Fiston Mwanza Mujila: Geschichten aus einer zeitgenössischen Straße

Fiston Mwanza Mujila: Geschichten aus einer zeitgenössischen Straße

in Dossier: Ödön von Horváth

Dieses Phänomen passiert jedem. Du bist gerade dabei, einen Kaffee zu trinken, du machst Sport oder schaust einen guten Film. Plötzlich wird dein Kopf drückend, du fühlst dich, wie ein großes Loch im Magen, der Körper wird langsam kalt, du versuchst, dein Bein zu bewegen, es blockiert, es verweigert dir jegliche Bewegung. Du versuchst zu sprechen, die Stimme wird heiser oder verblast in der Kehle und für ein paar Minuten oder Staubsekunden bricht alles in dir zusammen, du kannst nicht mehr nachdenken – einige behaupten, dass sie in diesen wenigen Sekunden das Gefühl haben, sich in einem Puppenkörper zu befinden – du bist wie in einem nicht vorhandenen Raum eingekeilt, vielleicht sogar an einem Nicht-Ort, du tummelst dich in diesem Raum, der dem Tod vorangeht, weil man zunächst ein erstes Mal platzt – der falschen Tod, wie man sagt – bevor man wirklich stirbt.

Wir fühlen dieses unklare Gefühl der fleischlichen Enteignung, jedesmal wenn wir uns auf die Straße „Glaube, Liebe, Hoffnung“ begeben oder auch wenn wir sie uns in Erinnerung rufen. Dies erklärt, warum die Menschen sich dieser Übung verweigern und Legenden, Annahmen und andere haltlose Gerüchte vorziehen. Aber niemand kann ohne diese lasterhafte Straße überleben. Es war die populärste und die geschäftigste, sowie auch die schmutzigste und verhassteste Straße. Wir verleumdeten sie, aber niemand war fähig, einen Tag zu verbringen, ohne seinen Fuß dorthin zu setzen. Was könnten wir in dieser von Armut und Arbeitslosigkeit geschlagenen Welt anderes unternehmen, als  unser Glück auf der verdammten Straße zu versuchen, obwohl wir selbst wissen, dass sie eine Architektur der zerquetschten Träume war:  Bordelle, Kneipen, Bäckereien, kurz gesagt, man fand dort alle Arten des Handels mit ihren Derivaten.

Der Name an sich selbst zermürbte uns, weil wir darin keinen Schimmer von Glaube, Hoffnung und oder Liebe fanden. Vielleicht hatte man sie in Eile so genannt (getauft?), weil es absolut notwendig war, ein Namen für sie zu finden – Die namenlosen Dinge sind nicht für die Ewigkeit gemacht.

„Glaube, Liebe, Hoffnung“ war keine Straße, sondern ein Boulevard, auf dem alle Arten von Gaunern (sie waren unermüdlich, auch am Sonntag berufstätig, unstillbar und nervös), Banditen (sie raubten alles, was sich bewegt), Scharlatanen (der Kerl spazierte mit einem großen Schild herum, auf dem geschrieben war, dass er 52 Krankheiten behandelt, einschließlich der Bilharziose, den Typhus, die Treulosigkeit, die Hunde-Tollwut), und Lebenslaufverkäufern (deine Vergangenheit schaut nicht gut aus, du suchst ihn auf, er bereitet für dich eine Vergangenheit zu; ab heute wirst du dich dies oder das nennen, du bist in Paris oder Köln geboren, dein Vater war ein großer Philosoph …) tätig waren.   Die Straße „Glaube, Liebe, Hoffnung“ war auch 148 Jahre des Bürgerkrieges, 27 Jahre der Prostitution, 58 Jahre des Lügens und 29 Jahren der Perversion; traumlose Menschen, todmüde und gottlos, warten verzweifelt auf die Revolution, eine Revolution, die im Keim erstickt…

Die Straße „Glaube, Liebe, Hoffnung“ war auch all diese Geschichten von nirgendwo, wie die Geschichte eines jungen Journalisten, der von einem Tag auf den anderen alles verließ, um sich selbst als Prophet der Nationen zu verkünden. Dann sah man ihn auf den Straßen, von oben nach unten und von unten nach oben spazieren, mit einem langen Stock prophezeiend, wie die Welt laut ihm in 500 Jahren werde. Er schwatzte davon, sich der Verfluchung zu widersetzen oder in seinen eigenen Worten, „gegen das Böse zu kämpfen“, und dann betete er oder bellte – je nachdem – gegen den Krieg, den Hunger, die Dummheit, die Umweltverschmutzung und die Verzweiflung, allesamt in weiß gekleidet…, oder aber wie die Geschichte eines außerehelichen Paares, der Mann ist verheiratet, die Frau ebenfalls, sie treffen sich jeden ersten Donnerstag des Monats in einem kleinen Hotel in der Straße „Glaube, Liebe, Hoffnung“ und einen Tag nach dem Geschlechtsakt, bleiben die zwei Körper aneinander geklebt, wie die Geschichte einer Frau, die sich entschieden hatte, alle Bücher der Welt in alte Schulhefte zu übertragen. Sie verbrachte ihre gesamten Tage damit, zu schreiben, schreiben, schreiben, und in ihrem großen Haus ohne Möbel war ein Berg von Schulheften zu sehen, auf dem sie schlief. Aus Mitleid spendeten Studenten dieser bezaubernden Dame ihre Hefte und des weiteren Stifte, wie die Geschichte eines jungen Mannes, der eines Morgens mit dem Kopf eines Nashorns aufwachte, wie die Geschichte von Elizabeth, eine junge Frau, die sich ins Krankenhaus begab, um ihre Leiche zu verkaufen. Es ist die Geschichte eines Mannes. Durch sein ständiges Bemühen ledig zu sein entscheidet er sich selbst zu heiraten. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes der eine Biermaschine erfindet. Dann kann er keine Zeit mehr für sich selbst haben, weil morgens bis abends alle Stadt bei ihm ausschifft und gratis saufen will. Es ist die Geschichte à la Ödön von Horváth: der Tag ihrer Ehe: eine Frau verliebt sich in einen anderen Mann, der halb verrückt, halb Idiot ist. Ein Blitzschlag par excellence. Sie beschließen zu fliehen, weit weg zu gehen von ihrer Stadt. Sie fangen mit la Dolce Vita an: Bier, Musik, Spielbank, Bier, Champagner, Rotwein, eine Spielbank, Musik, Alkohol … sie verknüpfen sie die Dolce Vita mit ihrem bürgerlichen Leben. Schließlich bekommt die Dame ein Kind. Und es beginnt die Flucht. Es regnet kein Geld mehr. Es ist die Geschichte von einem Mann, der beschlossen hat, die Sonne zu stoppen.

Es ist die Geschichte eines Kerls, der Geld ausspie (20€ Scheine). Es ist die Geschichte eines Menschen, der in Zürich stirbt und den man drei Tage später in einem Restaurant in Johannesburg sieht. Es ist die Geschichte einer Stadt, in der die Menschen mit den Händen in der Tasche und oft in der Hose umherlaufen. Laut dem Erzähler begann alles wie in einem Roman oder in einem Theaterstück. Ein junger Mann, der ein Geschäft ausrauben wollte, verspürte ein seltsames Gefühl in seiner Hose. Es stecke seine Hände hinein und bemerkte, dass sein Geschlecht verschwunden war. Er zog seine Hose hektisch aus, und tatsächlich war alles spurlos verschwunden. Drei Tage später spazierte die ganze Stadt mit den Händen in der Hose umher, um sicherzugehen, dass das Gerät noch an seinem Platz war.