Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle, Teil 15 („Niemand war dort, aber alle waren da.“)

in Die Corona-Tagebücher/Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle

Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.

[PDF der Gesamtexte]

 

Günter Eichberger, 15.2.2021
Ich treffe Birgit Pölzl in Holland, wobei ich mich nicht erinnern kann, wie ich dorthin gelangt bin. Vermutlich bin ich entführt worden. Birgit gesteht sofort. Ich brauche das Geld, sagt sie. Ich gebe ihr meine paar Münzen. Gut, sagt sie, damit komme ich durch. Das Leben in Holland ist sehr billig. Jetzt darfst du gehen, sagt sie. Ich bleibe noch, sage ich, bis ich die Sprache kann. Wir bewegen uns in konzentrischen Kreisen durch die Stadt. Du musst diese Paradeiser kosten, sagt Birgit, dann brauchst du keine Impfung.

Birgit Pölzl, 15.2.2021
Lichtgeschärft die Konturen, gestochen die Grate, Gipfel, Schultern, Wände und Kaskaden. So hart der Schnee am Gipfelhang, dass ich die Harscheisen einlege, blanke Flächen, gepresste Wellen, es ist fast still, der Wind hat sich gelegt, ich höre meinen Atem, das Schaben und Knirschen der Schi. Dort, wo es in Gipfelnähe flacher wird, nehme ich die Sonnenbrille ab, überdeutlich alles, irreal.

Günter Eichberger, 16.2.2021
Egon Christian Leitner und ich präsidieren dem Sozialstaat. Alle bekommen nach ihren Bedürfnissen und werden nach ihren Fähigkeiten eingesetzt. Viel ist das nicht, aber es reicht für alle. Leitner und ich arbeiten ehrenamtlich, das beständige Ausüben sozialer Gerechtigkeit ist uns Lohn genug.

Barbara Rieger, 16.2.2021
Wir sind: Ein Kollektivroman kuratiert von Klaus Kastberger. Wir sind: So homogen, dass ich bei unserer Online-Konferenz zwei Mal mit Birgit angesprochen werde. Wir sind: So unterschiedlich, dass in dem einen ein ungutes Gefühl hochsteigt, wenn er an eine mögliche Buchveröffentlichung denkt und die andere schon einen Abgabetermin dafür hat. Wir sind: Etwas, das Günter Eichberger wunderbar zusammenfassen kann und wird, notiere ich in meinem Kopf, als ich mich mit dem Baby ins Bett lege. Es schläft ausnahmsweise sofort ein. Ich halte seine Hand und denke noch ein bisschen darüber nach, warum es mir so schwerfällt, ohne physisch anwesende Personen, nur in den Computer hinein, über etwas zu reden. Was da fehlt.

Günter Eichberger, 16.2.2021
Barbara Rieger füttert mich, ich bin ihr Baby. Ich spreche in einer geläufigen Lautsprache mit ihr, sie antwortet schriftlich.

Stephan Roiss, 16.2.2021
Ich nehme an, niemand von uns wird ein Wort über diesen Abend verlieren.

Gabriele Kögl, 17.2.2021
Gestern am Abend virtuelle Coronaparty im Literaturhaus Graz. Niemand war dort, aber alle waren da. Bis auf einen. Und es war spannend, die Gesichter zu den Texten zu sehen, das gesprochene Wort zu hören. Und alle hatten schöne Oberteile an. Zumindest keine Trainingsanzüge und keine Pyjamas.

Birgit Pölzl, 17.2.2021
Botschaften aus dem Lockdown. Wir, die Autorinnen und Autoren des Coronatagebuchs und Klaus Kastberger haben gestern in einem Livestream über die Erfahrungen des Tagebuchschreibens geredet. Jetzt kann ich Stimmen und Bilder von Günter, Gabriele, Stefan, Lydia, Wolfgang, Barbara, Stephan, Verena, Heinrich und Hannah mit den Einträgen verbinden – nein, ich kann es nicht oder nicht wirklich, ich könnte beschreiben, wie ihr das Glas, die Flasche, die Hand, den Mundwinkel hebt, welche Distanz zur Kamera euch angenehm ist, welches Licht ihr bevorzugt, wie ihr eure Stimme moduliert, zugleich überlappen die Bilder, schieben sich ineinander, es bleibt auch im Austausch etwas von der Spannung zwischen Individualität und Kollektivität, die dieses Tagebuch-Projekt auszeichnet. Wir sagen, die Einzeleinträge seien bloß Material, aus dem das Tagebuch komponiert wird, wir beschreiben die Montage als Verfahren der Stunde – da sagt Verena vom anderen Ende des Spiel- und Spannungsfeldes, aber. Aber ihre Beiträge würden erweitert auch als Corona-Einzeltagebuch erscheinen. Ich grinse (wie eine, der ein Zuviel an Gewissheit genommen wird) über die Delle im kollektiven Überschwang.

Wolfgang Paterno, 17.2.2021
Seit Monaten das Rätselraten, wie die einen, gehomeofficed und homegeschooled, flauschige Familienshow spielen, immer noch mehr perfektionierbar, und die anderen im häuslichen Beisammensein inzwischen die Wände hochgehen.

Egon Christian Leitner, 17.2.2021
Zähle zur Beruhigung von 1 los, klappt, denke an nichts sonst, knapp unter 100 dann bin ich ruhig & der Blutdruck passt. Puls 35. (Geträumt, habe die 35 € für die Balkanfahrt nicht.) / Telefonat, mir kommt vor, ein Hund bellt ein paar Mal kurz, frage, höre, er heiße Zuzu, frage nach, ist kein Hund, sondern der Zug vor der Haustür, kleiner Bahnhof. Muss jetzt oft an meine Hunde denken, an meinen Collie, wir hatten beide ein Leben wie zwei junge Hunde. Schaffe ich das wieder, bin ich außer Gefahr.

Günter Eichberger, 18.2.2021
Wolfgang Paterno kritisiert jede Zeile, die er schreibt, aufs schärfste.

Verena Stauffer, 18.2.2021
Das Westend sieht seit Monaten unverändert aus. Bierkorken und Deckel liegen auf den Tischen, Leitern stehen herum, vom Frühjahrsputz noch keine Anzeichen. Jedes Mal denke ich für einen Augenblick es wurde etwas verändert, nur um dann festzustellen, dass alles seit Monaten unverrückt genau so im Raum steht, es verändert sich nur die Dicke der Staubschicht. Ich möchte ins Heumarkt, ins Ritter, zum Engländer, ins Le Troquet gehen, lasst uns doch endlich wieder hinein, rufe ich in mich. Manchmal ertappe ich mich dabei mir vorzustellen, wir schlügen eines Nachts mit Schlagstöcken die Fenster ein, feierten eine Nacht lang in Scherben. Denkst du denn nicht an die Toten? Ja, die Toten, Verzeihung. Ich kenne keine Toten. Ich sehe die Toten nicht. Denkst du denn nicht an das System? Ja, ich denke an das System. Ich verstehe die Maßnahmen, sie schützen das System, die Menschen. Ich verstehe das. Ein jeder, der rechnen kann, versteht das.

Stephan Roiss, 18.2.2021
Zypern-Urlaub endgültig abgesagt. Planlos in Manhattan, sprich: schnaufend an der Mur. Brückengeländer. Lücken. Zähne. Erinnerung. Lebenslauf. 2008 bin ich in das Gehirn eines Narren übersiedelt und nicht schwanger geworden, habe vierzig Tonnen Watte an einen lammfrommen Lothar verkauft. Wenn es aber doch wahr ist! 2013 habe ich mit Eifer und staatlicher Ameisenhilfe das Gehirn eines Thorwalers besetzt, bin glücklich gewesen und einigermaßen hübsch. Dies sind die Verse, die mich Hunde lehrten, die Hunde und Hundeshunde in den Straßen Babylons, die schwimmenden Hunde Gibraltars, die Hunde der Kriegerprinzessin, meine haarigen Hunde, Bello, Wauzi, Zerberus. Hell no.

Lydia Mischkulnig, 19.2.2021
Mit dem ersten Satz der Coronatagebücher wieder anfangen. Also ich, mit meinem: Bist du Ok?

Gabriele Kögl, 19.2.2021
Als erstes nach dem Frühstückstee habe ich die neuen Coronatagebücher gelesen. Die Headline „Friseure retten Leben“ macht mich noch neugieriger als sonst. Und dann lese ich die ganze Geschichte dazu bei Wolfgang Paterno. Diese Geschichte ist so großartig, dass sie allein es wert ist, die Tagebucheintragungen als Ganzes zu lesen. Und wann darf Kultur wieder Leben retten?

Barbara Rieger, 19.2.2021
Wenn dieses Tagebuch nicht wäre, würde ich die Pandemie möglichst ausblenden. Ich würde mich voll und ganz aufs Windelwechseln konzentrieren und auf die nächste Anthologie, den nächsten Roman.

Wolfgang Paterno, 19.2.2021
Im Park mitten in ein Gespräch hineingeraten. Der eine sagt dies, der andere das. Der eine weiß über Zahlen und Statistiken Bescheid, sein Gegenüber tischt Schicksale und Situationen auf. Man selbst steht in Sicherheitsabstand dabei. Hmmm, ja, stimmt, sagt man. Hmmm, das vielleicht nicht so ganz, sagt man dann. Mehr fällt einem nicht mehr dazu ein. Hmmm. Hmmm.

Stefan Kutzenberger, 19.2.2021
Es ist nach Mitternacht, also eigentlich bereits der 20.02., und ich habe einen sehr unerwarteten Rausch. Die ältere Tochter, die mir dankenswerterweise das Tagebuch von letzter Woche geschrieben hat, bekam Besuch aus der Nachbarschaft, von der Tochter vom Architektenfreund. Die Architektentochter studiert seit Oktober Architektur, hat das aber noch nicht so mitgekriegt, da sich das Studium bisher auf schlechte Videostreams reduzierte, was ja nichts mit dem zu tun hat, was man sich unter einem Studentinnenleben vorstellt. Sie hatte im September Corona (mit grippeähnlichen Symptomen), weswegen wir so tun, als ob man sie gefahrlos treffen kann, auch wenn das virologisch wahrscheinlich nicht ganz so stimmt. Als ich gegen Mitternacht zum Gutenachtsagen ins Kinderzimmer kam, sah ich die Mädels gemütlich am Bett sitzen, je ein Bierglas mit Rotwein in der Hand. Die Flasche hat sie zur Taufe bekommen, sagte die Nachbarstochter. Es war ein französischer Wein, Jahrgang 1998, sicherlich immens teuer. Schnell lief ich in die Küche, öffnete eine Flasche Supermarktwein um drei Euro und organisierte – einmal vergleichender Literaturwissenschaftler, immer vergleichender Literaturwissenschaftler – eine vergleichende Verkostung.

Verena Stauffer, 20.2.2021
Ich denke an die gestrige Landung der Raumsonde der NASA auf dem Mars. An die rote Erde, die fruchtbar aussieht und an den blechernen Sturm. Warum hallt es so, im All? Der Mars sieht aus, als könne man auf ihm leben. Im Nebenzimmer diskutieren meine Söhne über ein Videospiel: Siehst du das, der hat mich blind abgeschossen! Alter… und meine Tochter liest Texte von Rupi Kaur.

Egon Christian Leitner, 21.2.2021
Bin fix & fertig, weil für ein paar in der Reha die gesundheitliche Situation plötzlich viel schlechter ist & wenn wer ganz wegbleibt, nicht mehr kann oder die Hoffnung, Freude verliert. Weg ist der Mensch eben, als ob ihr, sein Leben. Voneinander lernen, jetzt auch. / Ein Trainer hat selber Herzprobleme. Beachte ihn sehr. Sagt: Alles können, nichts müssen. / Ein junger Sportwissenschaftler will von uns wissen, wie Kniebeugen richtig funktionieren. Macht, was wir ihm sagen. Zeigt dann, wie’s geht. Es komme immer darauf an, was man will & braucht. Hockt sich einfach hin & steht wieder auf = die richtige Kniebeuge. Kein Militär, keine Disziplin, kein Problem, einfach nur eine Kniebeuge. Die wichtigste Erkenntnis. Gilt für alles.

Lydia Mischkulnig, 21.2.2021
Bin total verliebt in den Realitätssinn, der naturgemäß den Möglichkeitssinn umfängt, wie den Verschwörungssinn, der naturgemäß durch den Realitätssinn ausgeglichen wird. So komme ich zur Prognose, dass in meiner Umgebung etwas im Gange ist. Ich habe zu viel über ein Soziales Haus gehört. Ein Stück sozusagen, ein Stück Burgtheater tut sich da auf, es handelt sich um die Aushöhlung der Sozialdemokratie – ein schöner Kreislauf, ein gelungenes Projekt von Rot und Rosa, zum Niedergang des roten Wiens durch rosa Parasitärismus. Ich stelle mir ein Ibiza-Setting vor, in dem hochhonorige, politisch korrekte Bürgermeister und Stadträte und ein Fernseharzt ihre Deals ausmachen. Dazu reden sie humanitäres Zeug und plädieren für die Beherzigung des Kindeswohles und für das Obdach für obdachlose Frauen. Das soziale Zentrum wird keine Drogenstation sein und keine stinkenden Männer betreuen. Es wird von einer Stiftung betrieben werden. Sie hat ihren Sitz in Luxemburg. Auch das Burgtheater ist in der Stiftung. Und warum? Es ist so menschlich. Ich liege hoffentlich falsch.

Heinrich Steinfest, 21.2.2021, Stuttgart
Mein erster Schnelltest im Selbsttest. Was auf Grund einer familiären Zusammenkunft sich als notwendig und sinnvoll erweist. Weil nun aber in deutschen Landen ein „schnelles Selbst“ erst im März möglich sein soll, bestelle ich mir aus Österreich eine 20er-Packung. Und so ernst das Thema auch sein mag, erinnert mich diese Bestellung an viele andere Bestellungen, die ich in über zwanzig Jahren Auslandsösterreichertums getätigt habe. Oder mich bei Urlauben in der Heimat mit Devotionalien eingedeckt habe, die es halt am neuen Lebensort leider nicht gibt. Da steht an erster Stelle selbstredend die Schwedenbombe, schwarz wie weiß, und an zweiter Stelle Wiener Hochquell-Leitungswasser. Wäre ich ein tüchtiger Geschäftsmann, ich tät dieses Wasser – mit einer Spezialgenehmigung – in vom Architekturbüro Coop Himmelb(l)au designten Flascherln abfüllen und unter einem hübschen Namen wie „Wittgensteinwasser“ oder „Eau de Vienne“ oder „Elixier der Freuden“ weltweit unter die Leute bringen. Als Trinkwasser, klar, aber doch mit dem Hinweis auf eine Art Reinigung der Seele, die mit dem Genuß dieses Wassers einhergeht. Abgesehen von den jungbrunnenartigen Nebenwirkungen für den Körper. Aber schon auch darauf verweisen, daß dieses Wasser dann am besten schmeckt, wenn man zuvor eine Schwedenbombe konsumiert hat (dabei einen Werbetext verwendend, der einen berühmten Filmtitel paraphrasiert: Wie ich lernte, die Schweden zu lieben).

Hannah Zufall, 21.2.2021
Eine Freundin erzählt uns, dass die Leitungsebene der Deutschen Bank davon ausgeht, dass sie im September noch einmal zwei Wochen größere Veranstaltungen durchführen können, der Rest des Jahres werde aber von der dritten Welle geschluckt werden. Man habe dort eigene Berechnungen aufgestellt. Ich gestehe, dass ich gerade einigermaßen pessimistisch von Ähnlichem ausgehe. Meine Frau widerspricht und setzt auf demnächst greifende Impfkampagnen. Dieses Jahr ist gelaufen, sage ich zu ihr, während ich mir die Hände in Fatalismus wasche. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, durchatmen. Das mittlerweile automatisierte Zählen beim Einseifen hilft nicht nur gegen Viren, sondern auch gegen hartnäckige Gedankenflecke. Satisfaction of disinfection.

 

Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz

Konzept und Auswahl Kurzversion: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.

Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel.: 0316/3808372 oder 0664/8565146