Cover: Basteiroman; Hengstler

Von Gebrauchs- und Verbrauchstexten. Ein Groschenroman im Vorlass von Wilhelm Hengstler

in Objekt des Monats
Monika Leitner: Ihr schönster Kuß stand net im Drehbuch. Bergisch Gladbach: Bastei [1995] (= Berg-Roman. 1319.) [Romanheft aus FNI-Hengstler, o.Sign.]

„Hoffentlich sind Sie nicht böse darüber.“[1] – So schließt ein Brief zweier interessierter Hochsteirerinnen an Wilhelm Hengstler aus dem Jahr 1995, in dem sich die beiden nach dem Erscheinungstermin des damals in Produktion befindlichen Films Tief oben (Regie u. Buch: W. Hengstler) erkundigen, um anschließend zu gestehen: „Da wir ja nicht nur unsere Berge lieben, sondern auch selbst schreiben – nicht nur Romanhefte! – haben wir uns erlaubt, Ihren Film, bzw. und vor allem das ‚Drumherum‘ ein wenig zu mißbrauchen“[2]. Resultat des besagten ‚Mißbrauchs‘ ist eben jenes vorliegende Romanheft mit dem Titel Ihr schönster Kuß stand net im Drehbuch – im Bastei Verlag aufgelegt als Band 1319 der Reihe Berg-Roman, die gemessen an der schieren Menge ihrer Bände neben heute noch erscheinenden Dauerbrennern wie Jerry Cotton (heute knapp 3500 Bände) und Der Bergdoktor (knapp 2200 Bände) wohl zu den erfolgreicheren Reihen des Verlags zu zählen ist, auch wenn sie heute eingestellt bzw. in der Reihe Die schönsten Berg-Romane aufgegangen ist.

Der besagte Film feiert einige Monate später Premiere – am Erzberg, in Eisenerz, wo auch ein Gros der Dreharbeiten stattfand. Hengstler greift darin Sagen und Mythen aus der Umgebung auf, trägt mit der prominenten Rolle der historischen Figur des Hans von Gasteiger der Bergbauvergangenheit des Ortes Rechnung und nutzt die Landschaft, den Berg und den Ort als natürliche Kulissen für seinen Film. Es ist aber kein Historienfilm, den Hengstler abliefert, und auch kein Heimatfilm, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, sondern ein bunter Genre-Mix, der Elemente von Horror- und Heimatfilm miteinander verknüpft, gewissermaßen gegeneinanderstellt. Heimat und Horror[3]: was heute im deutschsprachigen Raum zu einem eigenen kleinen Subgenre geworden ist – man denke etwa an Sennentuntschi (2010) von Michael Steiner, Angriff der Lederhosenzombies (2016) von Dominik Hartl oder die Jelinek-Verfilmung Die Kinder der Toten (2019) des Nature Theatre of Oklahoma – beginnt sich Mitte der 1990er gerade erst als Form zu etablieren. Hengstler findet dabei nach eigener Aussage[4] Vorbilder und Einflüsse nicht in der unmittelbaren Umgebung, sondern im internationalen Kino, bei Werner Herzog beispielsweise und seinem Herz aus Glas von 1976 oder in den Filmen von Emeric Pressburger und Michael Powell, insbesondere ihrem Film Black Narcissus (1947). Auch David Lynch wird immer wieder als mögliche Referenz genannt. Am Horrorgenre habe Hengstler die Plastizität interessiert und die Möglichkeit, darin auch politische Themen zu verhandeln. Entsprechend rekurrieren die Untoten, die im Film auftreten, auf problematische Aspekte in der Historie des Ortes, auch auf den Nationalsozialismus, wirken dabei aber sehr subtil, eher als suggestive, rätselhafte Zeichen als in Form einer expliziten Vergangenheitsbewältigung, dazu kommt eine grundlegende Ironie, die in einer künstlichen Überformung der Szenen Klischees beider Genres übersteigert und bricht.

Als das Romanheft erscheint, sind die Dreharbeiten zum Film, die Ende 1993 eben in und um die Gemeinde Eisenerz stattfinden, schon längere Zeit abgeschlossen. Eben jene Arbeiten wirken in der Gegend aber offensichtlich noch nach, scheinen schon während der unmittelbaren Produktion vor Ort Eindruck gemacht zu haben und das nicht nur, weil Hengstler in einer Art Solidarisierungsaktion mit nackten Statist:innen einen vollen Drehtag ebenso unbekleidet bewältigt haben soll.[5] Vom großen öffentlichen Interesse zeugt auch die umfangreiche mediale Berichterstattung zur „17-Mio.-Produktion“[6], die, wie etliche Printmedien hervorheben, neben einigen steirischen Schauspieler:innen und einheimischen Statist:innen auch mit namhaften „[i]nternationale[n] Stars & Heimkehrer[n]“[7] aufwarten kann: Neben Hans Platzgummer, der als Frontman der damals international erfolgreichen Grunge-Formation H.P. Zinker für die Hauptrolle und einige Originalsongs im Film verantwortlich zeichnet, sind u.a. Peter Simonischek und Barbara Steele Teil des illustren Casts – er anno dazumal in seinem dritten Jahr als Jedermann-Tod der Salzburger Festspiele, sie, ‚First Lady of Horror‘ und Star von internationalem Format, die für Regiegrößen wie Hitchcock, Cronenberg oder Fellini vor der Kamera stand.[8] Hengstler wolle mit dem Film „Eisenerz und seine Geschichten in die Welt tragen“, attestiert die Steirerkrone noch während der Dreharbeiten und wünscht für das Vorhaben ein herzliches „Glück auf!“[9] – ein erstes Missverständnis von vielen in der medialen Rezeption des Filmes. Plot und Inhalt erscheinen nebensächlich, wenn der Film Stars und Spektakel in die Provinz holt.

Entsprechend sind es auch die Dreharbeiten, mehr das „Drumherum“ als der eigentliche Stoff des Filmes, die für die beiden Autorinnen, die das Romanheft gemeinsam unter dem Pseudonym ‚Monika Leitner‘ publizieren, als Ausgangspunkt für ihre eigene Geschichte dienten. Der Plot folgt bekannten Mustern und ist dabei schnell erzählt: Als ein Filmteam in den kleinen Ort Stollenhofen (reale Orts- wie Personennamen werden durchwegs leicht verfremdet) kommt, um im wunderschönen Ambiente der Berge einen Historienfilm zu drehen, lässt sich der junge, fast mittellose Handwerker Leonhard von der schönen Schauspielerin Sylvia den Kopf verdrehen, wobei er doch eigentlich der Jungbäuerin Brigitte versprochen ist. „Sylvia, die rassige Schauspielerin, hatte ihn schier verhext…“[10] Ein Schauspieler fällt aus, Leonhard bekommt unverhofft selbst eine Hauptrolle im Film und seine Beziehung zur ehrlichen Brigitte droht in die Brüche zu gehen. Doch kurz vor Abschluss der Dreharbeiten besinnt er sich auf das Wesentliche, auf sein Handwerk, das ruhige, idyllische Leben am Land und das Versprechen, das er ‚seiner‘ Brigitte gegeben hat. Er versagt sich den Reizen des Filmgeschäfts und den Annäherungsversuchen der bewunderten Schauspielerin und kehrt zurück zu seiner geduldig wartenden Liebsten, sodass sich alles zum Guten wenden kann.

Liest man Inhaltsangaben zu anderen Titeln der Reihe, so wirkt die Handlung von Ihr schönster Kuß stand net im Drehbuch, insbesondere das Happy End, geradezu prototypisch, auch wenn im Text einige Motive aus Drehbuch und Film versatzstückhaft Verwendung finden. Wenn Hengstler davon spricht, dass ihn vor allem das „Spiel mit Zeichen und Zeichensystemen des Massenmediums“ interessiert habe, die Handlung als „Genre-Cross-Over“ zwischen Heimat- und Horrorfilm betrachtet wird, in dem „einzelne Versatzstücke der Genres so verändert [werden], daß in ihnen das jeweils andere Genre aufgehoben“ [11] und damit gewissermaßen dekonstruiert wird, dann finden im Romanheft eben nur Elemente ersteren Genres ihren Platz: Idyllische Berglandschaften, melodramatische Beziehungsgeschichten und regionale Mythen und Sagen, deren Abseitigkeiten, die im Drehbuch noch besonders hervorgehoben, im Romanheft einfach ausgeblendet werden. Es wird damit auch deutlich, dass das Romanheft ohne Kenntnis der genaueren Filmhandlung oder des Drehbuchs entstanden ist. „Böse darüber“ war der Regisseur und Autor aber nicht: Hengstler betont selbst, dass er die Idee lustig fand, er die Sache gewissermaßen absegnete, es aber keinerlei Vorabsprachen gegeben, das Heft also auch wenig mit seinem Film zu tun habe. Und doch fügt sich das Bastei-Bändchen hervorragend in den archivarischen Bestand zum gesamten Projekt und das nicht nur weil es die ‚Camp‘-Ästhetik des Filmes wunderbar komplementiert.

In einem frühen Konzeptentwurf vom November 1990 reflektiert Hengstler das Drehbuchschreiben selbst und legt den Schreibprozess als genuin künstlerische Handlung im Konzept fest:

Die Ausrichtung auf eine Prosaarbeit (in die die Mühen des Filmemachens auch reinkommen), soll mir helfen den eigenen Tonfall beim Schreiben zu finden bzw. zu halten. Anscheinend fasse ich Drehbücher (mein Snobismus) als angewandtes Schreiben, irgendwo neben meinem eigentlichen Engagement als Schriftsteller auf. Andererseits sind Drehbücher viel zu umfangreich, zu kompliziert auch, um sie wie irgendeinen Zeitungstext hinzuschreiben. […] Darum der Versuch das Drehbuchschreiben ernsthafter, literarischer zu machen – durch das FILMBUCHkonzept. Die Gefahr: daß ich ein FILMBUCH, statt eines Drehbuches schreibe.[12]

In einer Neuformulierung vom 30.6.1991 hält er an dem Plan fest und bringt gleichzeitig eine gewisse Frustration zum Ausdruck, die sicherlich auch aus Erfahrungen aus vorangegangenen Projekten resultiert:

Diese Schreibarbeit schien keinen Wert für sich zu haben, sie (repräsentierte) funktionierte bloß als Blaupause für den zu realisierenden Film. Aber da auf dem Weg dahin häufig Ablehnungen, Verzögerungen, Änderungswünsche diverser Kuratorien standen[,] brachte das den Text noch weiter  von einem fort.[13]

Das Drehbuchschreiben als literarische Beschäftigung ernst zu nehmen, erweist sich hier auch als ein Trick für die Praxis, um eben im Laufe eines langwierigen Prozesses, der aus unterschiedlichen Gründen immer wieder unterbrochen werden muss, nahe am Text und damit bei der Sache zu bleiben – gerade bei der Suche nach Fördergebern und Sponsoren, die zwangsweise finanzielle wie künstlerische Rückschläge beinhaltet, die sich wiederum in die künstlerische Ausführung des Werks einschreiben. Mit ähnlicher Argumentation verweist Hengstler auf ein kollaboratives bzw. kollektives Schreiben, das er schon im Zuge seiner Arbeiten am vorangegangenen Film Fegefeuer praktiziert: „Deswegen scheine ich mir auch immer jemand [!] zu suchen, der mich durch seine Mitarbeit von der Substanz des Drehbuches überzeugt.“ Während bei Fegefeuer in verschiedenen Phasen Ernst M. Binder, Bernhard Seiter und Martin Singer am Schreibprozess beteiligt waren, so arbeitet Hengstler im Zuge der Vorarbeiten zu Tief oben zeitweilig mit Wolfgang Bauer, zwischendurch auch mit Peter Berecz und letztlich wieder mit Bernhard Seiter zusammen. Auch wenn die Beteiligung von Bauer gerade in der Frühphase wichtig für die Förderung des Projekts war, habe sich vom Bauer’schen Gestus, der sich in teilweise erhaltenen Frühfassungen des Buchs durchaus bemerkbar macht, in der Drehbuch-Letztfassung kaum etwas erhalten.

Die grundlegende Idee eines Filmbuchs hält sich ebenso nicht bis zum Schluss – und doch bringt Hengstler mit seinen Überlegungen wesentliche Aspekte einer über die Jahre immer wieder aufkommenden (wissenschaftlichen) Debatte um den selbstständigen ästhetischen Wert von Drehbüchern (und damit zusammenhängend die Relevanz literaturwissenschaftlicher Analysekategorien) auf den Punkt: Dabei steht die Idee des Drehbuchs als bloße Blaupause einer Autorentheorie, nach welcher die künstlerische Essenz eines Filmes im Drehbuch zu finden ist, und der Drehbuchautor dementsprechend auch als geistiger Urheber des Filmes zu betrachten ist, gegenüber.[14] Hengstler reflektiert genau jenes Spannungsfeld zwischen Gebrauchstext und Kunstwerk, auf dem man sich als Drehbuchautor:in zwangsweise bewegt, indem er den Wunsch nach künstlerischer Autonomie direkt verknüpft mit einem Hinweis auf die Gefahr eines allzu literarischen Drehbuchs, das die grundsätzliche Einbettung des Textes in einen praktischen Kontext, die Filmproduktion, außer Acht lässt. Filmbücher stellen wohlgemerkt eine gängige Praxis in der Vermarktung und Veröffentlichung von Drehbüchern dar, wobei darauf hinzuweisen ist, dass Drehbuchpublikationen immer noch eine Seltenheit darstellen und derartige Filmbücher in der Regel keine im Produktionsprozess entstandenen Drehbuchfassungen abdrucken, sondern gewissermaßen bereinigte und eigens adaptierte Lesefassungen, häufig begleitet mit Dokumentationsmaterial und Paratexten, die den Prozess der Filmwerdung beschreiben und den Drehbuchtext wiederum einem weiteren, umfassenderen künstlerischen Schaffen nach- und unterordnen.

Die Idee, den Spieß einfach umzudrehen, den Drehbuchtext als zentrales Werk zu betrachten und den Film als Begleiterscheinung, hätte durchaus künstlerischen Reiz, im Vorlass erhaltene Drehbuch-Textfassungen zeugen auch von einer literarischen Qualität des Textes, aber letztlich überwiegt der Blaupausen-Charakter – die Umsetzung des Filmes steht deutlich im Vordergrund, auch weil wesentliche Aspekte der Handlung, vom Stellenwert der Musik bis zum bewussten Spiel mit Zeichensystemen der Popkultur, vorwiegend audiovisuell funktionieren, im intermedialen Zusammenspiel. Das Drehbuch bleibt, das zeigt auch die fragmentarische Überlieferung unterschiedlichster, meist unvollständiger Textfassungen, ein Gebrauchstext, der mit Erscheinen des Filmes obsolet wird.

Damit eröffnet sich eine weitere Parallele zum Bastei-Romanheft, das zwar keine Gebrauchs-, aber doch Verbrauchsliteratur darstellt, deren Relevanz eine vielleicht noch kürzere Halbwertszeit als ein Drehbuchtext hat. Zum Zeitpunkt des Erscheinens werden nämlich immer nur zehn Nummern einer Reihe gleichzeitig im Programm gehalten, ein Heft wird also nur 10 Wochen lang vertrieben – „Ältere Hefte sind nicht mehr lieferbar“, heißt es im an das Heft angehängten Bestellschein. Dass es letztlich nicht zu einem Filmbuch und damit zu einer Aufwertung des Drehbuchtexts gekommen ist, dass auch nur wenige Drehbuchfassungen im Vorlass erhalten sind, dafür aber drei Ausgaben des Bastei-Heftes, das damit gewissermaßen an die Stelle des Filmbuchs getreten ist, erscheint in der speziellen Materialkonstellation des Vorlasses wie die ironische Pointe eines Witzes, der selbst aus Hengstlers Film stammen könnte.

David J. Wimmer

[1] Privat-Korrespondenz aus FNI-Hengstler, o. Sign.
[2] Ebda.
[3] Unter selbigem Titel ist auch ein Sammelband zu Elfriede Jelineks Roman Kinder der Toten erschienen, der auf ein internationales Symposium von 2017 am Franz-Nabl-Institut zurückgeht (Hg. von Klaus Kastberger und Stefan Maurer). Jelineks 666-seitiger Roman erschien just im selben Jahr wie Hengstlers Film – motivisch gibt es einige Überschneidungen.
[4] Aussagen Hengstlers, die nicht extra ausgewiesen sind, entstammen einem Telefonat mit dem Beiträger vom 6.4.2023.
[5] Vgl. Ankündigung einer Film-Vorführung im Rahmen von eisenerZ*ART, 2011. URL: https://www.eisenerz-art.at/artists/wilhelm-hengstler/
[6] Drehli Robnik: Eisen, Erz und Steele. In: Falter (Wien) vom 2.2.1994.
[7] N.N.: Internationale Stars & Heimkehrer. In: Steirerkrone, o. Dat [1993], o. S. [aus FNI-Hengstler, o. Sign.]
[8] Den Korrespondenzen aus dem Vorlass kann man entnehmen, dass zwischenzeitlich auch bekannte Namen wie Gert Voss und George Tabori für zentrale Rollen im Film vorgesehen waren.
[9] Steirerkrone [1993], o. S.
[10] Monika Leitner: Ihr schönster Kuß stand net im Drehbuch. Bergisch Gladbach: Bastei [1995] (= Berg-Roman. 1319.), S. 3 [FNI-Hengstler, o.Sign.]
[11] Pressemappe zu Tief oben. FNI-Hengstler, o. Sign.
[12] Drehbuch-Konzept vom 28.11.1990, 2 Blatt, FNI-Hengstler, o. Sign.
[13] Buchidee. Neuformulierung vom 30.6.1991, 2 Blatt, FNI-Hengstler, o. Sign.
[14] Vgl.  Claus Tieber: Perspektiven. Drehbuchforschung zwischen Narratologie und Produktionsästhetik. In: MEDIENwissenschaft 32 (2015), H. 3. DOI: https://doi.org/10.17192/ep2015.3.3672 [03.11.2021], S 311-323, hier S. 313f.