzuschließen, mit langen Wickelranken kratzen wir die Synthese und der Rest ist schon in der Photo-Synthese drin, die Sprache wird ein großes Strecken, die Wörter Beugungen, Rankenbewegungen, das Atmen unser Pflanzenkörper, Flüstern die Blätter, Sonett der Wind.

Mit Pilzfäden und Wurzeln zerplatzen wir kleine Luftblasen unter der Erde, die Wurzeln wälzen die Erdbrocken weg, unsere Fäden verwickeln sich und weben Nährstoffteppiche, wir knüpfen, wie die Ureinwohner Amerikas, wir knüpfen unter der Erde, und atmen über der Erde aus.

Es kann passieren (es ist möglich natürlich), dass dies alles sich noch ein bisschen verspätet, und dass wir uns noch mit diesem Sprachcodesystem abmühen, es kann auch sein, dass Kim Nummer 2 noch keine Knöpfe drückt, vielleicht nur ein nächster, oder auch, dass die ganze Buchindustrie einmal bemerkt, dass kompostierendes Papier schon existiert, sogar auch solches, worin Samen „eingebaut“ wurden, sodass, wenn unsere Dichtwerke ihre Mission vollkommen erfüllt haben, nach der Beendigung ihrer Aufgaben sogar Bäume wachsen können, und wir können mit dem Ganzen  von vorne anfangen. Das wäre echt eine Literatur und eine andere Art Freiheit.

Maislieder: lied sechsundsiebzig
wer bäume pflanzt der wurzelt

1
in der zone fragt man ob wir was fühlen unsere
verwachsene mutter sagt wir hatten nie geruch
nur womit wir eingeschmiert wurden neue blumen blühen auch geruchlos
die abgeschossenen lkws minibusse suchen minen streuen eicheln
auf die wiese ehre den platz ansonsten bestraft er dich hier läuft niemand

2
in unseren thermosflaschen pfeift das heiße destillierte pi wasser
geschmeidig und warm hart und kühl wir rücken gut voran
nur ohne die rucksäcke gelingt es was unnötig ist reißt ab
durch das wasser den stein über die erde unter die erde
in jeder menschkörperhaltung
in zwischenstoffe greifen die vermeidung erlernen
die falle erkennen immer wieder rastlos bis zur ankunft
 
3
die raststation ist kalt wie quecksilberkugeln geschwätz
ist unnötig wir sind weder wütend noch unbeholfen
lassen die hunde zu uns fischen nie mehr
aus brunnen nur gießen wir um unsere rasen
zu verschönern damit der garten uns weich nimmt

4
deswegen hacken wir ununterbrochen
bereiten die beete für uns
in handschuhen ringen (kämpfen) wir mit unserer erde
bereiten wir unsere bodenräume weichen wir auf bis
wir verhärten

5
unser atem trennt sich von unserer rinde
unsere feuchtigkeit gießt die erde
die mit uns schwanger ist von draußen
wir werfen die schollen aufeinander
auf dem erdhaufen widersprechen wir
uns in den tunneln um zurückzuscheuen
weiter in stille düngen wir mit uns
wir sind der nährstoff die reife ist die ankunft

6
wenn wir alle naturelemente gefunden haben
erreichen wir die perfekte aufnehmbarkeit als gute kapseln
als gute füllung kommen wir an
den falschen weg können wir einschlagen aber überall
rahmt sich uns die erde aus unseren mineralien neunautilus wird gebaut
in stücken fallen wir ins nasse

7
wir häuten uns – ernährung – verfeinerung-reinigung-fütterung
unser tag unsere sonne ist glasrein in badebecken in betonöfen
so ist das brennen die gedanken sind aufgeheizte schalen
(aus dem brustkorb reißt sich die ranke den rest spuckt die erde aus)
es kommt selten vor dass wir alle hier ankommen