Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.
[PDF der Gesamtexte]
Birgit Pölzl, 8.3.2021
Liefern Nachtgelsen einen Altersschub?, fragen den Postboten Lehrer mit positivem Coronatest. Habe keine Worte, nur Sound zur Seuche, sagt der Postbote, gelbes Kostüm seine Würde, seine Droge Dosenbier. Simultan, wie es der Zufall will, rudern der Postbote und die Lehrer mit den Armen, technisch stark. Spielen und kämpfen. Perseverance, nicht Larifari, bis sie aufeinander liegen. First Fatal Kiss, dann noch 1–2 Stunden Bewegung ähnlicher Sorte. Übergriffigkeit? Neue Formen (Gesamtkunstwerk)? Achter mit Steuermann? Pathos. Pathos, umschwärmt von Rhythmus und Körper. (Coronatagebuch 17 remixed oder Endlich Sex).
Günter Eichberger, 8.3.2021
Ich bin in einer Bar in Thailand. Die Toilette ist nebenan in einem Gemüse- und Fischmarkt. Sehr bunt, die Farben leuchten. In der Kassa liegt ein Homunculus. Er lächelt, als ich meine Münze hineinwerfe. „Das freut ihn“, sagt der Kassierer. Beim Warten erhält man einen kleinen, lebenden Fisch, der an einer Stange zappelt. Mich ekelt davor, der Fisch fällt auf meinen Schuh. Ein Mann, dessen Lippen aus dem Gesicht herausgeschnitten wurden, bückt sich und verschlingt den Fisch.
Stephan Roiss, 9.3.2021
Der Vertrag ist unterzeichnet. Corona-Tagebücher bis August 2054. Wir haben ausgesorgt.
Wolfgang Paterno, 9.3.2021
Es ist dann auch mal wieder gut mit den Flimmerbildern von Menschen, die sich freudig und erwartungsvoll in die Oberarme stechen lassen, mit dem „kleinen Piks“ und dem „kurzen Stich“, der völlig schmerzlos und nach dem alles vorbei sei. Keine große Lust auf Spritzen, noch nie gehabt, nie.
Hannah Zufall, 9.3.2021
Manchmal denke ich, ich habe mich jetzt eingerichtet in der Pandemie. Das Trauerjahr um vergangene Wirklichkeiten ist vorbei. Meine Kontakte sind überschaubar, aber intensiv geworden. Erinnerungen an Besuche im Café und das Glas Wein in der Bar lösen nur noch Phantomschmerzen aus. Mein Körper hat sich an das viele Laufen gewöhnt. Mein persönlicher Abstand zu anderen hat sich ausgeweitet. (…) Aber dann schleicht er sich doch wieder an, der raue Geschmack alter Zeiten. Man lernt jemanden Neues kennen, eine Seltenheit in diesen Tagen. Man schließt zu spät den Link mit dem Mitschnitt eines Live-Konzerts, auf dem man war und könnte heulen. Man umarmt versehentlich einen Freund, den man zufällig auf der Straße trifft und es tut viel zu gut.
Barbara Rieger, 9.3.2021
In meinem Kalender in Lila (mit Lineal) doppelt durchgestrichen: Lange Nacht der GAV Oberö, Linz. Tippe versehentlich: Lange nach der GAV Oberö. Denke: Lange nach Corona. Wird es Romane dazu geben. Und: Bis ich wieder richtig Party machen kann oder bis mein Baby Party machen kann, wird alles vorbei sein. Die Alm ausgetrocknet.
Gabriele Kögl, 9.3.2021
Welchen Höhepunkt denke ich mir für diese Woche aus? Hofer und Lidl fällt auch nichts mehr ein. In die kleinen Geschäfte traue ich mich nicht. Was weiß ich, wie viel 20 m2 sind bzw. welche Größe das Geschäft überhaupt hat?
Günter Eichberger, 9.3.2021
Ich bin allein in Berlin. Es ist ein Festtag. Viele Busse bringen Feiernde zu einem Treffpunkt. Ich bekomme einen Telefonanruf aus Graz, ob ich zum Fest für einen mir unbekannten Künstler, dem auf einem Foto die Augen fehlen, kommen werde. Nein, ich bin in Berlin. Gleich darauf treffe ich in einem Lokal den Anrufer, er sagt, er sei auf dem Fest in Graz, schade, dass ich in Berlin sei.
Lydia Mischkulnig, 10.3.2021
Ich entdeckte alte Bekannte. Einmal hatte einer von ihnen zu mir gesagt, ich weiß nicht mehr, wer es aus der Gruppe war, dass man Stimmen, wären sie einmal für immer verstummt, nicht mehr erinnern könnte. Gerüche und Gesichter würden sich tiefer im Gedächtnis verankern als Töne. Das gilt nicht für die Information, die sie mitliefern, weiß ich. Das Ohr ist dauernd überschwemmt von Gerüchten und Lärm. Aber was es einmal herausgefiltert hat, behalt ich mir.
Gabriele Kögl, 10.3.2021
Ob ich diese neu erworbene Langsamkeit beibehalten werde? Ich habe seit Monaten keinen Grund, etwas schnell zu tun. Heute besuche ich eine Freundin, die ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen habe, in Gersthof. Eine Straßenbahnfahrt, die ich sorgfältig plane mit Google Map und Wien Mobil. Hoffentlich bin ich nicht zu langsam für das Ein- und Aussteigen bei einer Straßenbahn. Muss ich mir Sorgen machen, wenn mein Zeitlupenleben so deutlich sichtbar wird?
Günter Eichberger, 10.3.2021
Mira wünscht mir: „Träum gesund!“ Ob ich das beherzige?
Stefan Kutzenberger, 11.3.2021, 19.59
Du hast es geschafft. Eine Textnachricht auf meinem Handy. Also schrieb ich zurück: „Was?“
„Du bist Zitat!“ Ich war Zitat? Das durfte doch nicht wahr sein, ich war Zitat! Ein Jubelfest!!! Mit zitternden Händen ging ich auf die Website des Literaturhaus Graz. Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 17 („Ich habe was erlebt!“). Ich war Zitat! Ich war in der Kleinen Zeitung! Doch statt Freude fühlte ich Scham, das reinste Gefühl, das uns überleben wird, wie wir seit K. wissen, das übrigbleibt, wenn man alle anderen, oberflächlichen Gefühle abzieht, wie der andere K, Kierkegaard, bereits wusste, auch wenn er es Verzweiflung nannte, doch was ist schon die Verzweiflung, wenn nicht die Scham am Leben zu sein. Ich hatte es also geschafft, war Zitat, doch wie, mit welchen Mitteln?
Wolfgang Paterno, 11.3.2021
Seit zwei Tagen nicht mehr über C. geredet, beim Spaziergang keinen Maskengesichtern begegnet, auf dem Kirchenvorplatz drei Kleinstgrüppchen, die in den letzten Sonnenstrahlen zusammenstehen, lachen und herumblödeln. An C. eher beiläufig durch die Dreck-beschmutze FPP2 im Rinnstein erinnert worden.
Barbara Rieger, 11.3.2021
Mein Mann, das Baby und ich fahren mit dem Zug nach Wien, so wie wir im September mit dem Zug nach Wien gefahren sind. Nur mit FFP2- statt mit Stoffmasken. Nur dass das Baby mittlerweile auf meinen Knien steht und hinausschaut. Die erste Klasse und das Bord-Restaurant befinden sich im vorderen Zugteil, wird durchgesagt, wahrscheinlich das einzige Restaurant in Österreich, das derzeit geöffnet ist.
Lydia Mischkulnig, 11.3.2021
Die Stimmen von Vergangenheitsmenschen auf der Fensterbank anstatt auf der Terrasse des traditionsreichen Kaffeehauses ließen mich aufhorchen. Gibt es Fremde, die aussehen wie alte Freunde? Dann waren das Fremdvertraute. Je länger ich in Wien lebe, umso belebter ist Wien von diesen Gestalten, die einen buchstäblich sich selbst in Erinnerung bringen. Das ist unheimlich.
Stephan Roiss, 11.3.2021
Lesung im Literaturhaus Salzburg. Ein beglückender Abend. Aftershow-Gespräche umgeben von Büchertürmen. Pizza, Bilderbuch vs. Wanda, Dekonstruktion des Literaturkanons. Als ich mit Averna Sour an der Hotelbar stehe, fühlt es sich fabelhaft surreal an. Das geht doch gar nicht mehr in diesem Leben.
Gabriele Kögl, 11.3.2021
Im Moment ist alles gesagt.
Und im nächsten alles wieder offen. Gerade habe ich von der nigerianischen Virusvariante gelesen, die in Kärnten aufgetaucht ist. Das Virus wird immer nationalistischer. Und vielleicht auch bald regionaler. Vielleicht gibt es bald eine steirische und eine burgenländische Variante. Und eine simmeringerische und eine kapfernbergerische. Eine dies- und eine jenseits des Donaukanals.
Egon Christian Leitner, 12.3.2021
Die Motorsäge in aller Früh aus dem Wald herüber klingt kurz wie mein blöder Blutdruckmesser. Entweder ist der kaputt oder ich bin halt einmal so & einmal so. Lieber bin ich so. /
Stefan Kutzenberger, 12.3.2021
Das Netz der Literatur ist auf jeden Fall geheimnisvoller und enger verwoben, als wir uns es vorstellen können. Im Tagebuch las ich, dass Stephan Roiss letzte Woche, am 3. März, praktisch zeitgleich mit mir im Linzer StifterHaus war und berührt die Ausstellung zu Eugenie Kain anschaute, mit der ich 2009 zur Kulturhauptstadt Linz ein Projekt plante, doch die zuvor starb. Zu viele Tote.
Lydia Mischkulnig, 12.3.2021
Es gibt ja Autoren, die genau deshalb bestehen, weil sie Momente der Übergriffigkeit erkennen und einen Überraschungsangriff daraus machen, um sich selbst zum Staunen zu bringen. Der Satzregen prasselt dann wie von allein nieder.
Wolfgang Paterno, 12.3.2021
Welch unsägliches Denken und Tun, die Welt in Geimpfte und Ungeimpfte, Infizierte und Unifizierte, Abgesonderte und deren Gegenteil, in Negative und Positive einzuteilen! Seit einem Jahr reichen wir uns nicht mehr die Hände. Nun fegt die Seuche noch den letzten Rest des Miteinanders hinweg durch zwänglerische Grußformeln wie „Hallo, ich bin negativ“ wahlweise „Ich bin negativ und geimpft!“, die nur Spaltung können und wollen.
Hannah Zufall, 12.3.2021
Realitycheck. Realityschreck. Das Theater wird nächste Woche wieder öffnen. (…) Die gute alte Theatermaschine setzt sich also wieder knarzend in Gang. Der Bühnenboden erwacht gähnend und rollt den roten Teppich für seine Gäste aus. Die Kostüme schütteln den Staub ab, die Scheinwerfer machen sich warm für ihren Auftritt. Wir polieren die Weingläser in der Theaterbar mit unseren Freudentränen. Lasst das Spielen beginnen!
Verena Stauffer, 12.3.2021
Ich sitze hier und schreibe, was mich die Dinge gelehrt hätten, über das Geflecht, in dem wir alle ineinander uns mehr und mehr verheddern (Gummibänder). Ob sich die Anschauung des Lebens in der Pandemie verändert hat, ob meine Lebensanschauung ihre Perspektiven gewechselt hat, und ich denke darüber nach, wie es um die Gefühle steht. Beim Wort Gefühle rufen die Tagebüchlerinnen im Chor: Stauffer, Kitsch! Kitsch ist immer nur dann nicht Kitsch, wenn man in Anbetracht des Schreibens von Gefühlen selbst kalt bleibt. Das nervt auf Dauer, aber es ist so. (…)
Eine Frau sitzt im Schanigarten eines Bäckers, eine flackernde Kerze steht vor ihr auf dem Tisch und aus ihrer Musikbox dröhnt Techno, aber nicht zu laut. Cool, sage ich, die feiert ihre eigene Party. Im dritten Stock eines anderen Hauses ist eine tatsächliche Party in Gange, Fenster hell beleuchtet und geöffnet, Musik, die sich mit den Stimmen Jugendlicher vermischt, schallt über die Straße, die Worte fliegen wie Nachtvögel durch die Luft.
Die Obdachlosen sind weg. Niemand schläft mehr in den Eingängen der Geschäfte. Wo sind sie hin?
Birgit Pölzl, 13.3.2021
Wir laden Freunde zum Gartenkaffee ein, der mangels Sonne nur kurz ein Garten- und bald schon ein Wohnzimmerkaffee ist, ein Wohnzimmeraperol, ein Wohnzimmerweißwein, ein Wohnzimmerlimoncello samt Käse, Oliven, Weißbrot (aus dem Vorratsschrank, der Tiefkühltruhe), heitere Wohnzimmerstunden der falschen Wettervorhersage geschuldet.
Stephan Roiss, 14.3.2021
Vierter Selbsttest in dieser Woche. Stricherl bei C. Aufnahme für DorfTV. Äffchen & Craigs sind zur Show der Kapu eingeladen. Wir analysieren unsere eigenen Videos. Alexander Kluge und Helge Schneider wären peinlich berührt.
Egon Christian Leitner, 14.3.2021
Ansprache des Bundespräsidenten. Vor 10 Tagen Meinungsforschungsinstitut (der Ministerin a. D. Karmasin): VdBs Umfragewerte miserabel für einen Amtsinhaber. Zeit, dass er wieder eine Ansprache halte! Seit kurzem jetzt hört man seine Stimme auch in der U-Bahn. Bei ihm fallen Notwendigkeit & Neigung & Pflicht zusammen. / Die Leut’ halten laut Karmasin die SPÖ-Vorsitzende für weit besser geeignet als Gesundheitsminister Anschober. Jetzt ist er krank. Im Spital gar. / Was die Regierung nicht versteht & die Fernsehwissenschaftler & Medienprominenz auch nicht, ist, dass … aber ich versteh’s eben auch nicht … Ich wünsche mir Sorgfalt & Umsicht. Das ist alles. Dass Menschen vorher & nachher betreut werden. Versorgt heißt das! Jetzt ist alles Masse & schnell – schnell & dass eben Krieg ist & da ist das so. & ein paar erwischt’s eben. Die Wahrheit auch ein paar Mal. Zwar ist alles Charaktersache im Leben, jedoch …
Heinrich Steinfest, 14.3.2021
Endlich wieder absolviere ich in der Menschenleere des südlichen Odenwalds mein Sporttraining, mein Lauftraining, mein Keuchtraining, meine Ertüchtigung, meine Vorsorge, nicht zuletzt auch ein Training im Sich-selbst-Wahrnehmen. (…)
„Masken“, sagte die kleine Frau, „was denn sonst?“
Sie erklärt mir, daß ein nicht unerhebliches Problem dadurch entstanden sei, daß die Menschen in ihren Träumen seit einiger Zeit verstärkt die aktuelle Pandemie verarbeiten würden – das sei ganz natürlich und gut und schön –, in diesen Träumen allerdings alle ohne Masken herumlaufen müßten und dies selbst auch immer wieder erschreckt konstatierten. (…)
„Unsichtbare Schutzmasken also“, sagte ich.
„Nun, vom Standpunkt eines Träumenden“, erklärt mir die kleine dominante Dame (eigentümlicherweise mit einem leicht wienerischen Dialekt, obwohl wir uns mitten im Odenwald befinden), „wäre es natürlich ein ziemlicher Schaß, wären die Masken unsichtbar. Oder was meinen Sie?“
Stephan Roiss, 15.3.2021
Wieder einmal einer dieser Tage.
Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz
Konzept und Auswahl: Klaus Kastberger. Redaktion und Auswahl Kurztexte: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.
Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146