Andrea Stift-Laube: 300 Stufen oder mehr

Andrea Stift-Laube: 300 Stufen oder mehr

in Fünfzehn Jahre Literaturhaus Graz

300 Stufen hat die Jakobsleiter. Um zur Jakobsleiter zu gelangen, muss man durch die Grabenstraße. Die Jakobsleiter ist ein geomantischer Kraftort, ein Ort, an dem man inspiriert, geheilt und beglückt wird. Bevor wir den Anstieg ins reine Grün beginnen, inhalieren wir die Feinstaubration eines ganzen Monats. Die Jakobsleiter soll wieder gut machen, was der Weg zu ihr beschädigt.

50

Blutdruck gut, Atem flach. Wir spucken kleine Bröckerl in die Landschaft – Reifenabrieb, Stickstoffdioxid – doch der Körper gewöhnt sich schnell an die frische Luft. Die frische Luft stammt von großen Bäumen, eine Korrelation, die nicht jedem politisch Verantwortlichen dieser Stadt ursächlich klar ist. Ab Stufe 79 lässt das Rauschen des Verkehrs nach, der Gesang von Amsel, Meise und Spatz; das Tirilieren uns unbekannter Vogelarten drängt sanft in unser Bewusstsein. Der Sohn und ich, wir sind hier auf der Suche nach Harmonie.

100

Müll liegt herum, es riecht nach Lulu. Die Zentrumsferne dieses Ortes dürfte auch blasenschwache Junghooligans anlocken. Die Stufen sind zusehends ausgetreten und die ersten Schweißtropfen bahnen sich ihren Weg durch unsere Oberhaut.

200

Mutter und Sohn schnaufen voller Eintracht. So einträchtig sind wir sonst nie. Schon jetzt hat die Jakobsleiter heilende Wirkung bewiesen!

250

Irgendwo haben wir uns verzählt. 300 Stufen soll die Leiter haben, ich bin schon bei 360 und spüre meine Knie. Ich will meine Schwäche nicht eingestehen, stiere stur auf die steinigen Stufen, gehe schwitzend weiter und wische mir die Bremsen vom Gesicht. Auch der Sohn tut so, als wäre das nur ein Spaziergang um den Block. Unser Mantra lautet Gipfelsieg. Geomantischer Kraftort my ass.

300

Irgendwann kommen wir oben an. Schön ist es hier. So viele Bankerl im Nichts, die leise vor sich hin morschen. Ein bisschen unheimlich eigentlich. Wo genau sind wir überhaupt? Wir finden keinen Hinweis, geschweige denn Markierungen. Da drüben rechts, behaupte ich forsch, müsste es doch zum Rosenhain gehen. Ein wenig ärgere ich mich über meine sommerlichen, wenig trittfesten Sandälchen.

Viele Schritte später
Zuerst ging es bergab, dann links hinüber, schließlich über einen großen Baumstamm. Wir haben die Orientierung verloren und Gelsen in den Ohren. Die Sandälchen hat mir das Unterholz schon längst von den Füßen gerissen und Wasser haben wir auch keines mit. Irgendwann geht es nur mehr bergab, behauptet der Sohn, und meint damit, dass er da zurück hinauf sicher nicht mehr geht. Es kommt zu ersten Unstimmigkeiten in unserer neugewonnenen Harmonie, als ein Großgrundstück samt Villa sich uns in den Weg stellt. Ein verlassener Rasenmäher täuscht Zutraulichkeit vor. Kein Zaun. Ich trau mich nicht, doch der Sohn marschiert mit brennesselpustelübersäten Waden voran. Vor uns eine Mauer, die zu hoch ist, um darüber zu klettern. Gefangen auf bourgeoisem Privatbesitz. Gleich wird ein riesenhafter Hund auf uns zulaufen, um uns zu zerfleischen. Der einzige Ausweg führt zurück in den Wald, Brennnessel und Brombeeren sind uns inzwischen egal, es geht ums nackte Überleben. Was als kleiner sonntäglicher Spaziergang begonnen hat, endet als Survivaltraining. Ich weiß zwar, dass man aus Birkenrinde Spaghetti machen kann, aber Birken gibt es hier keine.

Da! Da vorne
Die Jakobsleiter hat nach oben ungefähr 360 Stufen und nach unten gefühlte 800, wenn man sie nach einem Abenteuerparcours durch vermeintliche Grazer Wildnis beschreitet. Ich empfehle für ihre Besteigung einen ausreichenden Wasservorrat, feste Schuhe und einen Kompass. Dann zeigt sie sich von ihrer schönsten geomantischen Kraftortseite, versprochen. Der Sohn und ich haben uns inzwischen allerdings wieder zerstritten.

Beitrag aus: Klaus Kastberger (Hrg): Graz. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt (Edition Kleine Zeitung 2018)
>> Kleine Zeitung Shop