© Valerie Fritsch
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Valerie Fritsch: Das genetische Gedächtnis

in Writers' Blog

Kirschblüten und Krieg

Entgegen der Mendelschen Vererbungslehre vererben Mäuse, denen man beibrachte, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, ihre Angst vor Blumenduft ihren Kindern weiter. Sie kommen mit erfahrungsbasiertem Wissen ohne Erfahrung zur Welt. Nicht nur die Erbsubstanz, aber die Erinnerung ihrer Eltern wohnt ihnen in den Knochen. Ein genetisches Gedächtnis. Fahrig sitzen dann im Labor die neugeborenen Mäuschen vor den schwarzen Obstbaumzweigen und bangen, ohne zu wissen warum, unter denen prächtigen Blüten, als bereite ihnen nur ihre Schönheit Entsetzen.

Ich hingegen träume vom Krieg, als hätte mir meine Großmutter ihr Schicksal in den Doppelhelixsträngen der DNA weitergegeben, als hätte sie mir das Dunkel der Luftschutzkeller und den Petroleumgeruch ihrer Zöpfe in den Leib gepflanzt, als hätte sie in meinem Körper die komatöse Stille der Kriegstage haltbar gemacht, ein vorgezogenes, wiederholbares Sterben, einen Hunger, als hätte sie mir ihre Bomben von damals auf die Netzhaut tätowiert, dass auch ich sie in jedem grauen Himmel sehen kann.

 

Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).