Früher, sagt man, stiegen die Menschen dem Mond hinterher in dunklen Nächten, Lunatiker, planetensüchtig, fiebrig und außerirdisch. Der Mond, er weckte sie aus einem Schlaf, zu tief, um zu träumen, öffnete ihnen die Augen und zog ihnen an den Wimpern die Lider hoch, bis ein starrer Blick hervorkam, der in die Leere sah. Er ließ sie aufstehen aus den warmen Betten und führte sie an unsichtbaren Fäden wie Mondpuppen durch die nächtlichen Häuser, auf abwegigen Umlaufbahnen, die Teppichmuster der Korridore entlang. Sie öffneten Türen und standen in Schränken, auf sein Geheiß. Ganze Familien marschierten in weißen Nachthemden durch Gärten und leuchteten einander mit ihren Schlafgewändern den Weg, Väter, Mütter und Kinder, denn die Mondsucht war erblich. Sie gingen mit sicherem Tritt, stießen gegen Mauerkanten und Schaukelpferde, Obstbäume und Zaunpfähle, stürzten die Treppen und Straßen hinunter, und kehrten an der Hand der aufgeschreckten Nachbarn in die Betten zurück. Dann schliefen sie, als wäre nichts geschehen, und kamen morgens zu sich, mit Kratzern und blauen Flecken, aber ohne Erinnerung.
Nicht alle konnten vergessen. Manch ein Schlaftrunkener meinte Gespenster zu sehen, wenn er nachts, geweckt von den Schritten der Wandelnden, am Fenster stand, und jene, die sich fürchteten, griffen zum Gewehr und schossen auf die weißen Gestalten im Mondschein, dass man manchmal mit dem ersten Licht auch einen Toten im Schlafanzug am Wegesrand fand.
Valerie Fritsch, Schriftstellerin, geb. 1989 in Graz. Studium an der Akademie für angewandte Photographie, Mitglied der Grazer Literaturgruppe „plattform“. Zuletzt erschien der Roman „Winters Garten“ (Suhrkamp, 2015).