Hochhaus, Hilmgasse 15 © Valerie Fritsch
Hochhaus, Hilmgasse 15 © Valerie Fritsch

Valerie Fritsch: Hilmgassenland

in Fünfzehn Jahre Literaturhaus Graz

Das Hochhaus in der Hilmgasse ist das Haus, in dem ich einmal aufgewachsen bin und jenes, das ich heute sehe, wenn ich aus dem Fenster meines Wohnzimmers schaue. Eine Straße, eine Sackgasse und zweihundertsechs Meter Luftlinie liegen zwischen dem Ort, an dem ich Kind war, und den Zimmern von so viel später. Es war mir eine riesenhafte Welt, ein Maximundus, stand man in der kurzgemähten Wiese vor dem Haus und legte den Kopf in den Nacken, schwindelte es einen, weil man kaum sein Ende sah, so hoch schien es. Wir Kinder stürmten im Spiel über die zweiläufigen Stiegen empor und kamen doch nie im obersten Geschoß an, weil uns die Beine zu müde wurden. Wer nicht mehr konnte, fuhr mit dem Lift hinauf und starrte durch das Treppenauge auf die über die Stufen Nachkommenden hinunter. Die Dinge, die man auf Zehenspitzen über die Brüstung der Dachterrasse fallen ließ, flogen Ewigkeiten.  Schillingstücke und Kaugummi stürzten nebeneinander in die Tiefe, während es die Papierflieger bis auf die Nachbargrundstücke vertrug oder sie sich in den von oben so weitentfernt wirkenden Baumkronen verfingen, dass die Bewohner der unteren Stockwerke oft neben den Vögeln kleine weiße Flugzeuge in den Ästen sitzen sahen. Andere hatten eine Handvoll Nachbarn, wir wohnten zu hundert in einem einzigen Gebäude. Vier Kinder und viele große, fremde Menschen, die sich zu mir herunterbückten, um mir in die Augen zu schauen, oder hoch über meinem Kopf grüßten, begegnete man einander in den Gängen. Am Parkplatz fuhren wir Fahrrad, zwängten uns mit zusammengepressten Lippen zwischen den Autos hindurch und umrundeten das Haus nah am Gemäuer. Was spielten wir in den statischen Formen dieser Erwachsenenwelt. Überall fielen wir aus dem Rahmen mit unserer Kleinheit, und hatten unsere Freude an der Unverhältnismäßigkeit der Proportionen einer Welt, die nicht für einen gemacht war, und einem gerade deswegen umso mehr gehörte. Inmitten des Hinterhofs gab es eine Thujenhecke, die eine winzige Treppe mit drei Stufen zugewachsen hatte. So überwuchert war sie, dass man unter das Gestrüpp kriechen musste, um sie auf oder ab gehen zu können, mit eingezogenem Kopf und Armen rot von den giftigen, schuppigen Blättern. Auf den Tischtennistischen aus Beton spielten wir nicht, aber balancierten auf den verblassenden Linien der Platte entlang oder saßen unter ihnen wie unter einem Dach, wenn die Erwachsenen riefen. Wir schaukelten so hoch, dass die alten Damen an den Fenstern hinter den Vorhängen fürchteten, wir flögen bis ins dunkle All hinein und könnten dann im Weltraum treiben, kleine Buben und Mädchen zwischen Satelliten, Sonden und Sternen. Über den Zaun kletterten wir dann auf die teerigen Dächer der Nachbargaragen und winkten ab. Zur Jausenzeit donnerten nachmittags aus dem dreizehnten Stock kleine Pakete von Süßigkeiten und Apfelsaftpackungen in den Hof, die meine fürsorgliche Großmutter von ihrem Balkon warf. So konnte es vorkommen, dass mitten in einem Fußballspiel eine Packung Kekse im Staubfeld einschlug, erst alle in Deckung gingen und dann gemeinschaftlich im Kreis sitzend halb zerbrochene Schnitten aßen. Es war der süße Hagel meiner Kindheit. Oft stehe ich vor der großen Eingangstüre und klingle, denn es hat nie aufgehört mein Zuhause zu sein. Meine Großeltern leben immer noch in dieser Wohnung im dreizehnten Stock und das Licht oder die Dunkelheit in ihren Fenstern ist das erste und das letzte, dem ich einen Blick zuwerfe am Tag. Wir behalten einander im Auge.

Beitrag aus: Klaus Kastberger (Hrg): Graz. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt (Edition Kleine Zeitung 2018)
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