Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.
[PDF der Gesamtexte]
Barbara Rieger, 22.3.2021
Vor dem Gartenzaun ein Boot im Schnee.
Hannah Zufall, 23.3.2021
Ein lausiger Tag! Ich bin Superspreaderin geworden! Wenn auch anders als befürchtet: Ich habe Läuse ins Theater getragen und allen eine panische Dauerwelle beschert. Niemand war erfreut, dass wir zu Ostern in die Eierproduktion miteingestiegen sind.
Wolfgang Paterno, 23.3.2021
Seit Jahren im Kopf umherschwirrende (und nicht ungern bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen dahergeplapperte) Zitate füllen sich mit anderem Leben. Das erste: „Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach dann noch’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht.“ Das zweite: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.“ Seit Corona-Time ist, gewannen diese Sätze jäh andere Bedeutung. Man plant tatsächlich von einem Tag auf den anderen. Hoffentlich ist es nicht so schlimm, wie es tatsächlich scheint. Der Holterdiepolter-Spruch „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“ bleibt vorerst einfach mal im Hausfreund-Schatzkästlein liegen.
Stephan Roiss, 23.3.2021
Stellt euch vor, ihr hättet Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts gelebt. Das muss so heftig gewesen sein. Globale Apathie. Dabei hatte der eigentliche Spaß damals noch gar nicht angefangen. Aber diese letzten Jahre, diese letzten Tage, diese Sekunden, bevor es das Pulverfass zerrissen hat und ein Krater ins Jahrhundert gerissen wurde… Davon später mehr.
Birgit Pölzl, 23.3.2021
Im obersten Fach unseres Campers liegt die Reise-Mappe. Hinter den Pässen und Tickets für die Corsica Ferries stecken mehr als 10 Seiten: PCR-Test-Bestätigungen, Declarations sur l’honneur de realisation d’un test de depitage et d’absence de symptomes d’infection au covid-19, Sworn Statements to abide by the Rules for Entry into Metropolitan National Territory, Autodichiarazioni ai sensi degli Artt. 46E47D.P.R.N.445/2000. Wir stehen zwischen Lastwagen und Kleintransportern, zwei Campingbusse aus Österreich, und warten, bis wir auf die Fähre dürfen, Licht hüpft auf den Wellen, Möwen segeln elegant am azurblauen Himmel, oben auf dem alten Werftgebäude Die Frau mit Hut und Modigliani himself, daneben die Biglietteria, Teile der Festungsmauer, das Gebäude der Guardia Costiera; die Motoren der Fähre tuckern im Leerlauf, wir sind heiter, als ließen wir die Pandemie jetzt hinter uns.
Egon Christian Leitner, 23.3.2021
Die Experten, sagt dauernd wer. Das nervt! Mit der Unbescheidenheit fängt’s an & der permanente Pfusch hört nicht auf: das Einreden, das Aufzwingen; Autoritäten, die keine sind. & die so ja auch niemand braucht. Nein? Stimmt nicht? Gott sei Dank! Habe wirklich sehr gerne unrecht. Bin jedes Mal froh, wenn. Juhu! Eine Wohltat für meine Nerven diese Experten jeden Tag rund um die Uhr! Herrlich!
Lydia Mischkulnig, 24.3.2021
Bei uns ist Feuer am Dach. Die Intensivstationen sind voll. Ich bin am Land.
Egon Christian Leitner, 24.3.2021
Gute Fügungen früher: existenzielle Kommunikation z.B. oder Ich und Du und was zwischen uns beiden entsteht. Herrschaftsfreier Diskurs: auch eine Lachnummer geworden. Die geistige Situation der Zeit eben.
Günter Eichberger, 25.3.2021
Plötzlich sind die Träume verschwunden. Aber wohin?
Verena Stauffer, 24.3.2021
Wir beugen uns, weil wir uns dem Schweren stellen wollen, dem schwarzen Dickicht eines verkohlten Gestrüpps aus Laboren, Redaktionen, Parlamenten, Organisationen, Aussagen, Zuständen – weil wir glauben, dass das Schwerste uns etwas zeigen oder sagen will, über uns selbst, etwas, das wir im direkten Angesicht überwinden müssten, doch vor ihm stehend ist kaum zu erkennen, was es ist, warum es da ist und im Trubel der Ereignisse schweben Erinnerungen, Prognosen oder Wegweiser wie Luftblasen einer Wasserwaage, sie schwanken zu schnell von der einen zur anderen Seite.
Stefan Kutzenberger, 25.3.2021
Den ganzen Tag freue ich mich auf das Fußballspiel Österreich:Schottland, das dann naturgemäß unbefriedigend ausgeht. (…) Fußball ist der Literatur viel näher: Man weiß nicht, wer, wann, wieso gewinnt. (…) Darum ist ein literarischer Wettbewerb ja bereits als Begriff ein Oxymoron, ein Widerspruch wie das beredte Schweigen, doch trotzdem so wichtig, dass es schon immer den Wettstreit der Meistersinger gegeben hat. Wir alle möchten einmal das Gefühl eines Skifahrers nachvollziehen, wenn man ins Ziel fährt und die Eins leuchtet auf.
Gabriele Kögl, 25.3.2021
Und wieder ein Gedenktag an eine Lesung, die heute stattgefunden hätte. Und Panik, als die Tochter telefonisch nicht erreichbar ist. Sie wurde gestern mit Astra Zeneca geimpft, und es ging ihr am Abend gar nicht gut. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit der Dauerpaniken, als sie die Nächte im Volksgarten und in der Pratersauna verbracht hat und um fünf Uhr morgens telefonisch noch immer nicht erreichbar war.
Lydia Mischkulnig, 25.3.2021
Das Archiv hinter der roten Wand beherbergte die Tagebücher des Gastgebers. Seine Stimme klang gedämpft herüber, abgedunkelt und still. Der Wind spielte mit den in Streifen gerissenen Fetzen eines T-Shirts. Es diente als Vogelscheuche und bewegte sich vor dem Fenster wie ein Vorhang, der dem Wind auswich. Versuchen wir so dem Virus auszuweichen, mit dem Fetzchen vor dem Mund? Importiert aus China und abgestempelt in Österreich.
Die Müdigkeit am Holzschnitt verwandelt Friedenshüter in Friedhofsmütter.
Wolfgang Paterno, 25.3.2021
Alles, alles wird besser werden. Schau auf mich. Das wird bleiben. Schau auf dich? Braucht kein Mensch mehr.
Barbara Rieger, 25.3.2021
Mein Instagram-Profil ist durcheinandergeraten. Und wenn es nur das Instagram-Profil wäre. Tatsächlich ist mein Kleiderschrank der einzige Ort, an dem eine Ordnung besteht, so wie ich mir eine Ordnung vorstelle. (…) Wie wir nur mehr virtuell als soziale Wesen existieren und interagieren, wie uns das aushöhlt, wie hinter unseren shiny insta Oberflächen die Löcher immer größer werden. Kein Sein mehr hinter dem Schein.
Hannah Zufall, 25.3.2021
„Friseure retten Leben“ schrieb hier mal jemand weitsichtig. Sie würden mir zumindest den Tag retten.
Egon Christian Leitner, 25.3.2021
Richard Feynman hat z. B. gesagt, jeder gute Naturwissenschaftler habe für jedes empirische Phänomen, mit dem er konfrontiert werde, aus dem Stegreif 4 oder 5 mögliche Erklärungen. Solche Experten würde ich mir halt wünschen. Reden niemandem was ein & zwingen nichts auf.
Verena Stauffer, 25.3.2021
Und du? Von dir weiß ich nichts, außer dass du ab und zu einen Witz auf Facebook postest.
Günter Eichberger, 26.3.2021
Jetzt behaupten andere in ihren Tagebüchern, dass sie mich zufällig im Theater getroffen und mit mir Kussmünder auf Masken gedrückt haben, mich in aller Unschuld in Eisform geschleckt haben, dass ich sie wegen Plagiats verklage, dass sie mich sogar lesen – wer weiß, was da noch alles kommt. Ich bin der heimliche Held der Corona-Tagebücher! Und wieder werde ich alles auf dem Marktplatz dementieren müssen. Denn ich vertrete hier ja als einziger das künstlerische Prinzip der Wahrhaftigkeit. Ehrlich!
Barbara Rieger, 26.3.2021
Es ist nichts zu sagen, schreibe ich von G. Eichberger ab, weil es keine Worte gibt, die schwarz genug wären. (…) Zu Corona fällt mir auch nichts mehr ein. Nicht mal der Oster-Lockdown im Osten taugt als Showdown für diese Welle. Unsere Worte versickern im Sand.
Stephan Roiss, 26.3.2021
Lendplatz. Bierchen in der Sonne. Ein bisschen Normalität. Doch die Freiheit ist mickrig und ihr Geschmack ist fahl. Wir leben rückwärtsgewandt. Alle sehnen sich nach vergangenen Zuständen. Die Utopien der Gegenwart speisen sich aus Nostalgie, aus Trauer über Verlorenes und Sehnsucht nach dem, was wir gewohnt waren. Es mangelt an Zukunft im Vollsinn.
Hannah Zufall, 27.3.2021
Hört ihr’s? Irgendwo schmeißen die Coronaviren eine fette Party, weil sie uns so erfolgreich konditioniert haben. (…) Was ist der Mensch schon? Ein Schluckauf der Erde, schon wieder halb im Faltenwurf der Arten verschwunden. Ein Räuspern der Elemente und der Mensch ist Vergangenheit. Ovid hat gesagt, der Mensch ist der Schmuck der Erde. Covid widerspricht.
Günter Eichberger, 27.3.2021
Zu wenig Erotik in den Corona-Tagebüchern. Vielleicht lässt sich das noch korrigieren, das könnte das Interesse bei den Verlagen steigern. Oder aber wir geben uns als verstoßene Mitglieder von Königshäusern aus. (Jetzt spricht schon Verzweiflung aus mir.)
Gabriele Kögl, 27.3.2021
Heute keine Action für das Tagebuch. Alles ruhig hier. Wenigstens eine Zeitumstellung hätten wir wieder als kleine Erregung. Erstaunlich, wie ruhig dieses Thema heuer alle lässt. Ich habe mich schon gefreut auf die vielen ausführlichen Diskussionen darüber, ob wir nun eine Stunde länger schlafen oder früher aufstehen müssen. Da nun alle im Bett bleiben, ist es ihnen egal.
Barbara Rieger, 27.3.2021
Wenn ich an diese Zeit – das Baby, das Land, die Pandemie – zurückdenken werde, dann möchte ich einen Satz von Birgit Birnbacher denken: Hauptsächlich war ich damit beschäftigt, zu überleben.
Stefan Kutzenberger, 28.3.2021
Morgen ist Montag, das vorletzte Mal werde ich mein Tagebuch nach Graz schicken. Soll ich bereits mit der Abschiedsrede beginnen? Man soll ein Gespräch lieber zu früh als zu spät beenden, habe ich gelernt. Beim Fußball beginnen die Kommentatoren auch immer schon in der 70. Minute mit Zusammenfassung und Rückblick. Was wohl mein letzter Satz sein wird, nächste Woche, wenn es tatsächlich zu Ende gegangen sein wird?
Lydia Mischkulnig, 28.3.2021
Das Leben ist schön, ich rupfe am Bärlauch. Idylle in Zeiten Coronas ohne Maske. Ich rieche. Wie schade, dass man sich in letzter Sekunde den Virus aufreißen kann und deshalb nicht geimpft werden kann und gar noch stirbt daran, vor dem Krankenhaus, in der Schlange.
Wolfgang Paterno, 28.3.2021
Zap! Boom! Poof! Ouch! Bang! Omg! Der Seuche einen Lärm wie in Comic-Sprechblasen entgegenschleudern. Hilft zwar auch nichts, ist aber besser, als gar nichts tun. Denkblasen-Vorwärtsverteidigung.
Barbara Rieger, 28.3.2021
Zwischendurch ein Tag, fast wie aus einem normalen Leben.
Verena Stauffer, 28.3.2021
Ab Karsamstag darf ich hinaus, dann werde ich in die Stadt zur Markhalle laufen, Lebensmittel von amerikanischen Bauern kaufen, ich werde ins erste offene Café stürzen und die Speisekarte auf- und abbestellen, ich werde in eine Bar fallen und in ihr bleiben, bis ich hinausgeworfen werde, dann werde ich über den Diamond-Park nach Hause gehen und von der Straße aus in die beleuchteten Zimmer der kleinen Häuser sehen, in welchen die amerikanischen Familien ihr Osterfest feiern werden.
Heinrich Steinfest, 28.3.2021
Käfern das Leben zu retten, ist für mich ein Zeichen des Frühlings. (…)
Andererseits gibt es da diesen schönen Ausspruch von Alain Resnais, dem Regisseur von Letztes Jahr in Marienbad, der meinte, wenn ihm in seinen Filmen ein Bild einfällt, das er nicht erklären könne, sei er überglücklich. – Und das hat doch etwas für sich. Das Wunder des Rätsels anzuerkennen, anstatt es auflösen zu wollen und dadurch letztlich zu zerstören.
Also bin ich mal überglücklich, verwirrt zu sein. (…)
Dank Schottland kam allerdings diese Woche auch ein wunderbarer neuer Laphroaig-Whisky ins Haus geschneit. Ach, diese Freude beim Genießen eines kleinen Schlucks von etwas, das sich im Mund wie eine Geschichte ausbreitet. Ein Roman von einiger Breite. Konzentriert im Detail, aber vielschichtig in den Handlungsebenen. Letztlich ist jeder Schluck eine Familiengeschichte.
Stephan Roiss, 28.3.2021
Jemand weint beim Anblick eines Pastrami-Sandwiches. Jemand jongliert mit Hühnereiern. Jemand übernimmt die Miete eines Toten und verstirbt kurz darauf unter einem großen Stück Karton. Ich beschließe, den Bauch raushängen zu lassen, solange es noch geht.
Hannah Zufall, 28.3.2021
Noch eine Woche bis zur Premiere meines Audiowalks. Die Außenwelt rauscht nur noch gelegentlich durch mein Bewusstsein. Irgendein Frachter soll festgeklemmt sein. Ich kann da Silikonöl empfehlen, der Evergreen der Schmieröle. Damit löst sich alles. Läuse aus Locken. Schiffe aus Kanälen.
Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz
Konzept und Auswahl: Klaus Kastberger. Redaktion und Auswahl Kurztexte: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.
Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146