Kürzlich wanderte ich auf einer Lesereise durch eine Stadt voller Statuen. Hinter jeder Ecke und aus jedem Platz wuchsen Figuren hervor, menschenähnlich, glatt und stumm, auch aus den Fassaden hoher Häuser erhoben sich Reliefgesichter, in deren geöffneten Mündern Vögel nisteten und durch die steinerne Lippen davonflogen. Überall tauchten sie auf, die unbeseelten Gestalten mit ihren gebrochenen Armen und lidlosen Augen, die nur der Regen füllte, mit ihren Rümpfen, aus denen nicht Arm nicht Schenkel wuchsen, mit ihren Köpfen, über die Wolkenbrüche, Nächte und Schatten hereinbrachen, als wäre es das gleiche. Aus Stein und aus Bronze, die Nasen von Kinderhänden poliert, auf den Schädeln Tauben und Dohlen. Die Hände jener Figuren, die Gliedmaßen hatten, waren abgegriffen von Touristen, die ihnen die ihren für ein Photo in die kalten Finger legten. Eine ganze Armee schien in dieser Stadt leise zu warten, ohne Schicksal und ohne Grab, und nachts sah ich, wie betrunkene Mädchen sich an die Skulpturen heranschlichen und sie heimlich küssten, die Rotweinflaschen in der Hand.
Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).