Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 8 („Im nächsten Traum wird alles besser.“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

Barbara Rieger, 22.12.2020
Mein Mann, das Baby und ich im Auto, am Parkplatz unseres Hausarztes. In weißer Schutzausrüstung läuft er zwischen einzelnen Autos und der Ordination hin und her, kommt schließlich zu uns, fragt uns nach dem Namen, fragt Ladies first?, öffnet den Teststreifen, fährt tief in meine Nase und rührt um. Geschafft, sagt er, verschwindet in der Dunkelheit, taucht wieder auf, nimmt den Abstrich bei meinem Mann. Eine Viertelstunde dauert es, sagt er. Einen Moment lang denken wir darüber nach, unseren Familien gegenüber zu behaupten, dass wir positiv seien.

Gabriele Kögl, 22.12.2020
Ich frage mich, inwieweit mich Corona schon zermürbt hat. Noch versuche ich Widerstand zu leisten. Keine einzige Online-Bestellung, und in meinen Küchenladen finde ich den Mist von zehn Jahren. Pfefferkörner, Rosmarinnadeln, Reisbrösel. Ich überlege kurz, die Lade zu säubern, und tu es nicht. Nicht, so lange es Corona gibt, beschließe ich in meiner Küchenlade des Widerstands. Und kein Kleidungsstück wird entsorgt, nicht jetzt, nicht, so lange es Corona gibt, und ich habe heute noch keinen Gedanken daran verschwendet, was ich am 24. kochen werde.

Günter Eichberger, 22.12.2020
Heute ist Max Höfler absichtlich in meinen Traum geplatzt. Ich musste Margot Robbie ohne Garderobe wegschicken. Max behauptet, als Ernst Fuchs in Erscheinung zu treten. Dabei ist er eindeutig Jean-Michel Basquiat. Er beginnt auch gleich einen Autoreifen zu bemalen. Er erklärt unaufgefordert sein Werk: „Das ist ein Reifen, ich bemale ihn mit weißer Farbe.“

Birgit Pölzl, 23.12.2020
Weihnachtsbaum, ja. Weihnachtsbaum, nein. Kompromiss-Tanne, klein. Glaskugeln, mit weißen Kristallen bemalt, Bienenwachsherzen, die über die farbigen Linien laufen, Stern-Konturen aus Ton, Bäumchen und Blüten aus Draht, honigfarbene Kerzen. Höher, noch ein bisserl höher, tiefer, weiter rechts, eine Spur weiter links, ich beginne über mein Beratungsbedürfnis zu grinsen. Es ist der erste Weihnachtsbaum seit Jahren, den wir gemeinsam schmücken, wir hielten meist eine Sprühkerze in der Hand auf einer Hochebene, an einem Strand.

Günter Eichberger, 26.12.2020
Im nächsten Traum wird alles besser.

Lydia Mischkulnig, 27.12.2020
Das Krankenhaus hatte ein neues Liftsystem: Man muss eine Nummer ziehen, gibt dafür das Stockwerk ein, um dann vor dem richtigen Lift zu warten. Eine Viertelstunde lang. Zuvor wartete man höchstens 15 Sekunden. Ich hatte drei Familienangehörige an drei verschiedenen Stationen zu besuchen. Dreimal Lift. Dreimal 15 Minuten. Dieses neue System der Liftbenützung soll die Frequenz der Lifte nach dem Plan einer komplexen artificial intelligence organisieren. Ziel ist die Verhinderung von Ansteckung der Liftbenützer mit Corona. Als der Lift dann endlich kam und sich die Türe öffnete, war die Kabine dicht gefüllt und eine Menschenmenge schwoll heraus.  Ich beschloss, da der Lift schon von einer Traube Wartender gestürmt wurde, zu Fuß hinauf zu gehen.

Verena Stauffer, 27.12.2020
Der mit Limetten gefüllte Barsch brät im Ofen, ich bemerke, wie es nach Karamell riecht und der Sektkorken, wie er nach feuchtem Holz und Wein riecht und die Stille im Zimmer, wenn man ganz allein ist, so als ob man nicht in Wien wäre, sondern allein irgendwo auf der Welt. Irgendwo auf der Welt fällt gerade Schnee, nur unter einer Tanne bleibt der Boden grün, so dass man das Moos und die sich aufwölbenden schwarzen Wurzeln sehen kann. Ich denke an ein Wort, das ich gerade liebe, eine Wendung, die ich verehre, die mich glücklich macht und ich frage mich, wie lange ein glücklicher Moment anhalten kann. Ich vergesse das Glück eines einzelnen Worts so schnell, so schnell überfallen mich die Gedanken, die Ängste, Sehnsüchte. Doch ab jetzt möchte ich dagegen halten. Ich möchte es in mir halten, das Wort, es vor mir hertragen, es in meine Augen reiben, damit es mir gewahr bleibt, länger als nur einen Augenblick, ich möchte es tagelang in mir haben, ich fahre auf dem Wort Rad, ich ziehe es mir als Schuh an und mache es eines Tages zum Gedicht. Dann ist es fort. Ich gebe dem Wort eine Codenamen, nenne es Sommerwind, jener sanfte, der den ganzen Tag über die Gräser streift, sie beugt. Mitten in den Gräsern steht ein einzelner Baum, eine große Eiche, sie steht auf einer leichten Erhebung und rundherum blühen Narzissen. Ein Tag, an dem man keine Nachrichten empfängt, weil das Internet ausgefallen ist, ein Tag, an dem einem nichts fehlt, ein Tag in den man sich hineinbreitet wie man eine Decke für ein Picknick auflegt. Ich habe mich in den Tag ausgelegt, jetzt legt er sich auf mich. Ich bin das Haus des Tags, er kehrt in mich ein.

Hannah Zufall, 27.12.2020
Weihnachten wie jedes Jahr verbracht. Die Straßen sind angenehm leer, mein Kopf ist es auch. Mir sind die Tage nach Weihnachten eigentlich noch kostbarer. Wie verheißungsvoll sie schon klingen: Die Tage zwischen den Jahren, die Raunächte, die zwölf Nächte. Ich gehe wieder durch den Teutoburger Wald, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Noch immer weiß ich, wo der wilde Schnittlauch wächst (an der Holztreppe hinter der Psychiatrie). Noch immer werfe ich neugierige Blicke in die runden Krater der Bombeneinschläge aus dem zweiten Weltkrieg. Die vertraute Mischung aus Nadelbäumen und Buchen, der Kalkstein, der zu brüchig ist, um auf ihn zu bauen. Schnee gibt es hier nicht mehr, stattdessen zu viele Borkenkäfer, sodass der Wald kahle Stellen hat wie ein räudiger Kater. Dann doch Sturm, ungewöhnlich in dieser Gegend. Der Wind schlägt die Wolken aus, nun ist es doch leicht am Schneien, aber liegen bleibt nichts mehr. Billiger Schnee. Der moderne Winter gibt sich geizig. Wir stehen auf dem Waldrücken, schauen nach Norden Richtung Wiehengebirge und zählen die letzten Stunden dieses absurden Jahres an.

Barbara Rieger, 28.12.2020
Alles, was ich schreiben will, ist zu privat ODER: Alles, was ich schreiben will, ist der nächste Roman.

Stephan Roiss, 29.12.2020
Ich schaffe Ordnung, werfe weg, verschenke, hänge den neuen Kalender auf, schmiede Pläne. Haha, Pläne … das ist so 2019.

Egon Christian Leitner, 30.12.2020
Herzinfarkt am Christtag. Seit heute Mittag bin ich wieder daheim. Geht mir besser als zuvor heuer. Ist nicht selbstverständlich. / Mir wird heute ein besseres neues Jahr gewünscht. Ist nicht nötig. Das Jahr war gut, denn ich lebe noch & bin unbeschadet. Die Rettungskette hat sofort & fehlerfrei funktioniert. In den folgenden Tagebucheinträgen berichte ich nur davon.

Birgit Pölzl, 30.12.2020
Parodien, Persiflagen, Rückblicke, Ausblicke, Wünsche. Keine Nachricht beeindruckt mich wie jene, die die Rede wiedergibt, die David Choquehuanca zum Amtsantritt als Vizepräsident Boliviens am 8. November hielt, eine Rede, die eine Kultur des Lebens entwirft, in der alles miteinander verbunden ist, auch das eigene Wohlbefinden und das Wohlbefinden der anderen. Der Condor fliegt nur, wenn sein rechter Flügel in perfektem Einklang mit seinem linken Flügel ist. Wie gern würde ich an die Wirkmächtigkeit solcher Worte glauben.

Gabriele Kögl, 31.12.2020
Eigentlich bin ich ein Silvestermuffel. Aber die vom Staat auferlegte Muffelei lässt mich heuer zur Partytigerin werden. Mal schauen, was ich aufstellen kann. Aber das Wäscheabnehmen darf ich nicht vergessen. Ich will doch nicht schuld sein, dass jemand im nächsten Jahr stirbt.

Egon Christian Leitner, 31.12.2020
Kann nicht atmen. Gehe in Richtung meiner Frau, will nicht umfallen. Schleppe mich ins Zimmer in den ersten Stock. Schweißausbruch. Keine Luft. Brust zusammengedrückt. Nehme 2000 mg Magnesium, Gefühl der Erleichterung; will abwarten. Mein Mund offen. Meine Frau sagt: Egon, das schaffen wir nicht allein. Hält mich. Ruft Rettung & Notarzt. Sind binnen 10 Minuten da. Wichtig, dass ich nicht das Bewusstsein verliere. Gebe Antwort, rede. Soll sitzen, nicht liegen. Bekomme Sauerstoffmaske. Notarzt kommt. Scheint mir ungehalten. Wird freundlich. Bekomme FFP2-Maske statt Sauerstoffmaske. Sie haben einen Herzinfarkt. Sie bekommen sofort einen Herzkatheter. Sage: Ich werde jetzt benommen.

Stephan Roiss, 31.12.2020
Vegane Lasagne: und jedes Lachsbrötchen kackt ab. Wachsgießen: mein Klumpen sieht aus wie ein halbiertes Pferd im Galopp. Katzen-Tarot: ich erinnere mich weder an die Karten noch an deren Deutung. Dafür erinnere ich mich an Gin, Johnny Cash, spanische Rituale, meine rote Unterhose und zwölf Weintrauben am Balkon.

Barbara Rieger, 31.12.2020
Ich hätte es mir anders vorgestellt: mit mehr Lesungen, Besuchen in Wien, Graz, Linz, … mit Reisen und Umarmungen. Was ich mir nicht vorgestellt habe: Was das, mein, unser, was so ein Baby mit mir macht. Ich denke an den Satz von B. Birnbacher – Wenn so das Menscheninnerste riecht, dann kann nicht alles verloren sein – und bin gespannt, was kommt.

Wolfgang Paterno, 2.1.2021
Wie über Covid eines Tages vielleicht erzählt werden kann: „Der afrikanische Historiker Terence Ranger hat Anfang der 2000er-Jahre aufgezeigt, dass über ein derart verdichtetes Ereignis mit einer anderen Methodik berichtet werden muss“, schreibt die Historikerin Laura Spinney in „1918 – Die Welt im Fieber“, ihrem Buch über die Spanische Grippe: „Eine lineare Schilderung genügt nicht. Viel eher bedarf es einer Herangehensweise, wie sie die Frauen im südlichen Afrika praktizieren, wenn sie über ein wichtiges Ereignis im Leben ihrer Gemeinschaft sprechen. ,Sie beschreiben es und umkreisen es dann’, schrieb Ranger, ,kehren immer wieder zurück, erweitern es und fügen Erinnerungen und Vorahnungen hinzu.’“ Tanz das Tagebuch.

Stefan Kutzenberger, 3.1.2021
Letzte Woche hatten wir frei, der charmante, aber strenge Dienstgeber Literaturhaus Graz erlaubte uns zwischen den Jahren, wie man in Deutschland so schön sagt (und wohl auch schon bei uns), untätig zu sein. Nichts musste erlebt oder erschwindelt werden, um das Tagebuch zu füllen – und nichts wurde erlebt und erschwindelt.

Heinrich Steinfest, 3.1.2021
Und genau aus diesem „Männerheim“ gerate ich in eine Silvester-Erinnerung, nicht der Silvester, der gerade stattfand und der ein schreckliches Jahr in ein hoffendes teilte (auch diesmal nicht ohne diese Knallerei, die doch eher an ein Weltende, einen Krieg oder Kollisionen im Weltall erinnert), sondern ein Silvester vor etwa vierzig Jahren, als ich da vielleicht achtzehn-, neunzehnjährig mit einer Doppelliterflasche Weißwein und einem Wecker – ja, so ein wollknäuelartig rundes Ding mit einer pilzförmigen Glocke – auf dem tiefgefrorenen Boden der Inzersdorfer Felder lag (die es da halt noch gab) und hoch in den Himmel sah, wo zwei Austrian-Airlines-Flugzeuge (als die noch staatlich waren) wunderschön herumkurvten. Und wie mir die Flugzeuge so ungemein nahe erschienen und ich meinte, ich würde jemanden sehen, der mir durch die kleine Luke seines Fensters zuwinkt und freundlich das Sektglas hebt, und ich ebenso freundlich meine Doppelliterflasche hebe. Und wie ich dann aber auf diesem harten Inzersdorfer Acker einschlafe, mich jedoch mein Wecker mit dem lauten Klang applaudierender Erdmännchen rechtzeitig aus dem Schlaf beziehungsweise dem Verschlafen holt.

Hannah Zufall, 3.1.2021
Es schneit! Und alle sind entzückt. Aber auch erste Zweifel werden laut: Fließt der Golfstrom etwa nicht mehr, fragt wer auf Twitter und erwartet keine Antwort. Abends reisen wir in Weingläsern – von einem italienischen Pinot Grigio hin zu einem Merlot aus Bordeaux und enden im argentinischen Torrontés.

Wolfgang Paterno, 3.1.2021
Wieder Probleme mit dem Computer. Diesmal klemmt die Space-Taste. Ausgerechnet die Leerschritttaste.

Stefan Kutzenberger, 3.1.2021
Statt den Namen der Kollegin im Klartext zu nennen, habe ich nun schon wieder anonymisiert geschrieben, obwohl doch mein Neujahrsvorsatz war, dieses Tagebuch offener zu gestalten, tatsächliche Personen auftreten zu lassen, meinen so gleichförmigen, doch schön harmonischen Alltag im Schoß der vierköpfigen Familie hier auszubreiten. Den Kindern wäre es egal, erstens wollen sie sowieso berühmt werden (die Ältere, die seit kurzem nicht mehr die Größere ist: Schauspielerin) und niemand aus ihrem Umfeld würde jemals davon erfahren. Und die Frau könnte ich ja fragen, ob es sie stören würde, wenn ich schriebe, dass sie zwei Puzzles mit mehreren tausend Teilen über die Weihnachtsfeiertage vollendet hatte.

Heinrich Steinfest, 3.1.2021
Ach ja, die Erinnerung. Wahrscheinlich das intensivste, was der Mensch kennt. Sich zu erinnern. Im Moment, da etwas geschieht, sind wir praktisch vom Geschehen geblendet. Erst in der Erinnerung erhält das Geschehene seine tatsächliche Form und tatsächliche Farbe. Die Erinnerung verfälscht nicht, ganz im Gegenteil, sie holt die Ereignisse aus dem Nebel, den die Gegenwart um sie herum gebildet hat. Wahrscheinlich auch einer der Gründe, wieso’s Literatur gibt.

Egon Christian Leitner, 4.1.2021
Dränge nach Hause, zumal jeder Tag & jede Nacht problemlos. Letzter Abend absurd. Falsch im System, wenn Hilfsschwestern fürs (Menschen-)Putzen, Essen & Spritzen zugleich zuständig sind. Personalmangel: Überforderung, Müdigkeit, unhygienisch, Gefahrenquelle. Mehrmals noch Telefonate mit einem Schulfreund. Klärt mich medizinisch auf & beschwört mich. Verspreche ihm alles, was ich halten werde. Sagt mir wieder, wie viel Glück ich gehabt habe. Ja, eben, diesen Sozialstaat begehre ich! (Für alle.)

Stephan Roiss, 4.1.2021
Müsli. Wahrscheinlich. Eine neue, menschenfreundliche Politik. Unwahrscheinlich.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept und Auswahl Kurzversion: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146