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Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 19 („Meditation im Palmenhaus“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

Barbara Rieger, 15.3.2021
Eine Liste von Dingen, an die wir uns, an die ich mich innerhalb des letzten Jahres gewöhnt habe, eine Liste von Texten, Sätzen, Worten, die ich nicht geschrieben habe, nicht schreibe, nicht mehr schreiben werde, eine Liste von Menschen, die ich schon lange nicht mehr gesehen, gehört, umarmt habe, eine Liste von Dingen, die ich vermisse, ich denke an frisch gezapftes Bier usw., während mein Mann in der Werkstatt, das Baby im Bett ist, während draußen der letzte Zug vorbeifährt.

Gabriele Kögl, 16.3.2021
Gestern eine Lesung in der Alten Schmiede. Vor Ort. Mit Moderatorin und Kolleginnen. Fast wie im richtigen Leben.

Hannah Zufall, 16.2.2021
Das passt doch irgendwie: Der erste Theaterbesuch nach einem Jahr fällt also kurzfristig doch ins Wasser. Das kennt man. Das ist die Corona-Realität. Ein Teil von mir ist fast erleichtert. Bitte bloß nicht zu schnell den Wirklichkeitsregler hochfahren! Die alte Realität, die präpandemische Zeit kommt mir nämlich mittlerweile unwirklicher vor als der Ausnahmezustand.

Stephan Roiss, 16.3.2021
Graupelregen. Sonnenschein. Wind. Dunkle Wolken. Wind. Graupelregen. Sonnenschein. Tiergarten Schönbrunn. Ambivalentes Konzept Zoo. Aber allemal besser als jeder Schlachthof, jede Scheibe Extrawurst, jedes Packerl Milch. Hasenstall zwei Meter offen. Meditation im Palmenhaus. Gebete ohne Gott. Gebete für Tiger.

Egon Christian Leitner, 16.3.2021
Dauernd jetzt die Poppers da hier: Niki & der Sir. Mein Popper nie. Erfinder in jeder Hinsicht war meiner. Das Geld wollte er weghaben & das Militär. Statt dieser Einrichtungen sei Sorge zu tragen, dass die Menschen wohnen & essen können & grundversorgt sind. Gratis = bedingungslos. & die Verbrecher solle man künftig öffentlich lächerlich machen. So komme man z. B. den Kriminellen an der Macht bei. Durchs Auslachen von der Pike auf. Er selber nannte sich Realist, nahm ein Pseudonym an, & zwar war er da eine hilflose Gestalt aus Faust II, die in Katastrophe & Not weder aus noch ein weiß. Unversehrtheit war meinem Popper ein wichtiges Wort. Unversehrtheit!

Lydia Mischkulnig, 16.3.2021
Hier hingen der Witz und das Grauen sehr eng zusammen: Die Tulpen hielten über zehn Tage lang die Köpfe hoch. Der schönste Moment ihres Lebens für mich. Künftig will ich es mehr preisen.

Günter Eichberger, 17.3.2021
Alle paar Jahre seine Sätze überschreiben. Bis alles unleserlich.

Gabriele Kögl, 17.3.2021
Langsam fällt mir zu Corona nichts mehr ein.

Stephan Roiss, 17.3.2021
Buchladen „ChickLit“. Nöstlinger und Woolf gekauft. Das SCUM Manifesto weder gesucht noch gefunden. Im Anschluss daran Warhol im MUMOK. Unbekannte Facetten. Frühphasen. Power Paint Präsentation. Fucktory. Neuentdeckung Ingeborg Strobl. Vor dem Zähneputzen endet meine Glückssträhne im Würfelpoker. Abrupt. Soll ich „Der Gott der kleinen Dinge“ zu Ende lesen?

Günter Eichberger, 18.3.2021
Eigentlich wollte ich eine Montage aus den Tagebüchern der anderen machen. Aber das Verfahren erwies sich als aufwendig und unergiebig. Die Sätze widersetzten sich.
Nach langem Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ wieder zu lesen begonnen. An die Form kann ich mich erinnern, an den Inhalt nicht. Mich aus der Erstarrung lösen. Furcht, dabei zu zerbrechen. Wäre ich ein leidenschaftlich Reisender, ich hätte mich schon entleibt. Schön, dass so viele Reiseliteratur jetzt ungeschrieben bleibt.

Hannah Zufall, 18.02.? (Nee.) 17.02.? (Ach shit, ist ja schon März!) 17.3.2021
Kalender braucht auch fast niemand mehr. Rührselige Relikte einer anderen Epoche. Wozu Daten, wozu Monate, wozu Wochentage? Schön, dass es mittlerweile vielen so geht. Mein zeitvergessenes Autorendasein wird auf einmal zum Zeitgefühl oder besser: Nichtzeitgefühl. Auch das Wetter ist verwirrt: Ist noch Lockdown-Winter oder schon postpandemischer Frühling?

Gabriele Kögl, 18.3.2021
Der Impfneid wird kommen. Spätestens mit den in Aussicht gestellten Möglichkeiten, mit einem Impfpass zum Wirt’n zu gehen, ins Theater und Kino oder um zu verreisen. Ich spüre meine kriminelle Energie förmlich wachsen. (…) Es soll noch einer sagen, dass uns Corona in ein paar Monaten nicht mehr interessieren wird. Die Fallzahlen in den Krimiformaten werden die derzeitigen Inzidenzen um ein Vielfaches übersteigen.

Birgit Pölzl, 18.3.2021
Wir sitzen im Speisewagen und lachen, so schlecht kann der Kaffee gar nicht schmecken, dass wir nicht Freude daran haben.

Günter Eichberger, 19.3.2021
Kaum eine junge Popmusikerin, die sich nicht als „trans“ zu erkennen gibt (oder tarnt). Wenn das so weitergeht, wird hetero das neue queer. In der Literatur gibt es diesen Trend anscheinend noch nicht. Ich könnte ja Fotos von mir im Fummel verbreiten.

Gabriele Kögl, 19.3.2021
Ich stelle mir grad die vielen Feste vor, die die Viren nun feiern. Diese weit geöffneten Wirtshäuser auf heimlichen Hochzeiten und Geburtstagspartys in feuchten, schummrigen Kellern. Wie sie einander zuprosten mit ihren vielen Ärmchen und tanzen mit ihren unzähligen Beinchen. Wie sie einander umarmen und miteinander verschmelzen und Kinderchen zeugen.

Birgit Pölzl, 20.3.2021
Wir packen ein, sonderbares Gefühl, wir packen, ein sonderbares Gefühl. Coronaambivalenz. Coronalenz.

Hannah Zufall, 20.3.2021
Ich sage die heutigen Zoom-Meetings ab, setze mich in den Schnee zwischen die Krokusse am Fluss und unterhalte mich im Delirium mit meiner Freundin, der Ente. Wie nebenher entscheiden wir eine ganze Konferenz im Sommer kippen zu lassen, denn auch bei den Kolleg:innen an der Uni greift das zoom-out, die digitale Form der fatigue, um sich. Niemand, wirklich niemand, hat noch Lust auf Online-Tagungen oder gestreamte Aufführungen.

Heinrich Steinfest, 20.3.2021
Ach, immer diese Details!
Gestern einen ganzen Tag mit einer einzigen Fußnote zugebracht, bei der es um den – kein Witz – palmersgrünen Aston Martin DB2/4, Baujahr 1953, meiner Hauptfigur ging. (…)
Und für diese eineinhalbseitige Fußnote habe ich also einen ganzen schönen Freitag investiert. Als hätte ich keine anderen Sorgen. Als hätte der Roman keine anderen Sorgen, als sich mit dem Grün eines Autos zu beschäftigen, das auch das Grün auf einer Geschenkmünze ist. Und das von einem österreichischen Chemiker entdeckt und erstmals in Kirchberg am Wechsel hergestellt wurde, jenes Kirchberg am Wechsel, in dessen Gegend Ludwig Wittgenstein …
Und doch, sich im Detail zu verlieren ist dann doch wie über den Meeresboden zu treiben und für eine Weile zu vergessen, daß man in solchen Gefilden gar nicht atmen kann.

Barbara Rieger, 20.3.2021
Indiebookday. Frühlingsbeginn. Tiefschnee. Das Schreien des Fischotters. Erste Schritte des Babys entlang der Eckbank. Ansteckungsgefahr.

Lydia Mischkulnig, 20.3.2021
Die Double Binds der Regierung erzeugen Schizophrenie für das Volk. Die Regierung sagt, sie halte zusammen, und Kurz provoziert den kranken Gesundheitsminister. Die Regierung sagt, Masken seien super, dann heißt es, aber bitte keine Stoffmasken, dann heißt es, Stoffmasken auch super, dann wieder heißt es, Masken helfen generell nicht so viel. Jetzt tragen wir FFP2- Masken.
Dann heißt es, Tests seien eigentlich eine gute Idee, aber die Tests seien doch nicht so sicher. Dann heißt es, alles sei gut mit Astra Zeneca, und dann heißt es, der Impfstoff sei doch der schlechteste, oder auch nicht, oder doch. Das alles ist gut für ein Derealisierungsgefühl und schlecht für Menschen, die ihre Meinung in diesem Gefühl kundtun, sie werden zu Rechtsradikalen Identitären Coronaleunger Guerillanazis.

Egon Christian Leitner, 20.3.2021
Impfen, impfen! Zuerst aber Coronatest! Das ist neu. & überhaupt soll man nicht akut krank sein. Das ist auch neu. & wenn man Corona gehabt hat, muss man eben warten. Alles irgendwie doch neu. Ganz selbstverständlich, aber zuvor bagatellisiert. Wie heißt die Kommission da hier bei uns? Irgendwas mit Impfen & staatlich? In den Beipacktext kommt auch viel dazu. Die Leut’ sind ja aber eh alle Freiwillige & jetzt sowieso aufgeklärt. Ja, aber ich denke mir schon, dass gehaftet werden muss & wird für bislang, falls…

Wolfgang Paterno, 21.3.2021
Des Kanzlers ewige Kakophonie, vorgetragen im Säuselton einer schlecht geölten Minidrehorgel. Von der Rückkehr zur Normalität überzeugt. Diesen Sommer noch. Ganz sicher. Aber sowieso. Tunnel und Ende und Licht. Werden wir uns dann wieder dicht an dicht nächtelang in Lokalen die Füße in den Bauch stehen? Werden wir ins Kino gehen? Ohne jeden Hintergedanken, einfach so: Kino. Werden wir Freunde zum Geburtstagsessen einladen, ohne strategische Impf-Test-C.-Vorabbesprechung? Das alles werden wir nicht machen. Ganz sicher. Nicht. Tunnelblick.
Versuchen wir’s mit dem Diminutiv: Lockdöwnchen. Quarantänchen. Piekschen. Stillständchen. Hilft auch nicht, die Verkleinerungsform.

Birgit Pölzl, 21.3.2021
Eine kleine nimmersatte Landesgesetzraupe frisst sich durch steiermärkische, Wiener, burgenländische, oberösterreichische, niederösterreichische, Kärntner, Tiroler, Salzburger, Vorarlberger Landesgesetze, wird dick und groß, baut sich ein enges Haus, das man Landesgesetzraupenkokon nennt, und bleibt darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabbert sie sich ein Loch in den Kokon, zwängt sich nach drauβen und … ist ein wunderschöner Bundesgesetzschmetterling. Sorry, wir leben nicht im Kinderbuch, wir leben in der Wirklichkeit, und die ließe ein solches Ende nicht zu, die Wirklichkeit generierte Bundesgesetzschmetterlingsfangrichtlinien, neun leicht voneinander abweichende Bundesgesetzschmetterlingsfangrichtlinien.

Barbara Rieger, 21.3.21
Welttage der Poesie. Es schneit noch immer. Das Baby und ich haben Schnupfen. Corona ist so weit weg wie noch nie. Alles ist weit weg wie so oft, zugedeckt von Schnee, die Sätze, die Worte, meine Gedanken. Vage Notizen in meinem Kopf: Eine Liste von Dingen, an die ich mich nicht gewöhne.

Verena Stauffer, 21.3.2021
Mir kommt alles durcheinander, ich habe mehrere Anfragen vergessen zu beantworten, ich weiß nicht, woran es liegt, ob es ein Zuviel ist, die Fertigstellung des Buchs, die Kinder, die kommende Gastdozentur in America, all die anderen Aufträge, Zoom-Konferenzen, Abgaben, Rechnungen, Freunde, das Surfen im Netz.
Ich bin müde, müder als sonst, dieser seit Tagen fallende Schnee lässt einen die Zeit vergessen, in der man sich befindet. Noch fünf Mal schlafen, dann fliege ich nach America, denke ich, lasse alle hier zurück. (…)
Gerade telefonierte ich mit einem Mitglied des philharmonischen Orchesters, weil ich eine Bassklarinette suche. Die Orchestermitglieder seien besorgt über die Entwicklungen, es gäbe keinerlei Zukunftsplanung, die Kultur sei der Politik völlig gleichgültig, sagte die Cellistin. Da ist kein Licht zu sehen, keine Perspektive, meinte sie. Irgendwann werden vielleicht die Geldhähne abgedreht, was dann? Wir sind ja alle Fachtrotteln.

Stephan Roiss, 22.3.2021
Von Freuds These vom Traum als Wunscherfüllung geträumt. Und von irgendjemandem im Kerzenlicht. Ich warte auf fertig bearbeitete Fotos, um mit der Arbeit am Artwork der kommenden Platte beginnen zu können. Bis die Bilder eintreffen, fülle ich Förderantragsformulare aus. Für Veranstaltungen, die wahrscheinlich nicht stattfinden werden.

Stefan Kutzenberger, 23.3.2021
Sollte ich der Steuerberaterin eine Kurzgeschichte schreiben, statt die Rechnung zu begleichen, ihr einen Tagebucheintrag widmen? (…) Ich setze mich an den Esszimmertisch und verkünde der Familie, dass ich Tagebuch schreiben muss, dringend, die Kinder kann ich nicht ein zweites Mal dafür einteilen. Man ignoriert mich ohnehin. Meine Frau mistet ihren Schrank aus und alle paar Minuten kommt eines der Mädchen vorbei, jedes Mal mit einem anderen Kleidchen, alle schön, natürlich, was sollte ich sonst dazu sagen. Dann erscheint meine Frau in ihrem Hochzeitskleid und ich muss mir nun doch eine Meinung abringen, stehe auf und eine Tochter fotografiert uns, ich zerknittert im Pyjama, die Frau strahlend im Brautkleid, hoffentlich kein Bild für unsere Ehe, aber auch wenn es eines wäre, wüsste ich nicht, wofür es stehen sollte. Wenn der Pyjama Geborgenheit und das Zuhause symbolisiert, dann ist doch alles gut. Und das Brautkleid sagt, jeder Tag mit dir ein Festtag. Noch besser.

Wolfgang Paterno, 23.3.2021
Abstand halten, Hygiene beachten, im Alltag Maske tragen. Jahresmottos 2020 bis 2025. Mindestens.
Das Verzeichnis lieferbarer Bücher listet knapp 250 deutschsprachige Titel zum Thema C. auf, die Barsortimentssuche liefert inklusive Hörbücher und E-Books über 3000 Ergebnisse.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept: Klaus Kastberger. Redaktion und Auswahl Kurztexte: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146