die beiden fragen nach literatur in graz in hundert jahren und nach derzeit akuten literarästhetische[n] gemeinsamkeiten und/oder […] bezugnahmen auf eine ‚grazer tradition‘ – sie sind, wenn wir sie beim worte nehmen, mehrfach volle wäsch‘ für den hugo.
lassen sie mich elaborieren:
die frage nach literatur in hundert jahren ist insofern für den hugo, als eine antwort auf sie in wenig anderem als einer liste von soziologischen, politischen, ökonomischen, psychologischen, technologischen gründen dafür bestehen müsste, warum, mit dem wort von fredi sinowatz, alles sehr kompliziert ist; nebst einer detaillierten literaturgeschichte von 1919 bis 2019, die jene prinzipiellen, stets nur im nachhinein sich erschließenden unwägbarkeiten am einzelnen textbeispiel vorführte; es käme dann raus, dass die entscheidenden unterschiede in ästhetik, rezeptionsverhalten und kunst-rudel-bildung einerseits nicht gar so spannend, andererseits qualitativ völlig unvorhersagbar sind, weil es sich samt und sonders um oberflächenphänomene der entschieden unliterarischen sozialen wirklichkeiten handelt; wir reden da also von einer besonders umfangreich = orchideenfächlichen dissertation mit der einzigen konklusio, nichts genaues wisse man nicht.
die frage nach graz in hundert jahren wiederum ist insofern für den hugo, als es nur eines einzigen kurzbesuchs etwelcher, auf lange sicht nicht ganz auszuschließender, bombenflugzeuge bedürfen wird, um sie obsolet zu machen; oder, langsamer, weiterer fünfzig jahre wirtschaftsfreundlicher stadtplanung mit entsprechendem luftgütevektor; gern auch einer zombieapokalypse; oder, am liebsten, der verdienten flutung des steiermärkischen voralpenlandes durch ausläufer der adria, wie sie mit plausiblen erderwärmungsszenarien voll vereinbar ist.
gleich doppelt für den hugo ist die frage nach bezugnahmen von zeitgenoss*innen auf eine „grazer tradition“. zum einen haben wir eine solche bezugnahme bereits zur kenntnis zu nehmen, genau insofern wir nach ihr gefragt werden – spielt sich doch unser gespräch hier nicht jenseits von graz und/oder der gegenwart und/oder dem literarischen feld ab. zum anderen erkennen wir aber gerade in dieser solchen frage, als einer bloß institutionellen setzung, den ausweis der realen unverbindlichkeit-unvermitteltheit-unvermittelbarkeit einer solchen distinkten „grazer tradition“ im sinne realer gehalte (abgesehen von ihrer nützlichkeit als lokalpatriotisches zauberwort in der förderkorrespondenz) … so vermerken wir als datenpunkt: dass es in graz lebendige tradition für autor*innen zu sein scheint, sich zu einer als solcher bloß gesetzten grazer tradition irgendwie zu verhalten, um es z. b. der kleinen zeitung und den fördergebern leichter zu machen, einen auch einmal zur kenntnis zu nehmen. wir werden vermutlich nicht weit fehlgehen in der annahme, dass das phänomen sich in anderen deutschsprachigen städten ähnlicher größe wiederholen wird.
[sollte dem ontischen ort graz je wirklich ein eigenständiges textästhetisches kraftfeld entsprochen haben: so wird es zu seiner genese im guten wie schlechten der kleinstaaterei und -bundesländerei vor ’89 bedurft haben. dass es bis dahin so etwas gegeben hat wie eine österreichische ästhetische tradition, die nicht der westdeutschen glich – unbenommen.]
dass schließlich auch die frage nach literarästhetischen gemeinsamkeiten von leuten, die im jahr 2019 just von graz aus ihren text-bauchladen betreiben, für den hugo ist, das ließe sich wohl am einfachsten mit computergestützter textanalyse nachweisen: z. b. betreffend die verteilung von wortarten, oder topoi, oder genres, oder lexemen im corpus. die hier leben-und-arbeitenden autor*innen haben offenkundig an sehr unterschiedlichen segmenten des deutschsprachigen betriebs teil; dem zwang, einen heimatlichen diskurs überhaupt zur kenntnis nehmen zu müssen, um sich auf ihn zu beziehen, unterliegen als akteurinnen nur noch die zeitschriften und veranstalter. ihr institutionelles gedächtnis weist über blanke textästhetik hinaus – weshalb hier, wenn überhaupt, so etwas wie ein spezifisch „grazer“ dings, sagen wir ein ästhetisches spannungsfeld, zu suchen wäre; das hätte dann aber, da die veranstalteten und publizierten autor*innen prinzipiell von überallher kommen können, mit der manifesten staubigen stadt graz ca. so viel zu tun hat wie die straßenzüge in berlin-prenzlauer-berg heute mit der gleichnamigen ex-ddr-literatur: büroadressen-folklore.
zu einem historischen zeitpunkt, da die großen übernationalen multisparten-medienhäuser sich mit jeweils gleich mehreren deutschsprachigen imprints konsolidieren, und da sich am unteren ende der nahrungskette, wohl als reaktion auf diese bedingungen, selbst noch wir nischenprogrammatiker vom lyrik-fach zu hocheffizienten selbstvermarktungs- und organisationsnetzwerken zusammenschließen zu müssen glauben, erscheint der konnex von geografie und diskurs bzw. – höher getönt – von kulturlandschaft und ästhetik, zusehends als trutziges aufbäumen von überkommenen modi der ideologievermittlung.
dass etwas besseres nachkäme als diese modi, behauptet andererseits auch der hugo nicht, für den die fragen waren.