Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 3 („halb versteckte Scham“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

Stefan Kutzenberger, 16.11.2020
Dieses Tagebuch zu führen, fällt mir schwer, weil mich der Lockdown kaum betrifft: seit Jahren arbeite ich von zu Hause aus, seit Jahren treffe ich nur wenige Menschen regelmäßig, seit Jahren weiß ich, Sonntag ist dann, wenn der Supermarkt geschlossen hat, in andere Geschäfte gehe ich selten. Was soll man da schon darüber schreiben?

Barbara Rieger, 16. – 19.11.2020
Keine Lust aufzustehen, es trotzdem tun. Keine Lust zu duschen, es trotzdem tun, keine Lust auf die Büschel von Haaren am Rücken, an den Beinen, auf der Bürste, keine Lust zu googlen: Haarausfall Stillzeit. Keine Lust ein Blutbild machen zu lassen, schon gar keine Lust den Zuckerbelastungstest zu wiederholen. Keine Lust auf Kaffee mit Sojamilch, auf Fencheltee usw. Keine Lust die Nachrichten durchzulesen, es trotzdem tun. Keine Lust darüber nachzudenken, ob es erlaubt ist, dass meine Mama uns besuchen kommt, ob ein Besuch bei uns unter die Ausübung familiärer Plichten fällt. Ob man über Unerlaubtes schreiben kann.

Birgit Pölzl, 16.11.2020
Vor dem Zusperren noch zum Baumarkt, einen Tiegel weißer Farbe zu besorgen. Eine Schlange an der Kassa, obwohl es erst zehn nach acht ist. In den Einkaufswagen Lasuren, Holzleisten, Abdeckfolien, Farbwalzen, Säcke mit Kaminholz, ein Sack mit Kies, pragmatisch die Leute an der Kassa, ohne Hang zu Hamsterkäufen, ohne Rabatteuphorie. Den Rausch der Sonderangebot-Affinen sehe ich im Fernsehen, die halb versteckte Scham der SchnäppchenjägerInnen.

Günter Eichberger, 17.11.2020
Das hat nicht mir geträumt, ist vielleicht von meinem Kopf in einen anderen gerutscht. Ich arbeite rund um die Uhr vor einer monumentalen Uhr. Ich bin bei der Uhr angestellt.

Verena Stauffer, 17.11.2020
Das war die Nacht, in der die französische Bar zu Staub zerfiel.

Gabriele Kögl, 17.11.2020
Ein Sonnentag. Ich möchte hinaus. Vitamine tanken, damit die Coronakugeln an mir abprallen wie ein Schneeball an einer Daunenjacke. Zum Glück muss ich beim zweiten harten Lockdown nicht um den Augarten kämpfen. Ich darf mich in der frischen Luft bewegen, niemand schreit: „Stay the fuck home!“ Die Kinder klettern auf den Gerüsten des Spielplatzes. In der Gastwirtschaft gibt es Kaffee, Punsch oder Glühwein zum Mitnehmen. Im Augarten ist es fast wie im normalen Leben.

Barbara Rieger, 16. – 19.11.2020
Keine Lust mir die Reden der PolitikerInnen anzuhören, usw., es trotzdem tun, keine Lust zu bemerken, dass mir die Sorgen der IntensivmedizinerInnen am authentischsten erscheinen, um gleich darauf von B. zu hören, dass die jeden Winter so besorgt seien. Keine Lust die Corona-Tagebücher vom Frühjahr, die aktuellen Corona-Tagebücher, den Falter durchzulesen, vor allem nicht die Hintergründe des Terroranschlags in Wien, es trotzdem tun, es trotzdem tun, es trotzdem tun.

Wolfgang Paterno, 17.-23.11.2020
Fadesse royal. Die Satzverbindung „Corona ist“ gegoogelt. Also nicht „recherchiert“, wie der Duden die Zweitbedeutung von „googeln“ umschreibt, sondern „im Internet gesucht“. Corona ist gegen Ende November 2020 laut der kalifornischen Datenkrake: „…nicht so gefährlich“ – „…ist Panikmache“ – „…ist überwunden. Ärzte stehen auf“ – „…ist man ohne Symptome ansteckend“ – „…ist mir egal“. Gelangweilt von der Langeweile.

Stephan Roiss, 18.11.2020
Ich mache Urlaub in Quarantänemark und bin begeistert. Es gibt hier nie schlechtes Wetter, es sei denn, man schaut beim Fenster raus.

Hannah Zufall, 19.11.2020
Ein Datum statt einer Überschrift. Das heißt meist nichts Gutes bei mir. Ich schreibe nur Tagebuch, wenn es mir besonders schlecht geht. Als letzte Ausfahrt biete ich mir meine eigene Sprache an, um übergroßes Chaos zu sortieren. Und nun ein Corona-Tagebuch führen? Schreibe ich so nicht die eigene Krise herbei, falls sie nicht eh schon da ist? Wäre das nicht der performative Akt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung? Mich erwischt dieser zweite Lockdown, während ich getrennt von Heimatstadt, vertrauten Menschen und routinierten Abläufen bin. Schreibstipendien bedeuten meist Einsamkeit, wenn auch eine frei gewählte. Der Lockdown aber legt sich wie eine zweite Watteschicht über meinen frisch bezogenen Alltag in der Fremde. Diese zweite Schicht zwischen mir und der Außenwelt lädt dazu ein, sich übermäßig mit sich selbst zu beschäftigen. Ich fürchte nur, ich möchte gar nicht so viel Zeit mit mir verbringen.

Egon Christian Leitner, 19.11.2020
Meine Frau ärgert sich über den Virologen, der sagt, die Bevölkerung sei dumm, weil die sich nach dem Lockdown in den Weihnachtseinkaufsrummel stürzen wird. Das solle er den Politikern & Wirtschaftsleuten sagen! & mich ärgert der dumme Witz jetzt grad, dass Österreich über 9 Millionen Virologen verfüge. Denn die 9 Millionen ÖsterreicherInnen wissen m. E. tatsächlich selber, was sie jetzt brauchen.

Birgit Pölzl, 19.11.2020
Traum. Ich bewege mich durch eine Stadt, fast schwebend. Ein Mann bedeutet mir, in einen ziegelgemauerten Gang zu treten, ich habe ein unangenehmes Gefühl. Da fliegt jemand pfeilschnell in den Gang zum Zeichen, dass er sicher ist. Ich folge, der Gang ist dunkel, leicht fallend und lang, bis ich an eine Biegung gelange und der Gang sich zu einem Raum weitet, der nach vorne hin offen ist, nur durch Glas von einem Park getrennt. An Tischen sitzen Menschen vor Gläsern und unterhalten sich angeregt. Ich will mich setzen, will mir Wein bestellen, will an der allgemeinen Gehobenheit teilhaben. Ich müsse weiter, bedeutet mir der Mann. Bin ich geblieben? Bin ich dem Mann gefolgt? Die Frage beschäftigt mich über den Tag.

Stephan Roiss, 20.11.2020
Erster Tag in Freiheit. Für mich und DREI endet die Quarantäne. EINS wurde erneut getestet und ist immer noch positiv. Ich hole Brot vom Bäcker. Ich hole Brot vom Bäcker. Ich hole Brot vom Bäcker. Ich kann es kaum fassen.

Barbara Rieger, 20.11.2020
Wieder Lust. Auf alles. Hinauszugehen z.B.

Günter Eichberger, 20.11.2020
Aus meinem Ofenrohr kommt Gelächter. Aus meiner Wasserleitung kommen Regierungsverlautbarungen. Aus meinem dreidimensionalen Drucker kommen Organe, die ich alle einmal benötigen werde.

Gabriele Kögl, 20.11.2020
Endlich eine gute Nachricht! Der Impfstoff soll noch im Dezember kommen. Ich merke schon, wie er wirkt.

Heinrich Steinfest, 21.11.2020
Ich muß jetzt oft an das Leben auf einsamen Inseln denken, oder etwas in der Art einer „einsamen Insel“, was sich ja weniger darauf bezieht, die Insel sei einsam, sondern die eine Person, die auf diese einsame Insel geraten ist: der Schiffbrüchige. Robinson Crusoe natürlich als der berühmteste. Da gibt es aber auch immer diese Frage, was man denn auf eine einsame Insel mitnehmen würde, welches Buch oder welche drei Bücher oder drei Filme. Merkwürdigerweise aber nie die Frage, welche drei Menschen. Aber stimmt, dann wäre es ja nicht einsam.

Hannah Zufall, 21.11.2020
Ich vermisse die Cafés. Diese Freiheit, den eigenen, aber engen Raum zu verlassen, in dem ich schlafe, esse, schreibe. Alles in einem Zimmer, alles besetzt mit mir. Mir fehlt das Stimmengeschwirr im Kaffeehaus, das satte Klappern von Tassen, der Geruch von angebranntem Kaffeepulver, die unpersönliche Herzlichkeit des Personals, die obszönen Handgesten der Barista, wenn sie an der Milchdrüse mit dem Lappen entlangfährt. Die obskure Mimik der anderen. Sehen und gesehen werden. Zu wissen, es gibt mich noch in den Blicken der Menschen. Es macht einen Unterschied, den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen und zu wissen, dass man nicht mehr ausweichen kann in den öffentlichen Raum.

Egon Christian Leitner, 21.11.2020
Der Weltpriester offen, hilfsbereit, Fels in der Brandung; seine Worte Wohltat, seine Handlungen umsichtig, gewissenhaft. Lässt niemanden der ihm Anvertrauten verrecken. Sagt heute, Jesus sei nicht nervös gewesen. & dass man nicht nach Schuldigen suchen soll in der jetzigen Situation, sondern zusammenhalten & das Beste aus allem machen. Damit macht er mich aber wirklich wahr nervös.

Verena Stauffer, 21.11.2020
Ich sitze an meinem Tisch und arbeite. Außer einem Kaffee habe ich noch nichts zu mir genommen. Es läutet wieder an der Tür, seit Tagen läutet es, ich bekomme Päckchen über Päckchen, nur die Matratze ist nie dabei, auch das Möbelhaus hat sich nicht mehr gemeldet, obwohl mir bereits zwei Matratzen verrechnet und das Geld von meinem Konto abgebucht wurde. Um ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht mehr, was ich alles wo bestellt habe. Ich bin durcheinander. Man bestellt und bestellt, Minuten später hat man vergessen, überhaupt etwas bestellt zu haben, kaum liest man in einem Buch, schon ist das Alltägliche vergessen. Wenn einen dann ein Paket erreicht, man es öffnet, das reine Staunen! Schrauben? Ach ja! Nägel? Ja, genau! Ein Gummihammer? Und was für einer! Und ja, hier ist sie, meine Wasserwaage und hier ist sie auch schon, meine Schlagbohrmaschine. Wieder läutet es. Ich öffne die Tür nur sehr langsam, denke, es müsse nun endlich ein Ende haben mit dem Bestellen. Ausbestellt, sage ich zu mir, was jetzt da ist, ist da, auf den Rest wird verzichtet. Ich ziehe die Klinke nach unten und vor mir steht ein völlig fremder Mann mit einem Paket, das in etwa die Größe meiner Matratze hat.

Wolfgang Paterno, 17.-23.11.2020
Wir tun seit Monaten nichts anderes, und wir werden es auch morgen und übermorgen tun: Zeit absitzen, ZOOMEN in partieller Ungeduschtheit, WLAN-Halte-durch-Stoßgebete, Zeitungslektüren und Radiomeldungen über schwere Verläufe und Totenzahlen, dazwischen Supermarkteinkäufe und immer wieder das alte Lied der Sehnsucht nach früher summend.

Egon Christian Leitner, 22.11.2020
Grad wieder sagt wer, es sei jetzt da hier zum Fürchten wie im Krieg. Mir fällt der Kriegsberichterstatter ein, der immer sagt, man müsse von den Opfern berichten & präventiv & was man tun, helfen kann. Rechtzeitig eben alles!

Stephan Roiss, 22.11.2020
Endlich wieder das, worüber ich nicht schreiben kann.

Heinrich Steinfest, 22.11.2020
Mir fällt auf, daß jetzt so viele Leute über das Essen sprechen. Und über das Kochen und das Genießen und über das Sich-etwas-Gönnen. Dabei ist es ja nicht so, daß uns demnächst droht, zu verhungern. Aber es besteht wohl ein verstärktes Bewußtsein für die Vergänglichkeit der Dinge. Darum wiederum das Ziel der Bewahrung, und sei’s für einen Moment des Genusses. Was ja auch ein wesentlicher Grund dafür ist, daß Kunst entsteht. Und welche Kunst wäre demokratischer und universeller und rascher wirkend, als die, irgendein Stück geraubter Natur in stark verwandelter Form auf einen Teller zu zaubern?

Lydia Mischkulnig, 23.11.2020
Louise Glück antwortete auf die Frage, wie es sich anfühle Nobelpreisträgerin zu sein, mit Lakonie: It’s new! Sie setzte dem Gespräch einen Schlusspunkt, weil sie einen Umbruch in ihrem Leben erkannt und bezeichnet hatte. Das Gespräch war zu Ende, weil die Irreversibilität des neuen Lebenszustandes der Nobelpreisträgerin das Schweigen über alles Bisherige verhängte.  Man könnte sich diese Situation auserzählt vorstellen, genau den Moment, wo das Schreiben belohnt wird und nun nie wieder so sein wird wie zuvor.

Günter Eichberger, 23.11.2020
Ich sitze in verschiedenen Lebensaltern da. Als Kind, das alles bestaunt, was vorgeht und nichts versteht, als Jüngling, der alles versteht, aber nichts wahrnimmt, als Alter, den alles unberührt lässt und der nichts versteht. Ich bin immer mit mir zu viert, wenn ich richtig zähle. So fehlt es mir nicht an Ansprache.

Lydia Mischkulnig, 23.11.2020
Es war nicht schlecht. Abends aber befiel mich der Kitschverdacht. Ich ging mit einer Wappnung, Konrad Bayers sechstem Sinn, zu Bett. Thomas schlief schon. K. träumte mir. Er hatte ein ganz anderes Gesicht. Er sah aus wie Friedmann. Wieso Friedmann? Hab ich Jahre nicht gesehen und nie an ihn gedacht. Sein Gesicht trat aus dem Dunkel und wurde richtig plastisch, diabolisch, er hielt eine Lampe unter sein Kinn. Der Schein fiel auf die Lippen und sie bewegten sich langsam und deutlich, ein rot gefärbter Mund wie in der Rocky Horror Picture Show. Er sprach Englisch und er sagte zu mir: THE WORD IS FLAT. Ich war froh, ihn verstanden zu haben.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept und Auswahl Kurzversion: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146