Ödön von Horváth: Impfschein 1914 (Ausschnitt, © Ödön-von-Horvath-Gesellschaft Murnau)
Ödön von Horváth: Impfschein 1914 (Ausschnitt, © Ödön-von-Horvath-Gesellschaft Murnau)

Ödön von Horváth: Impfschein (1914)

in Objekt des Monats

Impfschein des Impfbezirks München Stadt, Impfliste Nr. 89, ausgestellt auf Horvath Edmund, geboren am 9. Dezember 1901, geimpft am 25. Mai 1914, unterfertigt München, 2. Juni 1914 von der K.B. Central-Impf-Anstalt. Sammlung Ödön von Horváth der Ödön-Horváth-Gesellschaft Murnau am Staffelsee, Oberbayern.

Im Herbst 1913 übersiedelte der damals elf Jahre alte Ödön von Horváth (1901–1938) von Budapest zu seinen Eltern nach München, wo sein Vater bereits seit 1909 als Fachberichterstatter des königlich-ungarischen Handelsministerium im Auslande für Süddeutschland bestellt war. Der junge Ödön trat in die 3. Klasse des K. Wilhelmsgymnasium in der Münchener Thierschstraße ein. Zum Ende dieses Schuljahres konnte er schließlich vorweisen, was alle seiner Kommilitonen dem Reichsgesetz von 1874 gemäß vorzuweisen hatten: eine erfolgreiche, staatlich beglaubigte Immunisierung gegen die Pocken.

Ausgestellt von der „K. B. Central-Impf-Anstalt München“ und datiert auf den 2. Juni 1914, haben sich zwei identische Ausfertigungen des Impfscheins erhalten, die im Nachlass Ödön von Horváth am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA 3/L 19) bzw. in einer Sammlung von Lebensdokumenten in Horváths Wahlheimat Murnau am Staffelsee verwahrt werden. Der Impfschein besagt, dass „Horvath Edmund“ – so die deutsche Entsprechung des ungarischen Ödön –, geboren am 9. Dezember 1901, am 24. Mai 1914 „zum ersten Male mit Erfolg wieder geimpft“ wurde. „Durch die Impfung ist der gesetzlichen Pflicht genügt“, ist auf dem Schein vermerkt, worüber die Rückseite detailliert aufklärt: „Die erste Impfung der Kinder muss vor Ablauf des auf das Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, die spätere Impfung (Wiederimpfung) bei Zöglingen einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen, innerhalb desjenigen Kalenderjahres erfolgen, in welchem die Kinder das zwölfte Lebensjahr zurücklegen.“ Es handelte sich in Horváths Fall also um eine vorgeschriebene Auffrischungsimpfung.

Tatsächlich hatte das damals noch recht junge Deutsche Reich bereits 1874 eine allgemeine Pocken-Impfpflicht eingeführt. In einzelnen Ländern des Reiches galt diese bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts; das Königreich Bayern war überhaupt historisch das erste Land, das 1807 eine verbriefte Impfpflicht gegen die Pocken eingeführt hatte. „Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, deren Kinder oder Pflegebefohlene ohne gesetzlichen Grund und trotz erfolgter amtlicher Aufforderung der Impfung oder der ihr folgenden Gestellung entzogen geblieben sind, haben Geldstrafe oder Haft verwirkt“, so die Ausführungen auf dem Impfschein weiter. 20 Mark Geldstrafe drohte das Impfgesetz den Erziehungsberechtigten an, die den Nachweis nicht führen konnten; 50 Mark oder 3 Tage Haft denen, die ihre Kinder absichtlich der Impfung oder ihrer Überprüfung entziehen wollten (Impfgesetz vom 8. April 1874, § 14). Diese Regelung wurde teilweise rigide exekutiert, polizeiliche Vorführungen von Kindern impfunwilliger Eltern waren keine Seltenheit. Ödön von Horváth war also spät dran mit seiner Impfung, wurde er doch bereits im Jahr 1913 zwölf Jahre alt. Was ihn bzw. seine Eltern vor Strafe bewahrt haben dürfte, war zum einen die gehobene Stellung seiner Eltern; und zum anderen der Umstand, dass er Staatsbürger der österreichisch-ungarischen Monarchie war, die eine vergleichbare Impfpflicht nicht kannte.

Die Impfung gegen echte Pocken (Variola) mittels Impfstoffes aus den eng verwandten Kuhpocken (Vaccinia, daher der Begriff: Vakzination) war eine der ersten modernen Impfungen und eine Erfolgsgeschichte der Präventivmedizin. Mit einer Todesrate von weit über 10% galten die Pocken oder Blattern, wie sie auch genannt wurden, bis dahin als eine der am meisten gefürchteten Krankheiten. Im Deutschen Reich konnten durch den Impfzwang Todesfälle schließlich praktisch vollständig vermieden werden. Im Lauf der 1920er- und 1930er-Jahre zunehmend aufgeweicht und während des Zweiten Weltkriegs kriegsbedingt völlig aufgehoben, bestand das Impfgesetz von 1874 bis in die Bundesrepublik Deutschland der 1970er-Jahre fort. Auch andere Staaten führten im Lauf des 20. Jahrhunderts zeitweise eine Impfpflicht gegen Pocken ein; in Österreich bestand diese etwa von 1948 bis 1977. Seit 1980 gelten die Pocken weltweit als ausgerottet.

Die Impfpflicht war trotz ihres augenscheinlichen Erfolgs bereits zu ihrer Einführung umstritten und führte im Lauf der Jahre zu einer regen Aktivität von Impfgegnern aus unterschiedlichsten ideologischen Lagern im Deutschen Reich und darüber hinaus. Ödön von Horváth selbst scheint indes trotz seiner erfolgten Zwangs-Impfung dem Impfen an sich positiv gegenübergestanden zu sein. In einer Textstufe zum Roman einer Kellnerin, einem zum Prosa-Komplex um den Roman Der ewige Spießer (1930) gehörigen Konvolut an Fragmenten, schreibt er jedenfalls über die Kindheit seiner Protagonistin:

Erdreistet man sich Gottes Tun nach den Gesetzen der Logik begreifen zu wollen, so wird man sich überzeugen müssen, dass Gott der Allgütige der kleinen Lotte nicht nur verziehen, sondern sie ganz besonders liebgewonnen hatte, denn mit sechs Jahren wollte er sie zu sich nehmen. Sie bekam nämlich Dyphteritis, aber der schlechte Mensch Doktor Müller hat mit einer feinen Injektionsspritze scharf über die göttlichen Finger geschlagen. „Au!“ zischte Gott und zog seine Pfoten hurtig zurück. „Mein Gott!“ seufzte der Gerechte „jetzt erfinden sie sogar schon Serums! Jetzt gibt es schon keine Cholera, keinen Aussatz, keine Lepra in zivilisierten Gegenden. Nur gut, dass sie die Syphilis nicht ganz heilen können. Besonders die Späterkrankungen, zum Beispiel Paralyse. Und auch die Tuberkulose — aber das mit der künstlichen Höhensonne will mir schon gar nicht gefallen. Wie war nur die letzte Statistik, lieber Erzengel? Was, sie hängen überall Plakate herum, dass man nicht so herumspucken soll? Wirklich, die Leut werden immer frecher. Wenn das so weitergeht, na servus! Höchste Zeit, dass was gschieht!“

Und Gott sprach: „Es werde Weltkrieg!“[1]

Und es geschahe also. Und Gott sah, dass es gut war.

Martin Vejvar

Der gezeigte Impfschein Ödön von Horváths im Besitz der Ödön von Horváth-Gesellschaft Murnau ist als Dauerleihgabe an das Schlossmuseum Murnau am Staffelsee, Oberbayern, vergeben. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft Murnau.

[1] Ödön von Horváth: Fragmentarische Fassung K1/TS13/A4. In: Ders.: Der ewige Spießer. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann (= Wiener Ausgabe, Bd. 14). Berlin: de Gruyter 2010, S. 84f.