Blatt aus einer frühen Typoskriptfassung von Klaus Dermutz: Die Reisen des Gerhard Roth. Erkundungen eines literarischen Kontinents mit hs. Korr. v. Gerhard Roth, 1 Bl. masch., S. 174, undat. [2017] aus dem Vorlass von Gerhard Roth am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung sowie vier Fotoaufnahmen des „Ospedale al Mare“-Komplexes, © Gerhard Roth, und die Cover-Abbildung der Buchfassung, Coverfoto © Klaus Dermutz.
Verlassene, dem Verfall preisgegebene Orte haben Gerhard Roth immer schon inspiriert. Gebäude und Örtlichkeiten, die, der alltäglichen Nutzung entzogen, eine Art Frei-Raum für die Imagination bilden, zugleich Zeitkapseln, die scheinbar aus der Geschichte gefallen gerade dadurch historisch interpretierbar werden: ob es sich um das „alte Haus“ im Roman Der Stille Ozean (1980) handelt, das von seinen Bewohnern zugunsten eines komfortableren, neu errichteten verlassen wurde und nun langsam wieder in die Natur übergeht, oder um den „vergessenen“ jüdischen Friedhof von Frauenkirchen im Roman Der See (1995). Auch das 1958 teilweise abgebrannte „Serail“, die russische Skite Agios Andreas auf dem Athos im Roman Der Berg (2000) muss hier erwähnt werden, die – „im Lauf der Zeit zu einer Ruine geworden“ – als Schauplatz für das zentrale Kapitel über die Auslöschung des Gedächtnisses und die Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung, über halbzerstörte Ikonen, verbrannte Bücher und die Fotografie als Mittel der Realitätsfixierung dient. Aufgesucht wird auch der letzte Aufenthaltsort des letzten österreichischen Kaisers Karl I, die „Quinta do Monte“ oberhalb von Funchal auf Madeira, welche Gerhard Roth 2002 in ihrem halbverfallenen Zustand mit den fehlenden Böden, heruntergefallenen Stuckaturen, den Krakelüren und bruchstückhaften Goldornamenten noch vor der Renovierung eindrucksvoll fotografiert und dann im Roman Das Labyrinth (2005) aus der Differenz zum ursprünglichen – für einen Kaiser freilich schäbigen – Luxus von 1922 beschrieben hat. Jene „Quinta“, die nach Erscheinen des Romans doch noch renoviert und in ihren Außenbereichen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, 2016 aber den Waldbränden auf Madeira zum Opfer fällt und von der es aus Sicht des Protagonisten im Text heißt: „,In diesem verfallenen Totenhaus sind die letzten Reste der Donaumonarchie verschwunden und haben Spuren ihres Untergangs hinterlassen, die ich nicht deuten kann.‘ Vielleicht sind alle Bilder und Gedanken der Fieberträume Karls in diesen zerrissenen Flecken dargestellt, das Wahnreich, in dem er zu herrschen glaubte.“
Jüngstes Beispiel extremer Verlassenheit sind die im Fotoband Spuren (2017) abgebildeten Fotografien mit Relikten eines Menschenlebens – Kleidern, Müll und dem fragmentierten Plastikkörper einer Sexpuppe – in einem ausrangierten Waggon am Verschubbahnhof im südsteirischen Wies, deren Geschichte Roth in seinen Texten noch nicht ausgeführt hat, aber als Erzählung über einen Obdachlosen imaginiert, „der in einem alten, abgestellten und vergessenen Eisenbahnwaggon Unterschlupf gefunden und in einer völlig anderen Welt gelebt hat als die Menschen in seiner Umgebung. Eine Geschichte der Einsamkeit und der Gleichgültigkeit, mit der sich alles ereignet“, wie der Autor im Begleitinterview zum Fotoband anmerkt.
Bei dem im Buch von Klaus Dermutz erwähnten, in der Typoskriptfassung zitierten „Ospedale al Mare“ auf dem Lido in Venedig, das Roth immer wieder aufgesucht und fotografiert hat, scheint es sich um einen ähnlichen Möglichkeitsort einer anderen Zeitrechnung zu handeln. Ursprünglich bereits 1870 mit einem einzigen Gebäude als Heilanstalt für die Armen errichtet, wurde im Zuge der touristischen Erschließung des Lido durch die bekannten Hotelanlagen (wie etwa das berühmte Grand Hotel des Bains) auch die ursprüngliche Fürsorgeanstalt zum medizinischen Großkomplex ausgebaut und 1933 in Anwesenheit Mussolinis unter dem Namen „Ospedale al Mare“ eröffnet. Dem gigantischen Aufschwung samt Bau eines repräsentativen, freskengeschmückten Theaters folgte ab den 1970er Jahren der langsame Abstieg. 2003 wird das „Ospedale“ geschlossen, wobei Patientenakten, Mobiliar und alles Nicht-Mehr-Benötigte einfach zurückgelassen wurde. Seit 2002 gab es mehrere Besetzungen – zunächst von Anti-Schließungs-Aktivisten, ab 2011 durch eine Bürger- und KünstlerInneninitiative, die das „Teatro Marinoni“ für Kulturveranstaltungen nützen will.
In einer jüngeren Nachlieferung aus dem Vorlass von Gerhard Roth findet sich – bezeichnenderweise unter dem Titel „Fictional Cities“ – ein umfangreicher Internetausdruck mit Fotos aus verschiedenen Phasen des „Ospedale al Mare“: http://www.fictionalcities.co.uk/ospedale.htm. Die im abgebildeten Typoskript erwähnten „Obdachlosen“ werden allerdings weder hier, noch sonst im Internet erwähnt, wohl aber heißt es einmal: „Hoffentlich können diese Künstler etwas Leben in die alten Mauern zurückbringen – die Schule bauen, einen Platz für Flüchtlinge schaffen…“
Gerhard Roth schreibt an einer Venedig-Trilogie. Der erste Band Die Irrfahrt des Michael Aldrian (2017) ist erschienen, das zweite Buch mit dem Arbeitstitel Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier ist im Typoskript abgeschlossen und wird gerade überarbeitet. Der faschistische Gebäudekomplex am Meer mit seiner Aura des Verfalls spielt darin bis in die minutiöse Beschreibung einzelner im oben angeführten Link einsehbarer Fotos hinein eine Rolle, aber auch die urbane Neu-Besetzung der Brache, die in der Realität von „OaMtopia“ durch eine grundlegend andere Kultur der Sprayer, Graffiti- und Überlebenskünstler durchaus lebensfroh im Sinne der Selbstverwaltungsinitiativen der 1970er Jahre besiedelt wird, wohingegen Roth – deutlich resignativer, was die Interpretation des utopischen Gehalts anbelangt – vor allem die Gestrandeten, die „Ausgesetzten und Ausgelieferten“, wie es bei Klaus Dermutz heißt, an diesem Ort imaginiert. „OaMtopia“ – „das könnte aber auch ironisch gemeint sein, sagt Roth“, ergänzt der Autor in seiner Korrekturfassung.
Daniela Bartens
Am 8.3.2018 präsentiert Klaus Dermutz sein Buch Die Reisen des Gerhard Roth. Erkundungen eines literarischen Kontinents (S. Fischer 2017) anlässlich der Finissage der Fotoausstellung Gerhard Roth: Spuren. Aus den Fotografien 2007-2017 im Grazer Literaturhaus.