Die Corona-Tagebücher, Teil 11 („Wo sind denn alle?“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Erste Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Helena Adler, Bettina Balàka, Birgit Birnbacher, Ann Cotten, Nava Ebrahimi, Valerie Fritsch, Monika Helfer, Lucia Leidenfrost, Christian Mähr, Robert Pfaller, Benjamin Quaderer, Julya Rabinowich, Angelika Reitzer, Kathrin Röggla, Thomas Stangl, Michael Stavarič, Daniel Wisser.

[PDF der Gesamtexte]

Thomas Stangl, 19.5.2020
Auf dem Bagger vorm Haus die Aufschrift: Jesus, ich vertraue auf dich. In weißen Buchstaben auf der Windschutzscheibe des weißen Baggers. Jesus lärmt schon wieder, sagt H.

Lucia Leidenfrost, 20.5.2020
In der Ukraine liegen Babys ohne ihre Eltern in Krankenhäusern, sie können nicht besucht werden. Die Babys schlafen und werden von Tag zu Tag länger wach und versuchen schon nach den Metallstangen an ihren Bettchen zu greifen. Sie weinen schon weniger. Es sind Leihmütter-Babys und aufgrund der Pandemie warten sie in Krankenhäusern auf ihre echten Eltern. Sie werden immer älter und größer und der Geruch nach Desinfektionsmitteln wird immer mehr ihr Zuhause.

Robert Pfaller, 20.5.2020
Ein Freund sagt mir am Telefon: „Unsere Minister glänzen wie neue Autos.“ Ich denke mir: Ich habe auch ähnliche Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit. Der Freund sagt: „Die kommen einfach in ihren Maßanzügen und setzen nicht das kleinste Zeichen eines Ausnahmezustandes.“ Ich erinnere mich, wie der japanische Ministerpräsident während der Fukushima-Krise immer in einer schlichten Arbeitsjacke anstelle eines Sakkos aufgetreten ist.

Thomas Stangl, 20.5.2020
Allgemein: Nach Jahren, wenn es vielleicht schon zu spät ist, wundert man sich, begreift, was geschehen ist, und holt das Entsetzen nach (die Verunsicherung, die Leere). Aber man kann diesen Punkt nicht vorwegnehmen. Die Gier zu leben ist genauso wichtig wie das Entsetzen; die Gier zu leben oder zumindest die Vertrautheit der Räume und Tage, die kleinen Formen und Gewohnheiten, die Gesichter, die einen begrüßen. (Allgemein, das heißt immerhin: im Einzelnen falsch.)

Daniel Wisser, 21.5.2020
Die Schweizer wollen sich von der Welt abschotten. Die Schotten wollen sich von der Welt abschotten. Und auch bei uns wird bald die Schottenwirtschaft blühen.

Christian Mähr, 21.5.2020
Aufmachen, Aufmachen, Aufmachen! tönt ein stummer und ein hörbarer Schrei durchs ganze Land. Die Zahl der „Satthaber“ wächst mit jedem Tag. Letzten Samstag musste die Polizei den Bregenzer Wochenmarkt vorzeitig auflösen, weil die Schutzbestimmungen nicht eingehalten wurden; keine Abstandsregel, keine Masken. Ich habe mir das Standbild aus einem ORF-Beitrag vom Wochenmarkt angesehen. In der Totalen trägt von etwa hundert Personen auf diesem Foto nur eine einzige einen Mundschutz. Ein kleines Mädchen, sonst niemand. In Bregenz finden auch regelmäßig Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen statt. In Dornbirn ist die Maskendisziplin auf dem Wochenmarkt besser, lässt aber auch nach. Hängt mit der Auffassung zusammen, im Freien sei es nicht so schlimm mit dem Virus. Stimmt wahrscheinlich, kann man sich vorstellen. Alles, was man sich vorstellen kann, ist kein Problem.

Nava Ebrahimi, 22.5.2020
Etwas hat sich verändert. Ende der Woche fällt es mir zum ersten Mal auf. Wir sitzen vor der Hütte, Matthias hat die Wiese halb gemäht und ein Bier in der Hand, ich auch, die Sonne erreicht uns noch gelegentlich durch die Baumwipfel, die der Wind hin- und herwiegt, wir hören die Kinder gedämpft und die Vögel glasklar, reden nichts, bis ich sage: Schön ist es. Und Matthias sagt: Genießen wir es. Wer weiß, ob wir die Hütte in sechs Monaten noch besitzen. Dann schweigen wir wieder.

Birgit Birnbacher, 22.5.2020
jetzt ersteht wieder auf, was in pause war, jetzt sollten wieder alle rollen beisammensein und bitteschön glatt laufen. jetzt darf ich wieder mutter und frau, sozialarbeiterin und soziologin und schriftstellerin sein. taxi, liegewiese und helfende hand, watschenbaum und sorgenpuppe. wahrscheinlich habe ich die helfenden hände noch ausgestreckt, weil automatisch immer ich zuständig bin (dem alten herrn bleibt ein zweier stecken im einkaufswagerl, der busfahrer ist ignorant, die alte mit dem fahrrad soll sich weiter zu seite stellen). ich muss aufhören so zu wirken, als könnte ich dinge regeln. warum ändert die maske daran nichts?

Lucia Leidenfrost, 22.5.2020
Beim Lesen der anderen Corona-Tagebuch-Einträge beschleicht mich das Gefühl, dass wir so schreiben, als würden wir alle Gletscherspalten kennen, auch wenn Schnee darüber liegt. Und selbst jetzt, wo die Pandemie zurückweicht, schreiben wir nicht über die Spalten, höchstens über den Schnee.

Christian Mähr, 22.5.2020
Wie leicht haben wir es mit Corona! Wie gut der Mundschutz wirkt, zeigt der Film eines sprechenden Menschen in speziellem Laserlicht: sobald er den Mund aufmacht, leuchten die ultrafeinen Tröpfchen wie die Splitter einer hochwirksamen Antipersonenmine. Hunderte! Dann sagte er dasselbe mit Mundschutz: der Schirm bleibt dunkel. So einfach ist das.

Nava Ebrahimi, 23.5.2020 (Vormittag)
Dass ich ein Bandengefühl entwickelt habe, merke ich immer dann, wenn jemand in den sozialen Medien oder im Feuilleton leicht abschätzig von den „ganzen Corona-Tagebüchern“ schreibt, die angeblich überall aus dem Boden geschossen seien. Unzählige sind auch schon wieder eingegangen und überhaupt, wir sind anders.

Monika Helfer, zweitletzte Maiwoche
„Gib mir einen Kuss“, hörte ich einen Mann zu einem Mädchen sagen, „wir stellen uns an die Wand hinten, keiner sieht uns.“ „Sehr witzig“, sagte das Mädchen und zog ihre Maske über Mund und Nase. Zwei Burschen saßen auf einer Bank, erzählte mir ein Freund, Abstand einen halben Meter, sie redeten von Frauen und schauten ihnen nach, stellten fest, dass die Dünnen keine Chance gegen die Fleischigen haben. Da kamen zwei Polizisten mit Maßband und verlangten von jedem Burschen 560 Euro. Als sie sagten, dass sie das nicht bezahlen können, mangels Einkommen, hieß es, sie sollten sich an ihre Eltern wenden.

Benjamin Quaderer, 23.5.2020
Wir schauen uns auf Immobilienscout24 Häuser am Stadtrand an. Das macht mir Sorgen. Seit dem Lockdown sind mir die Gründe, aus denen ich dies und jenes tue, noch weniger ersichtlich als sonst. Ich kann nicht unterscheiden, welcher Wunsch von den aktuellen Umständen ausgelöst wird und welcher wiederum einem dauerhaften Bedürfnis entspringt, das über Corona hinaus Bestand haben wird. Im Falle der Häuser ist das nicht so schlimm. Diejenigen, die uns gefallen, können wir uns sowieso nicht leisten. Leider gibt es mit weniger oder gar keinem Geld verbundene Entscheidungen, mit denen man noch mehr Unheil anrichten kann.

Julya Rabinowich, 23.5.2020
Meine Mutter hat tagelang nicht angerufen, weil sie mir verheimlicht, dass sie nicht mehr in Quarantäne sitzen will. Sie ist ausgebrochen wie ein Löwe im Zoo, und bei drohender Entdeckung wird sie auch annähernd gleich intensiv wütend. Sie will ihr Leben zurück. Sie will Revolution. Das verstehe ich, streite aber dennoch lautintensiv und würdelos mit ihr, genau so, wie sie es befürchtet hat, aus Sorge um sie und aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus: Ich kann ihr nichts verbieten, auch wenn es noch so unvernünftig wäre. Unsere Rollen sind und bleiben vertauscht. Viele Frauen wollen derzeit ihr Leben zurück, ihr Leben ohne beständige Kinderbetreuung und Homeoffice, in unterschiedlichen Abstufungen findet man Wut, Verzweiflung, Empörung und Ermüdung dieser Frauen, die immer noch die meiste Erziehungsarbeit leisten.

Angelika Reitzer, 23.5.2020
Zuerst zu einem Abendessen in einem Restaurant im Zweiten, wir sind fast die einzigen Gäste, es ist ein bisschen traurig. Wo sind denn alle? Wir haben doch auch kein Geld, denke ich beim Lesen des entsprechenden Artikels, und dass es schon losgeht: Die Leute setzen die falschen Prioritäten. Als der Kellner gegen Ende ohne Maske durchs Lokal geht, irritiert mich die Offenheit, die ein Gesicht ausstrahlen kann, dabei wäre das eigentlich real (normal). Dann trinken wir schnell noch ein, zwei Gläser Wein im Engländer, wo auch nicht besonders viel los ist, und pünktlich um 23 Uhr gehen wir hinaus in den leichten Regen, aber nur, um auf der eigenen Terrasse, angeregt von der Party am Nachbarbalkon, noch weiterzutrinken. Eine der WG-Bewohnerinnen ruft eine ausführliche Entschuldigung herüber, wir winken ab, wir wollen nicht, dass sie sich bei uns entschuldigen, wir sind nicht ihre Eltern, wir denken auch nicht, dass es eine Corona-Party ist, sie sagt, sie hat Geburtstag, also ist es eine Geburtstagsparty.

Monika Helfer, zweitletzte Maiwoche
Der Geist sagt mir, dass ich aufhören soll

Bettina Balàka, LOCKDOWN (ohne Datum)
die Stürme gehen hin und her
die wachen Schatten sind von Riesen
die Winterkrüge werden schwer
die Töpfe trocknen auf den Wiesen

der Tag war lang und gleißend blau
die Sonne stach ins Fenster
der Sommervogel war ein Pfau
die Menschen warn Gespenster

Ann Cotten, 24.5.2020 (Sonntag Nacht)
Der Kleingarten schleicht sich in die Knochen. Die Situation, also der Ort, von dem man ausgeht, wie man ja auch sagt, sowie das suggestive Mobiliar und das Gitter von Nachbarn, die man ignoriert, – sie bilden Räume, in denen eigentlich natürlich kein Ort ist für das, was ich mache. Oberflächlich nehme ich einige gute Inspiration mit. Stehe früh auf und habe ja zum Beispiel, was ich seit Jahren probieren wollte, eben jetzt Hollersirupexperimente gemacht. Aber die ganze Einrichtung ist um dieses bekannte Ehetheater herum aufgestellt, bei dem Mahlzeiten zubereitet und verspeist werden und allfällige sonderbare Ideen in der Werkstatt oder Gartengestaltung ihren Platz finden. […] Meine Studien finden, sobald ich aufblicke, Wände, die relativ heiter zu anderen Tätigkeiten geleiten. Schnell haben wir auch zur ländlichen Sitte gefunden, das Draußenspielen zu unterlassen. Heute ging ich an der Donau entlang – es ist, als wollte man diese Umgebung, in der man wohnhaft ist, nicht durch zu viele Gänge auslaugen – was mir ja in Bezug auf ganz Wien schon 2005 passiert ist, ist kein Mythos – und dachte fast wehmütig an das wehmütige Gefühl, das einen begleitet, wenn man aus dem 7. Bezirk in die Natur fährt. Es zerreißt einem das Herz, sich abends schmerzhaft wieder vom dämmerwilden Laub zu trennen, vom noch hellen Himmel begleitet zurückzuradeln, müde, einzukehren in die staubweiße, in sicherer Entfernung von jeglicher Gemütlichkeit dahinvegetierende Wohnung. Jetzt sehe ich Schnecken, wohin ich schaue, ihre Vaginalmuskeln strecken, und das unzerrissene Herz weiß überhaupt nicht, wohin mit sich.

Valerie Fritsch, 24.5.2020
Im Café sitzt ein kleines Mädchen mit blonden Locken und einem Eisbecher, das seine Mutter höflich und ernst bittet, das Eis aufzuschneiden, damit es die Bisse leichter auf den Plastiklöffel bekommt, auf der Straße läuft ein Mann mit in Pastellfarben bemaltem Mundschutz herum, auf dem ein ihm selbst ähnlich sehender Mann sagt: everything is awful. Im Supermarkt herrscht ewiger Karneval. Man trifft weniger Freunde und Verwandte in den Geschäften, weil man sich hinter den Masken nicht erkennt, unbemerkt in der Tiefkühlabteilung nebeneinander vor den kalten Erbsen steht. Man verfehlt sich. In ein paar Wochen und Monaten wird man einander endlich schreiben: wir haben uns lange nicht gesehen.

Michael Stavarič, 24.5.2020
Ich kann mich ziemlich gut daran erinnern, als man mich vor gefühlt hundert Jahren darum bat, anlässlich der sogenannten EU-Osterweiterung (eigentlich ja einer Westverlängerung) ein diesbezügliches Buch zu schreiben. Etwas Schräges, Experimentelles und Mutiges sollte es werden, ich entschied mich damals für eine Litanei.

Kathrin Röggla, 24.5.2020
Jetzt zur Analyse, Frau Röggla! Wo bleibt die Analyse – Analyse? Die spare ich mir für meine Kinder auf, könnte ich keckernd sagen. Mache ich aber nicht, sondern winde mich. Es gibt diese Woche keine Analyse, weil alles so offen ist, eingangs- und ausgangsoffen. Es gibt die Überlegung, und die Medien machen es schon merklich, auf andere Themen überzugehen, die das „tatsächliche“ Leben betreffen, das noch irgendwo in den tatsächlichen Corona-Sorgen steckt. Denn das Leben im Präventionsparadox zeigt wie das Auge im Wirbelsturm für einen Augenblick wieder die ganz normalen Sorgen und Widersprüche, es wird über die haarsträubende Lebensmittelindustrie, über die „Träume der Linken“, über die amerikanischen Wahlen gesprochen, bevor es zur zweiten Welle kommt, und alles wieder nur durch die Corona-Brille gesehen werden kann. Und so bin ich gespannt, ob ich am Ende dieses Tagebuchs, wenn ich zum ersten Mal alle Einträge rückblickend lesen werde, das Immergleiche jede Woche lesen werde, die reine Repetition sich zeigen wird, oder sich eine „Geschichte“, naja, eher eine Entwicklung ergibt. Das mache ich ja nicht, zurückblättern. Das ist sozusagen meine Binnenvereinbarung mit mir selbst: Nur im Wochen-Jetzt bleiben.

Helena Adler, 25.5.2020
„Das ist eine ganz besondere Dame“, hat die Frau Doktor noch vor der Blutabnahme gesagt, als sie vor lauter Schnurren den Puls meiner Katze nicht messen konnte. Sie hat ihre Lieder bis zum Schluss angestimmt, obwohl ihr speiübel war und sie vermutlich Schmerzen hatte. „Sie hat mich nie aus Spaß gebissen“, habe ich gesagt, „so wie die Biester anderer Mütter.“ Beim Nachhauseweg habe ich nichts mehr gesehen. Alles war verschwommen, ich musste versuchen, den Großteil des Schmerzes innerhalb von fünfzehn Minuten Heimweg auszutrauern, weil zuhause wieder mein Sohn auf mich wartete. Mein Mann hat versucht, mich zu trösten. Er hat gesagt, Mops wäre nie normal gewesen. Im positiven Sinn, müssen Sie verstehen. „Du hast sie zu einer Diva erhoben und eine große Persönlichkeit aus ihr gemacht.“, hat er gesagt. Und obwohl er immer so gegenteilig getan hat, bloß, weil er es nie geschafft hatte, sein eigenes Katzenverlust-Kindheitstrauma zu bewältigen, habe ich bei jeder Fütterung und jedem Schrei nach ihr „Mops?! Mopsi!!“, wenn er dachte, ich höre und sehe ihn nicht, genau gespürt, dass sie ihm doch auch am Herzen lag.

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel. (derzeit): 0664/8565146