Günter Eichberger: SCHMUTZIGE MNEMOSYNE oder MEMORIES ARE MADE OF THIS

in Dossier: Wolfgang Bauer

Ich bin die Metapher von allem

(Wolfgang Bauer, Schmutziges Wasser)

 

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SCHMUTZIGE MNEMOSYNE

für Bauer & Hölderlin

 

Mag sein, dass auch dies mir
Mnemosyne souffliert
Ein Zeichen bin ich
Ihrer deutbaren Welt
Ein Käfig voller Bilder
Als Abbild ihrer Bildhaftigkeit

Mach keine Geschichten
Keine verblassten Überschreibungen
Betäubter Sprachen
Die nur der Hirntote spricht

Mal lieber gar keine Bilder
Fall aus dem Rahmen
Jeden Vergleichs

Tonlos haben
wir zu singen:
Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre
Im Schmutz seiner Unvergesslichkeit

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Kennengelernt habe ich Wolfgang Bauer 1979 im Grazer Theatercafé. Seine Stücke hatte ich gelesen oder im Fernsehen gesehen, die öffentliche Figur, den sogenannten Skandalautor, kannte ich aus den Medien. Angerufen hatte ich ihn auch schon einmal, um mit ihm ernsthaft über Sprache als solche zu sprechen. Das sei ihm jetzt zu komplex, sagte er gelassen, er mache sich gerade Spaghetti. Damals hatte ich den Sammelband Die Sumpftänzer schon gelesen und in Bauer einen Absurden entdeckt, also einen Verwandten von mir. Und da war er jetzt, saß inmitten einer Runde im Theatercafé, augenscheinlich stark betrunken, als wäre er in den Rahmen des  Bildes eingespannt, das sich eine illiterate Mehrheit von ihm machte, und ich fragte ihn nach dem Stück Memory Hotel, das er seit Jahren ankündigte. Also, was ist denn nun damit, fragte ich, wann wird’s denn fertig? Als Antwort begann er mit mir zu tanzen. „Tanzend über dem Sumpf / Sprachen sie über Vernunft.“ Der Sumpf, wenn man so will, war das unangenehm plüschige Nachtcafé, traditionell letzte Station der heimischen Spätbohème vor dem endgültigen Versumpfen, der Sumpf waren aber auch die österreichischen Verhältnisse, der Reformeifer der gipfelstürmerischen Siebziger schon abgeklungen, alles gezeichnet von den Mühen der Ebene vor der langsamen Talfahrt.

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Im Stück Memory Hotel werden Erinnerungen der Hauptfigur dramatisiert. Die Bühne zeigt also sein Bewusstsein. Situationen werden in mehreren Versionen durchgespielt, die Dialoge sind assoziativ wie eine Jazz-Improvisation, beinahe jeder der meist unvollständigen, abbrechenden Sätze wird variiert. Ein Gedankenspiel im Doppelsinn: Am Schluss, einer szenischen Hypothese, wird auch noch der Tod durch den Tod aufgehoben.

Do you, Mr. Jones?

Ballade vom unsichtbaren Mann im Erinnerungsspiegel
(Im Chor mit Dylan/Jagger/Richards u.v.a zu singen)

Man weiß nicht recht, was es ist
Es geschieht etwas, nur was eigentlich?
Wenn die Erinnerung schläft oder träumt
Wo bist du dann eingelagert?
Wenn die Erinnerung dann erwacht
Willst du vielleicht zu den Haien

Nach sieben Nachtwachen mit ihr
Der beflaumten Haselnuss
Die dich mit scharfem Zahn punktiert
Bis dir das Rückenmark gefriert
Wollen alle nur deine Erinnerungen
Aber die sind längst im Meer versunken

Und du gerade noch tot
Schon wieder auf der Leiter
Eine Riesenstufe weiter
Jetzt bist du über Fragen hinaus
Und deine Erinnerung
Baut andere Häuser aus

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Nach mehrjähriger Schreibkrise war Bauers Lage bedrohlich: Er hatte Steuerschulden in Millionenhöhe – Resultat einer Fehleinschätzung seiner Einkünfte durch die zuständige Behörde und seiner Unlust, Steuererklärungen abzugeben –, bei maßgeblichen Teilen der Kritik war er als ausgeschrieben abgeschrieben und der stadtbekannt problematischen Beziehung zu seiner jungen Freundin stand der Schlussakt bevor. Nach der alles in allem gelungenen Uraufführung von Memory Hotel trat Bauer in Kuno Knöbls neuer Fernsehsendung Nachtfalter auf, direkt von den ausgedehnten Feierlichkeiten ins Studio geweht, und sprach offen von seiner Angst vor einem Flop und dass er das Theater im Grunde hasse. Auf Nachfragen beteuerte er, gar nicht wirklich da zu sein. Als Folge dieser vorgeblichen Nichtpräsenz wurde die geplante Sendereihe nach den üblichen Protesten entrüsteter Zuschauerinnen und Wegseher mit sofortiger Wirkung eingestellt. Rosa Pock beschrieb in der Ausstellung Memory XS im Grazer Stadtmuseum (2007) zutreffend Bauers Eigenart, Schwächen nicht zu verbergen, sondern öffentlich auszustellen.

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In seinen späteren Stücken kehrt ein Phantasma wieder, das ihn seit seinen Anfängen beschäftigte: Im Traum vom Diesseits ins Jenseits zu reisen und wieder retour. Als Träumender die Wirklichkeit zu beeinflussen bis zur totalen Machtergreifung. In seiner Literatur stille er sein Bedürfnis nach Macht, sagte er in einem Rundfunkinterview. Ein anarchistischer Ansatz ist das wohl nicht.

 

Wehlaut. Orphisch

 

Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
(Goethe)

Wie an dem Tag der dich
Der Welt verbandelt
Bist du nicht wirklich hier
Und dort nicht unverwandelt
Was hier, was dort?
Das Hirn kennt
Keinen andern Ort
Als nur sich selbst
Allein
(Drauf keinen Reim)

So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
(Goethe)

Trampelt das Finanzross in deine Bilder
Schnall dir dein Soll als Haben um
Wirf dich auf eine Marschtrompete
Und nichts wie im Triumph davon

Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
(Goethe)

Das Herz wird
So oft herausgerissen
Bis es bricht
Und’s keiner mehr
In Zahlung nimmt

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Nach dem langsam ausgebrüteten Memory Hotel explodierte Bauers aufgestaute Schaffenskraft geradezu: In rascher Folge und jeweils nur wenigen Wochen schrieb er Stücke, die alles in den Schatten stellten, was er – und nicht nur er – bislang ins Rampenlicht gezaubert hatte. Mit ansteckender Begeisterung las er mir nächtens aus den entstehenden oder schreibmaschinenwarmen Texten vor. Und es hätte nicht nur seine künstlerisch beste Zeit sein können, ja müssen, wenn, ja wenn Publikum, Kritik und das behäbige dramaturgische Personal auf seiner Höhe gewesen wären. In Gold hätte man ihn aufwiegen müssen oder die neuen Wunderwerke wenigstens eifrig nachspielen. Und so musste er, entgegen seiner früher bekundeten Schreibunlust, immer wieder ein neues Stück nachdonnern.
Moral oder Amoral zu verkünden, sehe er in keiner Weise als literarische Qualität an. Vor allem aber dürfe die „sogenannte Aussage eines Stückes“ nicht in einem Satz dahingesagt sein, „sonst könnte man ja gleich nur den einen Satz hinschreiben.“

KURZPOETIK, RASCH MONTIERT
Ernst Herbeck, featuring Wolfgang Bauer

Die Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet, und nicht vom korrupten Laufburschen „Literatur”.

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William Blake unterhielt sich mit seinen Geistern, Wolfi versuchte sie zu verscheuchen. Als ich einmal kurz bei Tisch eingenickt war, blickte ich hoch und sah Bauer mit einem Messer in der Hand, in Verteidigungshaltung gegenüber unsichtbaren Gegnern. Die Geister seien wieder da gewesen, sagte er, bei meinem Erwachen seien sie verschwunden. In mein Exemplar seines Gedichtbands Das Herz schrieb er: „Gute Geister für Eichi!“ Zu meiner Promotion schenkte er mir Sartres Tagebücher, in die er geschrieben hatte: „Jetzt hast Du 2 Gesichter / Den Doktor und den Dichter. Pflege beide!“ Eindringlich riet er mir zu einem bürgerlichen Beruf: „Siehst eh, wie’s mir geht…“ Aber man ist letztlich immer gut beraten, Ratschläge anderer auszuschlagen.

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(And the Märzwind cries mercy)

Mit Wolfi & Jimi

Wenn die Gedanken
Dann endlich einschlafen
In der Windstille der Baisse
Die Schecks in der Box
Gedeckt von ihren Hengsten
Prall bis zum Platzen
Von Währungsclowns träumen
Die ein Universum verspekulieren
Bis alles Plastikgeld die Meere staut

Wenn die leeren Börsen dann endlich
Für alle Zeiten ihre Höllenpforten schließen
Wenn die Menschen ihre Möglichkeitsform erlernen
Dann will ich endlich kein Bild mehr sein
Dann will ich, will ich

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Seinem laut Fritz Hochwälder „beneidenswert schlechten Ruf“ entsprach er bei Bedarf, seine Selbstdarstellung kam dann den Erwartungen der Zaungäste in seinem Grazer Reservat bereitwillig entgegen, regelmäßig wurde ihm seine Kleidung in Lokalen zu eng, aber vielleicht waren seine Entblößungen nur angewandte Zivilisationskritik – oder es war ihm einfach auch im Winter heiß. Den Rausch wollte er jedenfalls „als Objekt“ erleben und auch nicht daran erinnert werden. Zu toxischen Gedächtnislücken meinte er nur, das sei nicht schade: „Next time, next station.“

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Für Jörg Drews sind die bewusst schlechten Gedichte in Bauers Band Das stille Schilf genau die richtige Lyrik für das „Plastikzeitalter“. Und Ingeborg Bachmann hat in ihrem Gedicht Keine Delikatessen erklärt, warum sie keine Gedichte mehr schreiben wolle: „Soll ich / (…) / Aug und Ohr verköstigen / mit Worthappen erster Güte?“

(Jörg Drews frisst Schilf mit Ingeborg Bachmann)

Schilfrohr eine stille Delikatesse

Im Dunkel als Schlafgift einzunehmen

Wahlweise auch im Schein

fluoreszierender Mandelblüten

Aschfahl vor Glück

Bleibt guter Geschmack

Dir zurück

 

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Durch Franz Ringel kam Wolfgang Bauer auf den Verdacht: „Irgendwie schauen die Bilder ihren Malern ähnlich. (Nicht nur bei Selbstportraits!) Bei Dichtern ist häufig das Gegenteil der Fall.“ Eine von Bauers Figuren, der Schriftsteller Fred in Gespenster, sagt dazu: „(…) i bin ja selber für mich genauso literarisch…i bin ja auch net ‚echt’…“ Und wer wäre auch schon „echt“ für und identisch mit sich, außer ein in seinen Routinen erstarrter, durch unhinterfragte Selbstwahrnehmung verblendeter Ich-Gläubiger? „Echt“ im Sinn von authentisch sind wir in der Tat nicht, kaum machen wir den Mund auf, stilisieren wir uns schon.

Bauer wirkte, wenn er niedergeschlagen war, tatsächlich wie jemand, der „schmutziges Wasser“ vor sich herschiebt. Und im Überschwang, als könnte er darauf gehen wie über einen Teppich. Auch Wolfgang Bauer war nur für Momente und im günstigsten Fall beinahe deckungsgleich mit seinem Selbstentwurf. Als der unverstellt Echteste unter allen Unechten.