Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 17 („Ich habe was erlebt!“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

Egon Christian Leitner, 1.3.2021
Die Top-Lehrerin, alle froh, dass von ihr unterrichtet. Elementar & auf hohem Level. Ihren Impftermin hat sie für Punkt 10h51. Sagt, alle Lehrer sagen das Gleiche. Nämlich, dass die jungen Leut’ aufeinander sitzen & aufeinander liegen. In allen Klassen.

Stefan Kutzenberger, 2.3.2021
Der Cliffhanger von letzter Woche, die Tochter mit dem positiven Coronatest, hing nicht lange in der Steilwand.

Lydia Mischkulnig, 2.3.2021
Ich habe das Gedicht von Amanda Gorman nachgelesen und schon umschwärmten mich bei dem Wort „nachlesen“ die Nachtgelsen. Ich halte das Pathos doch sehr schwer aus. Wie fühlt man sich in der Rolle eines „Poet Laureat“, einer Staatsdichterin, die den Spirit einer Nation besingt? Gorman ist ein Gesamtkunstwerk aus Rhythmus und Kostüm, Schmuck, Stimme und Körper. Ihr Mantel ist gelbes Prada. Eine intelligente Person spricht in antreibenden Jamben. Alle Hörer und Leser werden eingestimmt, einem Ziel entgegenzustreben: Die perfekte Nation zu werden.
Was soll ich bloß anziehen?

Egon Christian Leitner, 2.3.2021
Der Stubenälteste sagte zu mir vorige Woche, die Psychokardiologen, sie & er, seien zu jung, wissen nicht viel vom Leben, wollen uns eine Welt beibringen, die es nicht gibt. & der Lehrer, ehrlich, offen, Teamplayer, ärgerte sich, weil er in der Gruppe in aller Früh wie wir alle sagen sollte, wie das ist, wenn er sich ärgert. Er sagt stets Don’t worry, be happy. Ist das auch. Aber die anführenden Psychokardiologen haben das einfach ignoriert. Er sah das Ganze also als vergebliche Zeitverschwendung, beschwerte sich übers Larifari, Wischiwaschi da hier.

Verena Stauffer, 3.3.2021
Rien ne vas plus.

Barbara Rieger, 3.3.2021
Der Postbote steht vor der Tür und überreicht mir persönlich den Falter. Lese im Artikel Proben, Pandemie und Babykacke über Sara Ostertag, die in der Pandemie erstmals schwanger wurde: „Toll, der perfekte Zeitpunkt, um ein Kind zu bekommen“, sagten alle. „Du hast jetzt eh nichts zu tun.“ Bei diesen Worten wurde mir immer schwarz vor den Augen: nichts zu tun.

Birgit Pölzl, 3.3.2021
Habe einen Text für den Weltfrauentag geschrieben und ausgespart, was mir auf meinen Reisen immer wieder in den Sinn gekommen ist: Wir Frauen müssten ein Spiel entwickeln, das wir miteinander spielen könnten, ohne die Sprache der anderen zu kennen, einfach, indem wir einen Ball, einen Schläger, ein Band, was auch immer, hochhielten, uns zunickten und begännen. Wir dürften nicht warten, bis der Kampf um gerechte Strukturen ausgefochten ist, zugleich müssten wir kämpfen und spielen.

Gabriele Kögl, 3.3.2021
Momentan erscheint mir das Leben mit der Pandemie wie ein Altersschub. Man lernt zu akzeptieren, dass man gewisse Dinge nicht mehr machen kann in diesem Leben.

Günter Eichberger, 3.3.2021
Zum gestrigen Tag sagen: Das waren noch Zeiten!
Ich möchte nicht vor der Welt erwachen. (Halbschlafsatz.)

Stefan Kutzenberger, 3.3.2021
Offizielle Entwarnung: Der PCR-Test der Tochter ist negativ, sie darf wieder in die Schule und ich nach Linz, wo ich morgen eine Podcast-Aufnahme im Stifterhaus habe, und zwar im Arbeitszimmer von Adalbert. So geht das, mit den Größten soll man sich messen. Auch wenn sie etwas umständlich erzählen.

Stephan Roiss, 3.3.2021
Besuch der Ausstellung zu Eugenie Kain im Stifterhaus Linz. Berührend. Lust auf Literatur. Lust auf Leben. Spaziergang an der Donau. Die neue Brücke nimmt Form an. Der Protest ist verstummt. Auch der private. (…) Ich antworte per Mail auf Fragen von Schüler:innen zu meinem Roman. Fühle mich beschenkt. Wieder einmal wird mir klar, dass ich gerade das Leben lebe, dass ich mir fünfundzwanzig Jahre lang erträumt habe. So ungefähr zumindest. Und wer weiß, wie lange noch. Erdung durch Dosenbier.

Hannah Zufall, 4.3.2021
Wie es der Zufall so wollte, habe ich heute Günter Eichberger in der Maske des Theaters getroffen. Wir schminkten uns Kussmünder und verpassten in liebevoller Massenproduktion 2.826 Masken einen roten Abdruck. Daraufhin zogen wir rosarote Hasenkostüme aus dem Fundus an und hüpften durch die Tübinger Altstadt.

Günter Eichberger, 4.3.2021
Nico sucht „den Klang des Besiegtwerdens“, den sie als Kind im zerbombten Berlin gehört hat. Überall fängt sie O-Töne ein, im Badezimmer, im Krankenhaus, am Meer. Aber diesen Klang gibt es nicht mehr, außer vielleicht in ihrer Musik. Nico liefert den Sound zur Seuche, Jahrzehnte vorher.
Ich komme kaum zu mir. Und habe keine Worte für mich.
Ich bin schlimmer dran als Nico, sie hatte wenigstens ihre Drogen.

Gabriele Kögl, 4.3.2021
Arztbesuche gehören zu den wenigen gesellschaftlichen Ereignissen, die erlaubt sind.

Stefan Kutzenberger, 4.3.2021
Ich habe was erlebt! Gestern durfte ich auf den Turm der Stadtpfarrkirche. (…)
Im Hotel hatte ich einen Schreibtisch mit wunderbarem Ausblick auf den Turm des Neuen Doms und schrieb drei Seiten. Dann war es plötzlich neun Uhr abends und ich hatte Hunger. Ich ging hinaus in die menschenleere Stadt und erkannte zu spät, dass alle Restaurants geschlossen waren, also auch kein Take Away, selbst die Würstelstände und McDonald‘s waren dunkel. Gibt es eigentlich noch die Ausgangssperre nach 20 Uhr? Weil ich ohnehin nie ausgehe, kriege ich daheim ja überhaupt nichts mit. Ich war ganz alleine in der dunklen Stadt.

Barbara Rieger, 4.3.2021
Ich sehe mir auf meinem Handy (mit Kopfhörern) eine Online-Veranstaltung des Literaturhauses Rostock zum Thema Kinder oder Schreiben – von der (Un)Vereinbarkeit von Familie und Autor:innenschaft an. Eingeladen sind Autor*innen des Blogs other writers (https://other-writers.de). Der Name entstand aus einer Antwort auf eine Anfrage an ein Künstlerhaus, ob die Möglichkeit bestehe, zu einem bereits zugesagten Aufenthaltsstipendium mit Familie anzureisen: „And sorry to tell you that we do not accept little kids as it really troubles other writers who need to concentrate.“

Egon Christian Leitner, 4.3.2021
Gehe jeden Tag in einem fort 100×18 Stufen hinauf & 100×18 Stufen hinunter; eine gute Stunde. Dann noch 1–2 Stunden Bewegung ähnlicher Sorte jeden Tag.

Hannah Zufall, 5.3.2021
Vor einem Jahr saßen wir das letzte Mal eng an eng in einer Bar und diskutieren mit dem Barkeeper in Laguna Beach über die Einstürzenden Einbauten.
Vor einem Jahr benutzten nur überspannte Hygienefanatiker Desinfektionsmittel in Zügen.
Vor einem Jahr durchforstete ich wochenlang kalifornische Archive für ein Stück, das ich nicht mehr schreiben werde.
Vor einem Jahr war das Corona-Virus mir so fern wie die Schweinegrippe.
Vor einem Jahr feierte mein bester Freund aus Kindertagen seinen letzten Geburtstag.
Vor einem Jahr habe ich zum ersten Mal Delfine im Ozean gesehen.
Vor einem Jahr war das Maskentragen im öffentlichen Raum noch etwas, das höfliche Menschen in China taten.
Vor einem Jahr nahmen wir einen der letzten Flieger von Kalifornien zurück nach Deutschland.
Vor einem Jahr sprachen in meiner Familie noch alle miteinander.

Wolfgang Paterno, 5.3.2021
Zufallsfund im Altpapiercontainer (…) Ab Anfang März macht sich C. breit. „Eskalation!“ ist Mitte März vermerkt; in vielen Kalenderspalten folgt die Notiz „Daheim“, als habe je ein Terminbuch dazu gedient, die Zuhause-Zeit zu verwalten; fast alle Einträge sind ab März/April durchgestrichen, ein durchgekreuztes „Juchu“ neben rotem Farbstift-Herz schmerzt beim Lesen des Artefakts aus dem Container noch den Altpapier-Durchwühler. Sehr viele Seiten ohne jeden Eintrag bis Ende 2020, was auffallend ist, weil die Tagesspalten im Jänner und Februar 2020 noch ein einziges Kugelschreiber-, Farb-, Blei-, und Leuchtstift-Durcheinander sind. Ab März immer wieder nur „Corona-Time“.

Birgit Pölzl, 5.3.2021
Der Tiroler hat eine Sorte von lächelndem humoristischen Servilismus, der fast eine ironische Färbung trägt, aber doch grundehrlich gemeint ist (…). Zu Hause üben die Tiroler diesen Servilismus gratis, in der Fremde suchen sie auch noch dadurch zu lukrieren. Allenthalben zitieren Journalisten und Blogger aus Heinrich Heines „Reisebilder. Dritter Teil. Reise von München nach Genua“, um aktuelle Ressentiments zu nobilitieren. So weit, so durchschaubar, ein Dichter vor dem Bashing-Karren kann nie schaden.

Günter Eichberger, 5.3.2021
Leistungsprinzip: Immerhin habe ich mich heute schon rasiert.

Gabriele Kögl, 5.3.2021
Wie aufregend! Was ziehe ich an? Und soll ich mich schminken? Nur die Augen oder auch die Lippen? Ich beschließe: Die Würde muss gewahrt werden. Wenn uns sonst nichts mehr bleibt, dann die Würde unter der Maske. Meine Würde ist der Lippenstift unter der Maske.

Lydia Mischkulnig, 6.3.2021
Auf der Radetzkybrücke war es voll mit dem Mob. Man hatte sich getroffen und formiert, der Gleichschritt war noch nicht praktiziert. Angeblich bringen die Schwingungen eines Heeres Brücken zum Einsturz. Ich wusste, was ich mir wünschte.

Heinrich Steinfest, 7.3.2021, südlicher Odenwald
Ich hasse Supermärkte. Ich hasse sie seit Kindertagen. (…)
Ich stehe also vor diesen schön geordneten Reihen „trockener Suppen“, die man auch für eine Stellage mit Schundheftchen halten könnte – Zwei Herzen und eine Frühlingssuppe – und schließe für einen Moment meine Augen, wie ich das manchmal tue, nicht nur um mich sekundenschlafmäßig auszuruhen, sondern auch in der Hoffnung auf eine kleine Phantasie abseits der schnöden Wirklichkeit. (…)
Und sie kommt, die kleine Phantasie. Und zwar in Schwarzweiß, was kein Wunder ist bei Sonnenbrille plus geschlossenen Augen. Ich sitze in einem Ruderboot, und zwar in einem „Achter mit Steuermann“, und bin selbst der Steuermann (der mindestens fünfundfünfzig Kilo schwer sein muß – kein Problem für mich) und schreie durch so einen Trichter. Und zwar ein Gedicht von W. H. Auden. Das ist halt schon ein sehr gebildeter Achter. Funktioniert jedenfalls wunderbar. Alle rudern synchron. Synchroner geht’s gar nicht mehr. Ein vorbildhafter Auden-Achter.

Wolfgang Paterno, 7.3.2021
Die Fotos im Handyspeicher sind seit Monaten mit „Zuhause“ gekennzeichnet. Im Meer der Langeweile.
Stundenlang auf dem Mars zugebracht. Mit dem NASA-Rover „Perseverance“ unterwegs gewesen. Die Schönheit der Steinwüste. Der Kitzel der Krater. Der Okkultismus der Oberfläche. Irgendwann muss man leider wieder auf die Erd‘ zurück, es hilft ja nix.

Verena Stauffer, 7.3.2021
Derzeit essen alle hier Eis. Sobald man durch die Stadt geht, sieht man nur mehr auf buntem Gatsch klebende Zungen. Mir verschwimmen die Menschen vor den Augen, sie mischen sich mit dem Eis, das sie derzeit ständig lecken, werden alle zu Günter Eichberger, er ist das Eis, an dem wir schlecken und er wird nicht weniger, sondern immer mehr. Welche Sorten hast du genommen? Frage ich mein Kind, liegend von der Couch aus. Caramell-Butter-Salz und Mango. Das passt gut zum Eichberger, denke ich. Da hat er sich wieder was einfallen lassen. (…)

Gestern Abend. Meine Tochter, 5. Klasse Gymnasium, erzählt mir von einer Art Zusammenkunft, auf der sie neulich gewesen sei. (…) Beim nach Hause gehen habe ich an Burschenschafter gedacht, Mama. Ob sie Burschenschafter sind. Sie sieht mich lange an.
Weißt du, sagt sie dann, einige meiner Freundinnen haben schon Angst vor ihren Vätern. Die eine, L und ihr älterer Bruder, die sperren sich oft ein, weil ihr Vater auszuckt. Der Vater hatte wiederum einen Vater, der Alkoholiker gewesen sei. Er musste, nachdem er von der Schule nach Hause kam, die Vaterkotze, die im ganzen Wohnzimmer verteilt war, wegputzen.
Und der andere, der Vater von W, der ist einfach weg, seit drei Wochen.

Gabriele Kögl, 8.3.2021
Gestern am Donaukanal. Es hat sogar einen Hugo gegeben. Wer wissen will, wo, muss mich privat fragen. (…) Alle haben gelächelt, sogar der kleine Dackel, der ohne Unterlass seinen Ball im Sand vergraben und wieder ausgebuddelt hat. Die Pflicht, Angst voreinander zu haben. Sie war in dieser Nachmittagsstunde aufgehoben.

Lydia Mischkulnig, 8.3.2021
Ich habe eine Mordshemmung vor der Übergriffigkeit. Und ich weiß, wie rasend schnell sie passiert.

Stephan Roiss, 8.3.2021
Die Playlist des heutigen Kampf- und Feiertages nimmt Formen an: Maja Osojnik, Petra und der Wolf, Mira Lu Kovacs, Musheen, My Ugly Clementine, First Fatal Kiss. Auf orf.at lese ich die Schlagzeile „MediaMarktSaturn-Chef geht zum FC Barcelona“. Bisschen überraschend. Aber stimmt schon. Technisch ist er stark.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept: Klaus Kastberger. Redaktion und Auswahl Kurztexte: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146