© Valerie Fritsch
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Valerie Fritsch: Organe aus Stein

in Writers' Blog

Im Museum wird man zum Kind, lernt endlich wieder neue Worte, sieht Tiere, für die man keinen Namen hat, schaut auf eine Welt, der der Mensch die längste Zeit unbekannt war. Man streift durch die Gänge mit hallendem Schritt, lässt seine Fingerabdrücke auf den speckigen Vitrinengläsern zurück und trägt jene der Fremden auf den Kuppen zur nächsten Schaukastenscheibe. Die getrockneten Käfer leuchten wie Schmucksteine und so manche Dame beugt sich weit vor, als sähe sie sich in einer Juweliersauslage nach einem Paar Ohrgehänge um und suchte zwei Feuerwanzen, die gut zueinander passten. Die großen Schmetterlinge sind größer als die kleinsten Vögel. Eisenmeteoriten und präsolare Diamanten hängen an den Wänden, Bergkristalle, so hoch wie Kinder, Nadeleisenerze, schwer und rund, glatt wie eine Leber, wachsen in den Schränken wie Organe aus Stein. Man steht sehr klein unter Dinosaurierskeletten, überdacht von den Rippenbögen der Riesen. Man streckt die Arme aus nach den Knochen der Vorwelt, nach Urzeittieren und fleischfressenden Vögeln, Säbelzahntigern und Panzerfischen, gewaltigen, uralten Geschöpfen, deren Gerippe Zeugnis ablegen von einer Erde, auf der nichts klein geblieben ist, bevor es wieder verschwand. Man reist durch die Zeit. Und verlässt die Säle nach Stunden mit dem kindlich-begeisterten Bedürfnis ebenfalls in einem Haus aus Mammutgebein wohnen zu wollen – koste es, was es wolle.

Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).