© Valerie Fritsch
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Valerie Fritsch: Wermut im Weltraum

in Writers' Blog

Kürzlich hatte ich nach einer Nacht, in der nicht zu wenig Absinth getrunken wurde, einen jener Träume, der einem in der rauschenden Durchlässigkeit der frühen Morgenstunden in den Schädel fährt und ungenau zwischen Schlaf und Bewusstsein seine Bühnen baut. Vor den Fenstern fiel Schnee, die Wege und Balkongeländer wurden weiß. An den Scheiben die Kälte, im Zimmer die trockene Luft des Heizkörpers, die die Lunge schrumpfen lässt. Ich träumte mit offenen Augen und bitterem Mund. Von Sommerabenden, so heiß, dass, wer nachts im Licht einer Straßenlaterne am Gehsteig saß oder auf einem Garagendach, sich noch die nackten Beine verbrennen konnte. Von geröteter Haut voll Sonnenbrand, den auch die Dunkelheit nicht linderte. Drahtigem, staubigem Haar in der Stirne. Dehydrierten Körpern. Von sommersprossigen Kindern, die auf Spielplätzen im Finsteren so hoch schaukelten, dass die alten Damen an den Fenstern hinter den Vorhängen fürchteten, sie flögen bis ins dunkle All hinein und könnten dann im Weltraum treiben, kleine Buben und Mädchen zwischen Satelliten, Sonden und Sternen. Und ich flog mit im heißen Abendwind, wermutschwer, schwermütig und sommergeil. Die Welt drehte sich. Die Fliehkräfte wirkten. Es war furchtbar heiß. Am nächsten Morgen saß mir kein Sommer im Nacken, sondern ein fürchterlicher Kater. Aber wie schön war der Zaubertrick des Absinths gewesen, der einen die positiven und negativen Vorzeichen der körperlichen Symptome verwechseln ließ und eine Schneenacht zu einem ganzen Kinder-Weltraum- Sommer machte.

 

Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).