ferdinand schmalz: saustechen oder wie begreif ich mich selbst

ferdinand schmalz: saustechen oder wie begreif ich mich selbst

in Dossier: Ödön von Horváth

„jetzt hab ich es begriffen. also es hat mich ein einfall ergriffen.“ sagt er bei der uraufführung von „der herzerlfresser“ in leipzig, also sagt die figur namens gangsterer andi oder der schauspieler, also oder besser der schauspieler in der figur namens gangsterer. so genau kann ich das auch nicht mehr sagen. und macht eine geste. so eine geste. in etwa so eine geste macht er. greift nach sich. – nur wer greift hier nach wem? greift die figur hier nach dem körper des schauspielers – oder umgekehrt? oder ist es der einfall selbst, ist es die idee, die hier also quasi allegorisch nach dem schauspieler greift? und genau wie ich damals im publikum gesessen bin, sitzen sie jetzt ja vielleicht auch da, beobachten mich gerade und fragen sich, wer greift hier nach wem? und wird ja mir auch unterstellt, dass sich in mir eine figur darstellt. dass ich mich schon mal zu figurbetont gebe, weil ich mir selber einen namen zugelegt, der nicht der meine ist, obwohl ich ihn mir selber erfunden habe.
dabei haben doch figuren nichts mehr verloren im theater, das haben wir überwunden genauso wie handlung, konflikt und situation, das ist doch alles prädramatisch. also damals in den neunzigern, als auch schon mal versucht wurde die geschichte abzuschaffen, da haben wir auch die figuren abgeschafft. wir postboten einer postmoderne. aber so viel erstmal zur ausgangslage. doch nun zu ödön.

horvaths figuren leiden allesamt daran, dass sie sich selbst nicht begreifen können. doch was heißt das, dass eine figur sich nicht selbst begreifen kann?
die figur erscheint im drama meist durch ihr sprechen. also erst im akt des sprechens erscheint sie in ihrer gemachtheit. im gegensatz zu gewordenen personen im realen leben, auch wenn uns wie im heute, also in diesem jetzt, das wir das heute nennen, das real life schon viel gemachter erscheint als alle fiktive fiktion, also im gegensatz zu uns ständig werdenden fleischhaufen haftet den figuren im drama eine leiblose gemächselhaftigkeit an. sie sind ganz textkörper der sich erst einen wirtsleib suchen muss, so ein fleischmegaphon, durch das die figur, dieses quasi-subjekt, ihre texte sprechen kann. in horvaths dramen und im speziellen in geschichten aus dem wiener wald überbetonen die figuren eine leibfreundlichkeit um nicht zu sagen eine eingefleischte fleischeslust. schon auf der ersten seite des dramas heißt es: „meiner seel am liebsten tät ich sowas abstechen, und wenn es dann auch mit dem messer in der gurgel herumlaufen müsst, wie die gestrige sau, dann tät mich das freuen.“ spricht da nicht ein sehnsüchtiger fleischdurst aus dem entleibten textkörper der figur? als wäre der text seiner abstrakt-linear-schwarz-weißen schriftform müde geworden, und sehnt sich nach etwas lebendigerem als dem toten papier. der text leidet quasi an einem phantomschmerz, ihm haftet immer schon etwas amputiertes an. erst die interpretation auf der bühne, erst die umsetzung durch schauspieler/innenkörper könnte eine transplantation versprechen. die aufführung als eine kompletttransplantation, die in den text einen ganzen leib reinnäht. doch die narben bleiben sichtbar, die wunden zwischen text und sprecher wachsen nie ganz zusammen. der ort an dem dieser nie ganz zu schließende riss am offensichtlichsten zu tage tritt, der ort an dem wir dieser lücke begegnen, der faltigen ritze zwischen text und leib ist die geste. Dieses gelenkig artikulierte sprechen des körpers, das wortlose meinen des fleisches, das doch sofort von körper zu körper übertragen werden kann.
ulrike haß hat kürzlich in ihrem vortrag auf dem symposium zu jelineks 70. geburtstag in bezug auf jean-luc nancy’s „dialog über den dialog“ figuren als orte beschrieben. bei horvath wäre die figur ein ort im text, an dem auch noch fleischfetzen der vormals ortsansässigen hängen. hier ein stückerl moser, hier ein bissl qualtinger, da hat die dolores schmiedinger ein bissl körper hinterlassen. die großen volksschauspieler/innen haben oft ganze gliedmaßen hier im text zurückgelassen. wie ein unvorsichtiger chirurg, der sich als ganzes mit hineinnäht in den körper des patienten. und so muss jeder neue sich mit den verwesenden resten, der vormieter/innen abfinden, einen umgang mit den verwesenden resten der abwesenden finden.
horvaths text fordert die körper der spieler/innen jedoch nicht nur auf der inhaltlichen ebene heraus durch eine überbetonung des körperlichen im text. auch die darauf folgenden stille-pausen fordern die körper heraus. indem sich der text selbst immer wieder zurück nimmt, indem er leerstellen, lücken schafft, die durch die anwesenheit der körper gefüllt werden, rückt er ihn, den körper, ins zentrum seiner aufmerksamkeit. der text pausiert für die posen der possenreißer. lässt nischen, in denen die körper der darsteller/innen gefragt sind auf den text zu antworten. als würde der textkörper mit den körpern der schauspielerinnen tanzen. als würden sich die beiden ineinander drehen, drehen wie die tanzkörper auf einem volkstanzboden bis text und körper ineinander übergehen. bis wort und geste für einen flüchtigen augenblick ununterscheidbar werden.
es geht also um liebe.
„ich will gar nichts aus ihnen herausziehen. im gegenteil.“ liebe radikal gedacht ist ein eben solcher akt des verschmelzens, des sich vereinigens. aus zwei individuen wird eins, ein ununterscheidbar werden. liebe, also evolutionsgeschichtlich gesehen, hat sich ja auch mal ganz anders abgespielt. als wir noch alle einzeller waren. back in the golden days. und damit mein ich jetzt nicht die 70er. sondern als wir noch in irgendeiner prädramatischen, prähistorischen lagune herumgetümpelt sind, da haben wir noch geteilt, also uns geteilt, das alte eine stirbt um zwei neue zellen hervorzubringen und für einen kurzen moment, war da etwas. eine berührung. bevor man sich für immer getrennt hat. für einen kleinen moment war da eine kontinuität, eine ununterscheidbarkeit, ein bisschen ewigkeit bevor man sich trennte.
und heute, ein paar millionen jahre später ist es als sehnte sich in uns, in diesen zellverbänden, die wir unseren körper schimpfen, sehnte sich da etwas nach eben dieser art der vereinigung. eine schmerzhaft radikale liebe, eine grenzüberschreitung, die an ihren äußersten rändern der tod ist. der schauplatz der liebe sitzt zwischen geist und körper unweit der stelle an der sich das gestische abspielt. hier schneidet unser verstand messer scharf ins fleisch, hier schluckt ein körper den schönsten gedanken. „ich möchte dir mal die hirnschale herunter“ bei horvath ist liebe immer auch abgrundtiefe liebe. auch wenn sie ganz harmlos daherkommt, ist sie sich immer ihres tödlichtoten potenzials unbewusst, also weiß es mit einem wissen das sich selbst nicht kennt. das unbewusste liegt wie ein dritter körper unter den stücken von horvath. der textkörper und der schauspielerinnenkörper tanzen auf diesem dritten körper als wäre es ein tanzboden. nur wenn die sprachmusik pausiert, wenn die stille einen moment fordert, merken wir, dass der boden, auf dem hier getanzt wird, seltsam weich ist, dass wir die ganze zeit auf leichen tanzten. das unbewusste begreifen ist leider unschön.
und während ich das schreibe, flimmern die neuen rechten in ihren fein zusammengenähten kunstfiguren über die bildschirme der infotainmentkanäle. mit ihren auffälligen frisuren, aber ohne diesen bart, das hatten wir ja schon. nur dass sich hier die figuren nie in ihrer gemachtheit ausstellen, diese ideologischen gemächsel, zeigen die nähte zwischen körper und figur nicht. urständig gewachsen, dummdreist wie rene polleschs authentische kühe grinsen sie in die kamera, die fleischpuppen in diesem figurentheater, das wir heute die politik nennen. und so wie wir es in der politik mit immer groteskeren figuren zu tun haben, die sich anstellen den big dictator zu spielen, so wird sich auch das theater wieder verstärkt mit der figur beschäftigen, aber nicht in der klinisch glatten politproduktform, sondern wie in horvaths stücken mit brüchig porösen figuren, die sich selbst nicht begreifen in ihrer figürlichkeit. figuren, die sich ständig versuchen zu konfigurieren. deren fleischfetzen den textkörper nie ganz bedecken. die aber manchmal in einer flüchtig gesetzten geste eine gute figur machen.