Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 2 („Frohlockdown “)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer und Heinrich Steinfest.

[PDF der Gesamtexte]

Barbara Rieger, 9.11.2020
Das Baby auf dem linken Arm, das Handy in der rechten Hand, lese ich den zweiten Teil der Corona-Tagebücher vom März. Ich habe in diesen Tagen nicht mehr oder weniger Buchstaben übrig als sonst, schreibt Fritsch, aber die Zusammensetzung der Buchstaben, der Worte, die Vielfalt der Wahrnehmung, das kann schon was, im Nachhinein.

Günter Eichberger, 10.11.2020
Mir träumte, ich sei in einem großen Bottich gefangen, zusammen mit anderen Menschen. Endlich fischte man mich heraus, enthäutete mich, tranchierte mich und fraß mich. Es tat gar nicht weh. Mit einem Gefühl großer Erleichterung wachte ich auf.

Stephan Roiss, 10.11.2020
Tag 5 der Quarantäne. Die erkrankte Person hat leichtes Fieber, starken Husten und verlässt ihr Zimmer nur, um auf die Toilette zu gehen. Die drei anderen Menschen unserer WG bewegen sich maskiert, aber frei in der Wohnung. Zwei von ihnen werden heute getestet. Einer davon bin ich.

Gabriele Kögl, 10.11.2020
Ich habe gelesen, dass einige Menschen, die nun Home-Office machen, Fake-Pendeln betreiben. Sie fahren mit dem Rad, dem Auto oder der U-Bahn eine Runde und gehen dann in ihre Wohnung zurück, als würden sie an ihre Arbeitsstelle gehen. Das gibt zumindest den Anflug eines Gefühls, woanders zu sein.

Lydia Mischkulnig, 11.11.2020, Bucklige Welt
Noch herrscht Schonfrist. Fernseher und Radio laufen, mit Zeitungen machen wir Feuer. Sitzen spielend beisammen. Schreiben Begriffe auf, zusammengesetzte Hauptwörter, die dann von einer Gruppe umschrieben, pantomimisch vorgestellt und von den anderen erraten werden. Stilknoten. Rabenmutter. Zuckerwatte. Beim Frühstück kommen schon die Nachrichten. Mein Stichwort: Coronatagebuch.

Birgit Pölzl, 11.11.2020
Wann erlaube ich mir wieder ein Stückchen Romantik? Morgen? Nach der Krise? Nie mehr? Immer? Immer, immer. Ist ja alles eingefaltet, ist alles Tanz, der sich choreografiert, wie jener der Insekten, den ich vor ein paar Tagen im Sonnenlicht bewundert habe, sie ließen sich fallen, fingen sich, flogen hoch, näherten sich einander, stoben auseinander, neue Formationen, immer neue Formationen bildend, als gäbe es Fäden, Zauber, ein permanent sich modifizierendes Konzept: Übersetzungen eines Flügelschlags, Freude, die mein Herz aufklingen lässt wie ein Text Friederike Mayröckers.

Stephan Roiss, 11.11.2020
Ciao Aerosole. Weil das Fenster permanent offensteht, ist es eisig kalt im Badezimmer. Draußen schwingt sich eine Krähe von der Dachrinne auf, öffnet ihren Schnabel, lässt eine Walnuss auf die Straße fallen. Knackendes Geräusch, kluges Tier. Ich bekomme eine SMS. „Ihr SARS-CoV-2-Test ist NEGATIV.“ Eine Minute später ruft mich die Person an, mit der gemeinsam ich gestern bei der Teststation gewesen bin. Auch sie hat eine SMS erhalten. POSITIV. Scheiße. Zwei von vier. An diesem Abend gebe ich mir besonders viel Mühe mit der Gemüsepfanne.

Egon Christian Leitner, 12.11.2020
Der Behindertenbetreuer erträgt die mediale Berichterstattung nicht. Die verwirre, zerstöre das Vertrauen, auf nichts könne man sich verlassen. Die Politiker werden nie wirklich zur Rede gestellt. Von Anfang an sei das unterlassen worden. Alles wurde immer unverständlicher, bedrohlicher. Seine Supervisorin, eine Therapeutin mit Mutter (im Heim), weiß auch keinen Rat außer Augen zu und durch, auf sich selber schauen, das eigene Privatleben, den Genuss von Bildungs- und Kulturgütern, sich innerlich weiterbilden. Aber ein Helfer ist zum Helfen da, meint er, der Sozialarbeiter, nicht zum Davonlaufen.

Barbara Rieger, 12.11.2020
Vielleicht habe ich den Punkt übersehen, an dem mich Sargnagels Aufzeichnungen einer Tagediebin zu deprimieren beginnen, denke ich und frage mich, warum sie mich deprimieren, während ich meinen Kaffee trinke usw. … vielleicht weil mich ihre Jugend in Wien zu sehr an meine eigene Jugend in Graz erinnert, weil die Verrückten, Verlorenen aus meinem Leben verschwunden sind und weil ich nicht wissen will, wohin, denke ich, während es hell, während es tatsächlich sonnig wird. Vielleicht, denke ich weiter, liegt es auch gar nicht am Buch, vielleicht fällt mir nur wieder die Decke des Tals auf den Kopf. Die Sonne scheint in die Küche, ich sehe nur mehr Staub.

Stefan Kutzenberger, 12.11.2020
Heute hätte ich eine Lesung und ein 3sat-Interview auf der Buch Wien. Stattdessen schreibe ich Coronatagebuch für das Literaturhaus Graz. Ich schreibe schon die zweite Woche daran, so konsequent habe ich das noch nie durchgezogen, alle früheren Tagebuchversuche sind nach dem ersten Eintrag wieder eingeschlafen.

Günter Eichberger, 12.11.2020
Alles unbrauchbar.

Gabriele Kögl, 13.11.2020
Das Leben ist unsinnlich geworden. Hinter der Maskerade lässt sich keine Mimik mehr deuten. Ich kann nicht erkennen, ob man mir freundlich oder abneigend gesinnt ist. Und verbirgt sich unterhalb der schönen Augen tatsächlich ein schönes Gesicht?

Günter Eichberger, 13.11.2020
Ich habe einen Satz gezüchtet, der immer weiterwächst. Er ist jetzt schon hundert Seiten lang. Und ein Ende nicht abzusehen.

Stephan Roiss, 13.11.2020
Die Person, die vorgestern ein negatives Testresultat erhalten hat, erwacht mit Schüttelfrost und beginnt zu husten. Bitte nicht. Wir bestellen Pizza. Das beruhigt.

Wolfgang Paterno, 13.-16.11.2020
Gelegentlich die sanfte Sehnsucht nach Winterschlaf. Körpertemperatur herabsetzen, Atem- und Pulsfrequenz sowie Stoffwechselaktivitäten vermindern, in einer gut mit Büchern ausgepolsterten Höhle. Keine 7-Tage-Inzidenz und Tabellen und Basisreproduktionszahlen. Die Wonne, die endlosen Kanzlerverkündigungen mit reinem Gewissen verpasst zu haben. Aufwachen in den kommenden Frühling hinein, unter einem hellblauen Himmel, der sich über die Welt spannt. Nach den Corona-Ferien ist vor dem Corona-Alltag.

Gabriele Kögl, 14.11.2020
Bei mir mischt sich das Katholische mit dem Kafkaesken: Ich suche nach meiner Schuld. Worin lag mein Vergehen?

Lydia Mischkulnig, 14.11.2020, Bucklige Welt
Wie oft habe ich vom Attentat berichtend folgenden Satz gesagt: „Und das ständige Kreisen der Hubschrauber über der Stadt.“ So einen Satz muss man tilgen, habe ich gelesen. Das Korrekturprogramm macht aus „habe ich gelesen“ eine Frage, sie lautet: „habe ich Gelsen?“.

Egon Christian Leitner, 14.11.2020
Werde auf meinen Coronatagebucheintrag angesprochen im Netz. Soll das Sozialstaatsvolksbegehren erklären. Die Jungen heutzutage kennen das ja nicht mehr, sagt ein „Alter“ zu mir, der dann sagt, dass er 2002 gerade sein Haus gebaut, von nicht viel sonst was mitbekommen hat. Die Dörnerexperimente soll ich ihm auch für heutzutage erklären. Erwidere, beides sei nicht nötig; er habe mich gewiss ganz genau verstanden.

Heinrich Steinfest, 14.11.2020, Stuttgart (im Wald)
Mein Gott, wie wunderbar, wenn da nur nicht die anderen wären. Klar, man kann nie der einzige sein, den es in die Natur treibt, aber jetzt – verflucht – haben wieder die Fitnessstudios und Wellnesstempel geschlossen und es zwingt nun auch jene in die Wälder und Parks, die ihre Körper auf Laufbändern und in der Umarmung von Kraftstationen stählen und formen.
Das Problem ist, daß so ein Waldweg über eine gewisse eingeschränkte Breite verfügt, er ist schließlich keine Landebahn. Und da kommen sie daher, so gerne paarweise, die schlanken Amazonen und von Muskeln verzehrten Krieger des Figürlichen und scheißen sich was, ob du da irgendwie mit Abstand an ihnen vorbeikommst. Sie keuchen dir ihre Gleichgültigkeit entgegen, ihr Recht des Stärkeren und ihren Willen zur Freiheit. Und am schlimmsten die, die paarweise auf ihren Fahrrädern – das Wort Biker klingt auch so nach Eroberungszügen – auf dich zurasen und so nah an dich heranfahren, daß du ihren Kämpferschweiß riechen kannst.

Wolfgang Paterno, 13.-16.11.2020
Jetzt brechen sie wieder an, die Tage als Mathematik-, Deutsch-, Geografie-, Latein- und Englischteilzeitlehrer, als Frühstückshelfer und Ersatzkoch, TV-, Computer-, Xbox-Regulierer, IT-Aushilfskraft und Brotberufheimarbeiter. Derzeit noch fraglich, ob sich der Weihnachtsgeschenkeknilch ausgeht.

Stefan Kutzenberger, 15.11.2020
Die Regierung hat gestern wie erwartet den Lockdown verkündigt. Ich war sogar live dabei, habe den Fernseher um 16:30 aufgedreht, weil ich viel zu selten Nachrichten schaue und mir unsere Politiker wieder einmal ansehen wollte. […] Am Dienstag, den 17. November wird mein tägliches Tischtennisritual ein Ende haben, ich darf den Architektenfreund aus virologischen Gründen nicht mehr sehen, und wir werden uns dran halten.

Verena Stauffer, 15.11.2020
Meine Zeit in Fs Wohnung ist nun auch abgelaufen, ich notierte, dass ich fort wolle, auch ohne Bett, mit oder ohne Matratze, ich wolle nun meine vier Wände beziehen, raus aus seiner Welt, seinen Utensilien, Sammelsurien, die seine Geschichte verdeutlichten und meine auf ein Neues verwischten. Doch was eignete sich als Ersatz, um mich soft zu betten? Wie sollte ich darüber schlafen? Ich könnte Zeitungen entfalten, knittrige Magazine stapeln, doch das wäre zu knarzig, spießig wie auf Toilettenpapier. Zudem die Artikel, die ich lesen müsste, bevor ich zu Bette ginge, was mich eines jeden Schlafs berauben würde. Sollte ich das Möbelhaus Piringer kontaktieren? Mit einem Mal seufzte ich schwer, ließ mich in meinen Sessel sacken. So eine Matratze aus virtuellen Buchstabenblumen, so ein Datenbett, ich weiß nicht, dachte ich, ob das etwas taugt? Bestimmt wäre es auch völlig überteuert.

Günter Eichberger, 16.11.2020
Kaum die Augen aufgeschlagen, schon zu Tode erschöpft. Von Beruf müde. So holt mich meine Kindheit ein. Je müder ich werde, desto mehr kann ich mich ins Thema einfühlen. Wenn ich dann einschlafe, wird sich der Gedanke von allein verfertigen. Und im Traum bin ich dann mit allem eins, was sich (nicht) sagen lässt.

Egon Christian Leitner, 15.11.2020
Eine Lehrerin ruft mich aus der Türkei an. Die Schulen sind ganz geöffnet, die Fenster auch immer, es ist fürchterlich kalt in den Klassen, anstrengend.

Lydia Mischkulnig, Abfahrt 15.11.2020
„Frohlockdown“ war eine Wortschöpfung von B., mit der er den Landaufenthalt umschrieb. Das Katerfrühstück folgte. Das nimmst du bitte wieder mit, sagte er, und überreichte mir die angebrochene Packung Müsli. Im verlassenen Haus würde es nur Mäusen überwintern helfen.

Heinrich Steinfest, 15.11.2020
In der Tagebucheintragung des Karl Ignaz Hennetmair vom 15. November lese ich, daß der Thomas Bernhard meinte, er benötige zwischen und auch manchmal während des Schreibens Ablenkung und habe die besten Sachen seines Romans Das Kalkwerk beim laufenden Fernseher geschrieben. „Als die Pröll von Sieg zu Sieg gefahren ist und alles im Siegestaumel war, habe ich mich mitreißen lassen und hab mit Schwung weitergeschrieben während der Übertragungen.“
Super Idee, denke ich mir, da ich ohnehin grad ein wenig Schwung beim Schreiben bräuchte, mache jedoch einen großen Bogen um die US Masters im Golf – so toll Golf ist, vor meinem geistigen Auge taucht immer dieser eine verrückte Immobilienmensch auf. Weil ich mich nun aber gar so bernhardisch und vergangenheitslüstern fühle, schaue ich mir eine alte Aufnahme mit dem schönsten Boxer aller Zeiten an. Und bin ernsthaft bemüht, den eleganten Schwung seiner Fäuste ins Literarische zu übersetzen.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept und Auswahl Kurzversion: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146