Cordula Simon: Wir sind das Parasitentum, wir sind die Zukunft

in Writers' Blog

Graz wird selbstverständlich auch in hundert Jahren noch stehen. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Graz steht auch schon lange nicht nur als Stadt, sondern für literarische Qualität, auch wenn die Rezeption im deutschsprachigen Raum gelegentlich zu wünschen übrig lässt: Die Österreicher in ihren kleinen Verlagen mit ihren kleinen gezauberten Texten wurden in Bundesdeutschland oft wegignoriert, solange sie nicht von großen deutschen Verlagen “entdeckt” wurden, lange nach einer “Entdeckung” durch österreichische Förderer, allen voran den Staat und seiner Stipendienfülle und Förderfülle, die uns davor rettet, die Härte des doch recht kleinen inländisches Marktes finanziell zu stark zu spüren. Lange nach einer “Entdeckung” österreichischer kleiner Verlage, in denen die Konkurrenz nicht durch die unglaubliche Masse des Geschriebenen, sondern durch die hochqualitative Spracharbeit besteht. Lange nach einer “Entdeckung” durch österreichische Literaturzeitschriften, die stets nach dem Neuen und Aufregenden suchen, allen voran hier die Grazer, in denen die Aufbruchsstimmung der Grazer Gruppe nie verloren ging, oft sogar lange nach einer “Entdeckung” durch die Grazer Literaturwerkstatt, die sich in einer soziologischen Studie als die erfolgreichste “Schreibschule” des deutschsprachigen Raumes entpuppt hat: Niemand arbeitet so hart an seinem Talent, von so frühen Tagen an, wie jene, die die Grazer finden, und gesucht wird überregional und international.

Heute ist man besser vernetzt als früher, für manch einen ist die Literaturkarriere nur mehr ein E-Mail weit entfernt. Graz wird noch stehen in hundert Jahren, aber bereits heute übertreten wir die Schwelle dessen was “Grazer Literatur” bedeutet. Weniger ein Standort, als vielmehr ein Gütesiegel. Junge Autoren zählen die Werkstatt bereits zum “Kleeblatt” der Schreibschulen, die zu den Garanten des Erfolgs zählen. Aber hundert Jahre sind lang.

Kaiser Wilhelm II. soll gesagt haben, dass das Auto eine vorübergehende Erscheinung sei und er an das Pferd glaube. Ein Zitat, das ihm nur untergeschoben wurde, denn viele Zitate im Internet sind gefälscht, wie Wittgenstein schon sagte. Können wir noch an eine Grazer Literatur oder an Literatur überhaupt glauben, bei voranschreitender Digitalisierung? Wenn die künstliche Intelligenz sich weiterentwickelt? Vielleicht glauben wir in wenigen Jahrzehnten mehr denn je daran, denn was werden wir alle tun, wenn selbstfahrende öffentliche Verkehrsmittel das Verkehrsproblem gelöst haben? Glauben wir, dass die Digitalisierung eine vorübergehende Erscheinung ist? Oder glauben wir an die Taxifahrer? Was Taxifahrer aber dennoch können, ist häufig, neben ihrer Orientierung im innerstädtischen Verkehr, das Erzählen von Geschichten. Bedeutet es dann, dass die Konkurrenz größer wird? Schließlich muss sich dann jeder, der maschinell ersetzt wurde, einer neuen Tätigkeit zuwenden und wir benötigen Tätigkeiten zur Befriedigung unserer Sinnsuche. Oder wie Yuval Harari sagt: Was werden die unnützen Klassen dann alle tun? Kreativarbeit gibt Sinn, so wie es Erwerbsarbeit tut. Wofür wird die Welt bereit sein zu bezahlen? Vielleicht steuern wir auch auf das Bedingungslose Grundeinkommen zu und sind am Ende alle Künstler und wer für würdig befunden wurde, kann sich endlich Grazer nennen. Manch einer wird sich dagegen entscheiden, denn – hah! – hat es sich doch ausgezahlt, den Tauren in World of Warcraft hochzuleveln (oder welches Spiel auch immer gerade die Massen anziehen wird, was auch immer zum anthropologischen Deep Play nach Clifford Geertz wird). Das Spiel gibt Belohnungen aus und die Endorphine im Gehirn reichen, um sich nicht nutzlos zu fühlen. Wer will, kann also In-Game-Karriere machen.

Wer kann, wird Geschichten digital erzählen. Webdesign und die Verbindung von Bild und Ton werden zu naheliegenden Ausdrucksformen der Literatur. Wir machen immer seltener beim Buchtrailer halt. Literaturverfilmungen werden langsam zu Literaturserien, denn die Rezipienten schätzen, wenn man ihnen Zeit lässt, sich die Entwicklung der Figuren und Themen genau anzuschauen. Dann gibt es also Grazer und es gibt Konsumenten. Wir sind das Parasitentum, wir sind die Zukunft.

Für einige Jahrzehnte wird das für die Grazer Szene unglaublich gut laufen. Aber was ist dann, was ist danach, wenn einer dieser Computer, die die Strukturen beliebter Geschichten und Filme analysieren, sich in zwanzig Minuten selbst all das beigebracht hat, was alle Grazer zusammen wissen und können? Wenn man auch die Produzenten von Kunst und Unterhaltung nicht mehr braucht? Die Geräte beginnen sich selbst zu programmieren und zu designen? Vielleicht sollten Sie heute doch noch ein Level spielen. Nehmen wir die Entwicklung zur Kenntnis: Die Sonne scheint heute über Graz.