Olga Flor: Eingrabungen

Olga Flor: Eingrabungen

in Writers' Blog

Man möchte sich eingraben in diesen Zeiten, eine kleine, feine Höhle bauen, angereichert mit Wohlgefühl und Wärme, Wein, Windbeuteln und Vanillesauce, oder was immer dieses haptisch-gaumensensorische Gefühl einer Kindheitssicherheit vermittelt, und den Kopf einziehen in der Hoffnung, dass die Welt dann irgendwie schon auf einen oder eine vergessen möge. Vor allem auch möchte man bitte die Unfähigkeit übersehen wissen, mit dem Tempo der beängstigenden Veränderungen rundherum reaktionstechnisch mitzuhalten. Geht alles auf einmal zu schnell, und die Twitterlawine ist schon wieder weitergerollt.

Verkriechen möchte man sich, ähnlich vielleicht wie die titelgebenden Schildkröten in Veza Canettis Roman in ihrer eigenen Panzer, bei Canetti ein Bild für den Wunsch, sich als aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit verfolgter Mensch in einen kleinen privaten Innenraum zu retten und das Unwetter vorüber ziehen zu lassen. Kann nicht funktionieren, wie die Autorin zeigt, Schritt für Schritt die anschwellende Bedrohung nachzeichnend, hat auch nicht funktioniert. Die Schildkröten gibt einen zutiefst beklemmenden Einblick in die Situation der jüdischen Bevölkerung, die nach dem Anschluss Österreichs zunehmend ihrer Bürgerrechte beraubt und eingeschlossen wird – der Ermordung entkommen die Protagonisten durch Flucht in letzter Sekunde –, es zeigt, wie ein Albtraum, an den man zunächst nicht glauben will, Stück für Stück Realität wird: Und am Ende gibt es immer Mittel, Schutzhüllen zu zertrümmern und ins Innere vorzudringen, um das nackte Lebewesen darin freizulegen und auszustellen und, je nach Laune, zu vernichten.

Natürlich sind die Verhältnisse heute völlig andere als in den 1930ern. Doch das Gefühl, dass ein Unheil heraufzieht, dessen Ausmaß nicht abzusehen ist, erscheint plötzlich nachvollziehbar. Manchmal möchte man sich selbst in den Arm nehmen und trösten; das kann man auch versuchen. Vielleicht stärkt es. Vielleicht lässt es die eigene Unfähigkeit in einem realistischeren Licht erscheinen, vielleicht verschwendet man dann weniger Energie damit, sich das individuelle Unvermögen selbst zu verübeln und beginnt stattdessen, Gleichgesinnte zu suchen, sich gemeinsam zu wehren gegen die Zumutungen der politischen Brandstifter der Gegenwart. Das zu nutzen, was den liberalen Demokratien bleibt und was ihre Stärke ausmacht: den Glauben an Rechtstaatlichkeit, Gewaltentrennung und die Kraft einer Zivilgesellschaft, die sich ihrer selbst bewusst ist.

Flor_Portraet2Olga Flor, Schriftstellerin, geb. 1968 in Wien, lebt in Graz und Wien. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Jüngste Romane: „Die Königin ist tot“ (Zsolnay, 2012), „Ich in Gelb“ (Jung und Jung 2015).

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