Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 9 („Ein Knacken und fünf leise Töne.“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

Gabriele Kögl, 4.1.2021
Heute schreibe ich das erste Mal 2021. Ich dachte, ich würde es gerne schreiben, weil ich mir mit dem Einser die Magie einer neuen Zeitrechnung erwarte. So, als wäre Corona mit der neuen Jahreszahl erledigt, als hinke der Lockdown nur dem neuen Leben mit Impfung hinterher. Und dann die Nachrichten, dass die Öffnungen von Theatern, Konzerthäusern, Opern, Kinos und Literaturhäusern verschoben würden. Man darf sich nichts mehr erwarten, was man sich nicht ausschließlich selber erfüllen kann. Vielleicht sollte ich eine Lesung in der Kirche ansetzen. Als ausgebildete Religionslehrerin weiß ich, dass sogar bis zu drei Lesungen pro Messe möglich sind.

Hannah Zufall, 4.1.2021
Langsam sickert der Pandemiealltag doch in die literarischen Texte. Nicht nur in die, die zum Thema geschrieben werden, sondern auch in die anderen. Das sollte eigentlich nicht passieren, aber sei’s drum. Im Kinderstück taucht die Zoo(m)-Konferenz der Arten auf, die Protagonistin in einem Drama hat Beklemmungen, wenn ihr jemand zu nahekommt. Das könnte mir nicht passieren, denn in der sogenannten Realität sehe ich niemanden mehr. Bei uns in der Berliner Wohnung ziehen daher immer mehr Pflanzen ein. Ich flüchte mich in botanische Affären – Ausweitung der Kontaktzonen. Draußen wartet die Welt auf ihre Impfstoffe, drinnen nicken die Pflanzen im Takt gleichtöniger Tage.

Birgit Pölzl, 4.1.2021
Nadja Bernhard stimmt die Zuseherinnen mit verhalten besorgter Volte auf zwei schlechte Nachrichten zu Beginn ein: britische Virusmutation und Trumpscher Telefonterror. Schlechte Nachrichten folgen, nähergebracht durch Tarek Leitner; alles in allem keine guten Prognosen, Beklommenheit nun in Nadja Bernhards telegenem Lächeln Richtung Mayer-Bohusch, der noch eins draufsetzt, diese Prognosen sind eine Katastrophe; Tarek Leitner liest weitere schlechte Nachrichten, wann wird´s besser, betroffen-tapfere Färbung im gewohnten Zahnpasta-Strahlen, nun Richtung Dieter Bornemann; leider, düstere Aussichten auch von Dieter Bornemann, da haben wir´s: tiefe Besorgnis in Nadja Bernhards Wir-schaffen-das-Mimik. Nun greift Tarek Leitner ein und versucht die verstörenden Volten zurechtzulächeln, als dürften ZIB 1 Moderatorinnen schlechte Nachrichten auf keinen Fall ernst vermitteln.

Barbara Rieger, 4.1.2021
Ich will nicht über Corona schreiben und darüber, was es mit uns macht, will mir vormachen, es beträfe mich nicht, mir einreden, das wäre sowieso mein Plan gewesen. Ich will meine Bücher schreiben und meine Kinder großziehen lese ich bei Anne Tyler, … und ich hasse es, aus dem Haus zu gehen; ich kann mich gut verschanzen, lese ich und lobe mich selbst, weil ich immerhin noch nicht wahnsinnig geworden bin. Ich will außerdem nicht, dass die Moserei, der Gastro- und Kulturcontainer bei uns im Ort, zusperrt, aber Corona hat dem Besitzer den Rest gegeben. Ich will nach Wien fahren, frisch gezapftes Bier trinken und zu viele Zigaretten rauchen. Inzwischen will ich wieder laufen. Und arbeiten, arbeiten will ich auch.

Stephan Roiss, 5.1.2021
Tschaikowsky. Opus 23. Konzert für Klavier und Orchester. Nummer 1. B-Moll. Die Platte bleibt hängen. Ein Knacken und fünf leise Töne. Ein Knacken und fünf leise Töne. Ein Knacken und fünf leise Töne. Der Soundtrack der Gegenwart. „Tomorrow is our permanent address“ (E.E. Cummings). Abends feiert eine WG-Kollegin Geburtstag. Im kleinen Kreis, der nicht größer sein darf. Von mir bekommt sie Gryffindor-Bettwäsche. Details gerne auf postalische Anfrage. Am besten schickt Ihr mir bei MySpace eine Sprachnachricht mit Flammen-Emojis oder Ihr bindet einem Raben eine Wählscheibe an den Fuß. Aber bitte bleibt euch stets über eines im Klaren: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß immer, was man bekommt. Pralinen.

Stefan Kutzenberger, 5.1.2021
Heute nicht am Roman geschrieben, obwohl es gerade so gut dahingegangen ist. Dafür war ich bei der Witwe und habe mir Belegexemplare der 5,5 Kilo schweren Künstlermonographie abgeholt, an welcher wir die letzten zwei Jahre gearbeitet haben. Anscheinend verharre ich noch immer in dieser sinnlosen Veranonymisierung aller Menschen, die mit mir in Kontakt treten. Gabriele Kögl wird mich am Donnerstag im Corona-Tagebuch erwähnen und zugeben, dass auch sie lügt, wie alle anderen. Ich habe ja nur mäßig subtil zur Vernetzung der Tagebuchbeiträge aufgerufen, was zur Folge hatte, dass mich Hannah Zufall, Verena Stauffer und Barbara Rieger in ihren Einträgen erwähnt haben. Das ist gut so, denn im Roman, den ich gerade schreibe, geht es um einen großen Endkampf zwischen Realität und Fiktion, und es überleben nur die, die nachweisen können, dass sie fiktiv sind.

Hannah Zufall, 5.1.2021
Sind wir eigentlich schon beim Du, liebes Tagebuch?

Verena Stauffer, 6.1.2021
Das Virus kursierte bereits, es war Ende Februar des letzten Jahres. Die Damen neben mir waren noch beschäftigt, die eine nahm ihr Gebiss heraus, es war gelblich und voller Essensreste. Sie legte es in eine Plastikdose, ihre Tochter schüttete Wodka darüber, ehe sie ihr den Rock hob, die Strümpfe nach unten schob, ein Täschchen herausholte. Ich sah eine lange dünne Nadel, sie zog die Medizin auf und verabreichte ihr eine Spritze in das gelbe Fleisch ihres Oberschenkels. Ihr Fleisch sah wie eine Semmel aus. Beide sahen mich danach an, lachten. Ich versuchte ein Lächeln, es misslang, also stellte ich mich beschäftigt, wickelte mich in meine Decke, lehnte mein Gesicht eng ans Fenster, etwas floss aus meinen Augen, es fror am Glas zu Kristallen. Bis alle schliefen, stellte ich mich schlafend. Als ich sicher war, dass keine der Damen mehr wach war, denn sie schnarchten leise, entspannte ich mich ein wenig. Ich richtete mich auf, sah in Ruhe nach draußen. Lange war alles schwarz, es war mir, als flögen wir über das Nichts. Die Erdoberfläche schien verschwunden. Ich staunte, fühlte mich so weit weg von allem, von der Erde, von Wien, sogar von Moskau. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit stellte sich ein. Ich war vermutlich die einzige Nicht-Russin in diesem Flugzeug, auf meinem Weg weit Richtung Osten, nach Sibirien, Tomsk.

Stephan Roiss, 7.1.2021
Ein Knacken und fünf leise Töne.

Lydia Mischkulnig, 7./8.1.2021
Drehte den Fernseher an und schaute mir auf der TV-Thek die Reinszenierung des Schicksals eines Millionärssohnes und dessen Mörders an. Der Autor, Ferdinand von Schirach, hat sich schon oft auf wahre Geschichten eingelassen und sie anschaulich gemacht. Er kocht ein, Komplexitätskompott. Eines Tages wird er auch aus Corona ein Dilemma-Spektakel gestalten und auf ein Stichwort zusteuern: Triagieren.

Hannah Zufall, 8.1.2021
Dieses Tagebuch, für wen ist das? Für die mir unbekannten Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich einsam gemeinsam schreibe? Mir scheint es fast so. Ich lese die anderen und höre dann doch manchmal unmittelbar auf, weil ich nicht verführt werden will, mich an sie heranzuschreiben. Und doch ist es wie ein schriftliches Gespräch, wenn auch stets um eine Woche versetzt. Und natürlich richten wir uns hiermit an ein unbestimmtes Außen, an eine zukünftige Leserschaft der geplanten Buchform. Also alles in schönster Eindeutigkeit uneindeutig, alles wie immer eigentlich und doch fällt es mir auf. Und es hemmt mich. Womöglich wird doch keine passionierte Tagebuchschreiberin aus mir.

Günter Eichberger, 9.1.2021
Ich habe einen riesigen Sack voller Lügen bei mir, aus dem ich mich bedienen kann. Und immer lüge ich mir Neues dazu in meinen Sack. Die Schlammschlachten zwischen mir und meinem ganz anders gearteten Zwillingsbruder beschäftigen die Gerichte noch heute. Er wollte den Nachweis erbringen, nicht mit mir verwandt zu sein, dafür schreckte er auch nicht vor falschen Gewebeproben zurück. Ein Gerichtssachverständiger meinte, dieser Probe nach sei er ein ausgewachsener Bonobo. Und wieder ging diese Runde an mich. Ich habe mich oft gefragt, was ihn wohl so gegen mich aufgebracht haben könnte. Meine großzügig geschnittenen Sakkos, meine tadellosen Tischsitten, mein stadtbekanntes, stattliches Mehrzweckglied? Dass ich ihn mit stumpfen Gegenständen auf den Hinterkopf schlug, wenn mich seine Gegenwart belästigte? Bis heute, wo ich ihn nur vor Gericht sehe, ist er mir ein beständiges Ärgernis. Er verdirbt mir meine Träume durch sein unerbetenes Erscheinen. Erst gestern hat er mir im Traum in meine Retorte gespuckt. Ich war gerade dabei, Mary Shelley zu erschaffen, die ich immer schon kennenlernen wollte. Aber er zerstörte den Schaum, dem sie entsteigen sollte, durch seinen grünlichen Auswurf. Ich werde ihn im nächsten Traum verklagen. Er verliert die Prozesse immer, das wird im Traum nicht anders sein. Seine Vorwürfe sind immer so unglaubwürdig, dass seine Klagen meist nicht zugelassen werden. Er gilt in Anwaltskreisen als pathologischer Lügner, weshalb mittlerweile nur verwinkeltste Advokaten und Höllenrechtsgelehrte ihn vertreten wollen. Ich werde dem allen ein Ende setzen, indem ich ihn amtlich als erstunkene und erlogene Figur anerkennen lassen will, als Ausgeburt meines Sackes.

Birgit Pölzl, 9.1.2021
Minus 18 Grad, ein Meter Pulverschnee, blauer Himmel, steiler Hochwald, gewelltes Plateau, Geländestufe, nächstes Plateau, Gipfelhänge. Zwei Stunden zügiges Schiwandern im Schatten, es ist zu kalt, um eine Pause einzulegen, dann Sonne im vorderen Teil des ersten Plateaus, Aufblitzen der Schneekristalle. Wir trinken ein paar Schluck Tee, essen einen Riegel, wandern weiter. Die Dinge des Alltags liegen weitab, sie belangen mich nicht: Ich bin extremer Schönheit ausgesetzt.

Barbara Rieger, 9.1.2021
Ich bin froh, dass meine Mutter Freunde hat, die an ihrem 78. Geburtstag mit ihr Sekt trinken, trotz Corona. Nach unserem Videotelefonat schicke ich ihr ein Foto von dem, was unser Baby in den Topf gemacht hat.

Lydia Mischkulnig, 10.1.2021
Erlebnis: Kaufte einen schwingenden Rock, der auf der Stange vor einem geschlossenen Friseurladen als Sonderangebot ausgehängt war. Die Putzfrau öffnete den Laden und maskenlos probierte ich das Teil und befand es für passend. Das war an einem Sonntagnachmittag mitten im Lockdown und wir waren ohne Masken mit ganz viel Abstand, zwischen den geputzten Trockenhauben und Waschbecken und Konsolen voller Bürsten und Kämme, einander gegenübergestanden wie Komplizen.

Wolfgang Paterno, 10.1.2021
Post aus dem E-Mail-Eingang. „Schatten der Leere“, so die Überschrift der Kulturveranstaltung: „Das Eros-Kadaver-Distanz-Konzert im Oho-Live-Stream“. Viel Covid in einem Satz.
Die virtuellen ZOOM-Hintergründe der Woche: Star Wars, Wandertag, Luxusjacht, Polarmeer, Sommerlandschaft, Wald-und-Flur. Es ist immer mit allem zu rechnen, und ganz besonders mit dem Schlimmsten, ohne virtuelle Hintergrundspielereien, fast wie im richtigen Leben.
Man verzwergt langsam.
Abendtour. Man steht verloren auf den Gassen und Plätzen herum, als sprächen die wenigen Menschen, die ebenfalls unterwegs sind, eine andere Sprache. Der Nachtspaziergänger, der betroffen auf Gassi geführte Hunde starrt.
Offenbar Probleme bei ZOOM-Teilnehmerin Sonja. Auf dem Bildschirm des Mobiltelefons taucht das Einblendfenster „Sonja ist verlassen“ auf.
Insgesamt läuft es darauf hinaus, dass einem fürs Tagebuch immer weniger einfällt.

Stephan Roiss, 11.1.2021
Den Traum notieren. Durch glitzernden Schnee laufen. Heißer als sonst duschen. Meditieren. Die Kerzenflamme auspusten. Mit Wachsmalstiften einen Brief an einen alten Freund schreiben. Datteln und Birnen vergleichen. Einen Anfang für den Roman finden. Ein Knacken und fünf leise Töne. Ein Universum, das antwortet. Es kommen schlimmere Tage.

Heinrich Steinfest, 11.1.2021
Am 11. Januar 1946 notiert Max Beckmann: „Möchte nur wissen warum das Malen so anstrengend ist. – Das bißchen Farbe verschmieren.“ Ja, und ich denke mir jetzt natürlich: „Möchte nur wissen, warum das Schreiben so anstrengend ist. Das bißchen Wörter verteilen.“

Egon Christian Leitner, 11.1.2021
Einer sagt, Ideen sind Luftschnapper. / Eine schreibt einem einen hundert Seiten langen Brief. (Mir nicht.) / Einmal hat es ein Ministerium aller Talente gegeben. In Österreich nie. / Gute Nachrichten sammeln & aufnotieren. / Eins teilt sich in zwei. Von wem ist das? / Fälligkeit. / Einmal letzten Sommer habe ich einen gefragt, ob seine Organisation einen Plan habe. Antwort: Nein. Den hat aber niemand. & einer hat im Sommer zu mir gesagt, jetzt werde alles in Ordnung gebracht. Man sei durch die Schnelligkeit der Ereignisse überfordert gewesen, aber die Pflege eben z. B. werde in Ordnung gebracht, alle sagen ihm das so. Ich erwiderte: Das geht nicht. Die können das nicht. Es ist etwas Systemisches. / Mir wird gesagt, ich müsse mich unbedingt impfen lassen, sei gefährdet, hätte im Ernstfall keine Chance. Nichtsdestoweniger war ich, seit ich ein Schreibender & Veröffentlichender & Vortragender bin, immer vorsorgend, für die Vorsorge eben, angesichts dessen, was kommen wird. Das gewesen zu sein, nehme ich tatsächlich in Anspruch. / Beim Spazierengehen, die Leute sind immer sehr freundlich. Viel mehr gegrüßt wird, kommt mir vor. Luft hab ich auch viel mehr. / Bin angewiesen, jeden Morgen vor dem Blutdruckmessen 20 Minuten Ruhe zu geben & zu halten. Bete da immer zwei kurze Hebräische, die ich sehr mag. & dann mache ich Lachyoga, Haha gegen die Angst, Hehe fürs Immun, Hihi, damit mein Kopf wach ist, Hoho gegen den Groll & Huhu für die Verdauung. Gut. Sodann bekomm ich meinen Kakao. Der wird auch jeden Tag besser.

Heinrich Steinfest, 11.1.2021
Mein neuer Roman ist fertig, mein alter Detektiv – so will es die Geschichte – ist zum Sekretär seiner ehemaligen Sekretärin geworden, die nun somit die Detektivin ist und er ihr Assistent. Und das ist wirklich gut so, auch wenn es nicht meine eigene Idee war, sondern eben aus einer Vereinbarung meiner beiden Figuren resultiert, die es so wollten und nicht anders. Und nebenbei gesagt, glücklich mit ihrer beider Entscheidung sind – so, als hätte jeder von ihnen endlich ins richtige Boot gefunden. Und das ist natürlich tröstlich, daß in einer Geschichte, in der es nicht immer glücklich zugeht, auch so etwas wie Glück und Zufriedenheit stattfindet. Als wären die beiden endlich einer göttlichen Einflüsterung gefolgt.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept und Auswahl Kurzversion: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146