NEU GELESEN: Georg Pichler über Peter Rosei

in Dossier neu gelesen

So war sie weder für Peter Roseis Figuren definiert noch entspricht sie im geringsten der Erfahrungswelt heutiger Flüchtlinge: die Reise als bildungsbürgerliche Horizonterweiterung oder als zeitlich und räumlich begrenzte Ausnahmeerfahrung vor dem Hintergrund ökonomischer und/oder psychischer Stabilität. Während es für den Großteil der derzeit real Schutzsuchenden um das nackte Überleben oder körperliche Unversehrtheit geht, sind die Fluchtbewegungen in Roseis „road novels“ seit den 70er Jahren durch eine Bindungs- und Bezugslosigkeit ausgezeichnet, die als durch den gefürchteten Stillstand angestoßene dynamische Identitätssuche zwar auch nicht eben als freiwillig angestrebter Zustand erscheint, aber letztlich als literarische Alsob-Probehandlung einen völlig anderen Realitätsstatus aufweist.

Georg Pichler, seit 2000 Universitätsprofessor für deutsche Sprache und Literatur an der Universidad de Alcalá in Madrid, ging im „Dossier“ zu Peter Rosei von 1994 in seinem Beitrag „Nomaden sind komplizierte Leute. Statische und dynamische Elemente im Werk Peter Roseis“ überzeugend der „Spannung zwischen beweglichen und unbeweglichen Figuren“ in den bis dahin erschienen Texten nach, wo die ständig im Aufbruch befindlichen Protagonisten ihr Nomadentum als Stabilisierungsstrategie einsetzen, ständig am Abgrund und auf der Reise zu einem undefinierten Ziel, das als unabschließbarer circulus vitiosus auf den Ausgangspunkt zurückführt: „Das Ich, das das Ich flieht, um nichts als das Ich zu finden […]“.

Auch wenn das Fremde in letzter Konsequenz immer das Eigene bleibt, werden die Objekte und Menschen literarisch durch den ständigen Perspektivenwechsel in ihrer und durch ihre Andersartigkeit schön, jene ästhetische Erfahrung, die sich in politischer Lesart als Richtschnur für das aktuelle Handeln anempfiehlt. Und dafür ist der Stadtstreuner Peter Rosei mit seiner unbändigen Neugier und Offenheit ein Gewährsmann, nicht nur in seinen Texten.

Gerhard Fuchs