Eine Auswahl aus den Einträgen von:
Helena Adler, Bettina Balàka, Birgit Birnbacher, Melitta Breznik, Ann Cotten, Nava Ebrahimi, Valerie Fritsch, Monika Helfer, Lisz Hirn, Lucia Leidenfrost, Christian Mähr, Robert Pfaller, Benjamin Quaderer, Julya Rabinowich, Angelika Reitzer, Kathrin Röggla, Thomas Stangl, Michael Stavarič, Daniel Wisser.
[PDF der Gesamtexte]
Lucia Leidenfrost, 6.4.2020
Ich sitze vor dem Bildschirm, live aus dem Kanzleramt bin ich über das Internet bei der Pressekonferenz dabei. Sie wollen Lockerungen bekanntgeben. Die Journalisten tragen Atemmasken, sitzen mit Sicherheitsabstand (zwei Sesseln zwischen ihnen) und warten wie ich. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn diese Pandemie vor dreizehn Jahren gewesen wäre. Videotelefonie hätte geruckelt, Videos gab es kaum zu finden und Streamen von Nachrichten, Serien, Filmen wäre nicht möglich gewesen.
Thomas Stangl, 6.4.2020
Warum beschäftigt mich Boris Johnson mehr als z.B. Marianne Faithfull, die mir eigentlich hundert Mal näher und hundert Mal wichtiger ist?
Lisz Hirn, 6.4.2020
Pochen. Der Lagerkoller hat mich fest im Griff. Bei drei Menschen sind zwei zu viel. Aber mehr als mich meine fehlende Privatsphäre quält, triezt mich mein unterer linker Backenzahn. Die neuscharfe Kante verheißt meiner Zunge nichts Gutes. Alles, nur bitte jetzt kein Problem an der Wurzel.
Melitta Breznik, 6.4.2020
War heute einkaufen, dachte zuerst gar nicht daran, etwas zu „Hamstern“, aber dann habe ich mich doch eingedeckt, in der Vorstellung, evtl. zwei Wochen in Quarantäne zu müssen. Irgendwie hat mich die Übung beruhigt, und Erinnerungen aus meiner Kindheit tauchten wieder auf. Mutter steht vor dem Schuhschrank und holt energisch die Stöckelschuhe meiner Tante Hilde heraus, die ihr schon länger ein Dorn im Auge sind, um dort Mehl, Zucker und Dosen mit Gemüse zu stapeln. Ich muss noch ganz klein gewesen sein, sehe das Bild deutlich vor mir, doch es ist gar nicht möglich, dass ich mich mit eineinhalb Jahren an die Kubakrise erinnere. Mutter war angespannt, und ich verstand nicht, wozu das alles gut sein sollte. Unlängst musste ich wegen einer Artikelüberschrift von Paul Jandl in der NZZ stutzen „Hamster kaufen“, allein die Vorstellung der Aktion lässt mich innerlich kichern.
Thomas Stangl, 7.12.2020
Falsches Datum am Beginn der Notiz: als ginge es schon Monate. Ich will es ausbessern und lasse es dann doch stehen.
Angelika Reitzer, 7.4.2020
Die Hexe aus Hof 2 (Hellseherin/Reiki-Priesterin … ihre verschiedenen Bezeichnungen stammen von den einzelnen Familienmitgliedern) hat gerade die Kinder in Hof 3 zusammengepfiffen, Klettern auf und über die Hofmauer, mit dem Ball gegen die Wand kicken, der Efeu werde kaputt, der eine Baum im Eck auch usw. Geht alles gar nicht.
Lucia Leidenfrost, 8.4.2020
Unsere Tochter ist ein echtes Corona-Kind. Sobald wir die Wohnung betreten und ihr die Jacke ausgezogen haben, krempelt sie motiviert ihre Ärmelchen hoch und streckt uns ihre Hände entgegen. Wenn wir nicht reagieren, zeigt sie auf die Badtüre und öffnet und schließt die Hände, reibt sie gegeneinander. Wenn sie Wörter mit wisch, wasch, wusch hört, fängt sie ebenso an, ihre Ärmel hochzuziehen.
Thomas Stangl, 8.4.2020
Ein sehr kleines Mädchen im Vogelweidpark, dunkel mit großen Augen im roten Trainingsanzug, läuft begeistert auf H. zu, die neben mir auf der Parkbank sitzt und in einem Buch liest. Das sehr kleine Mädchen, das noch kaum sprechen kann, ist von H., dem großen Mädchen, und vom Buch gleichermaßen begeistert. Eine harmlose nette Parkszene, aber H. weiß einen Moment lang nicht, was sie tun soll: das liebe Mädchen anlächeln oder vertreiben.
Daniel Wisser, 8.4.2020
Niemand wird erfahren, woran ich während der Isolation wirklich schreibe. In mein Tagebuch schreibe ich nur Erfundenes.
Angelika Reitzer, 9.4.2020
Es wird nicht einfach sein zu verhindern, dass die Hellseherin und der Großprior die drei Höfe permanent übernehmen. Vor wenigen Jahren liefen sie noch mit riesengroßen Schlüsselbünden durch die Gegend, Wohnungen hatten sie in einigen Häusern gemietet, überall gingen sie selbstverständlich ein und aus. Sie sind laut und haben ein die Mauern überwindendes Organ, selbstbewusst und davon überzeugt, sehr witzig zu sein, alternativ, sozial und zugleich großbürgerlich.
Benjamin Quaderer, 9.4.2020
Ich habe mir 2020 irgendwie anders vorgestellt.
Daniel Wisser, 9.4.2020
Die FPÖ und die NEOS wollen die Rundfunkgebühren abschaffen und den ORF der Regierung unterstellen. Die SPÖ und die Grünen wollen Rundfunkgebühren und einen unabhängigen ORF. Der ÖVP ist ein perfekter Kompromiss gelungen: Die Gebühren müssen weiterhin bezahlt werden, aber der ORF wird jetzt von der Regierung gesteuert.
Helena Adler, 10.4.2020
Auch die vermeintlichen Übermenschen haben längst bemerkt, dass der Virus keinen Halt vor König, Kaiser und Präsidenten macht, deshalb sperren sie sich in ihren Provinzpalästen ein, die sie mit Kühlkammern, Speisesälen und vergoldeten Beatmungsgeräten aufrüsten. Vor der Bestattung muss man ordentlich ausgestattet sein. Sauerstoffflaschen lagern wie Weinflaschen in ihren Luftschutzkellern und gären dahin. Alles bar bezahlt und gegen Goldbarren eingetauscht. Manche Behälter sind auf 1986 datiert. An guten Tagen öffnen sie das Ventil und wenn die Luft rein ist, dann kriechen sie aus ihren Verstecken. Dann preisen sie die Müllabfuhr und sprechen davon, diese tapferen Männer in den Rang von Herzchirurgen zu erheben, sie zu Relikt-Rittern zu schlagen, weil sie die Müllberge scheuen, die bald aus ihren Fenstern hinauswachsen und Ungeziefer anlocken, die eine Rattenlinie erzeugen, die ins eigene Nest führt. Die Pest entsteht im Nest, könnte man meinen, und zwar im eigenen, wenn man es nicht lüftet.
Ann Cotten, 10.4.2020
Ich hätte auch gern eine liebevoll selbstgemachte Maske aus gutem Stoff, der meinen Charakter und Geschmack ausdrückt (und nicht, dass ich dazu zu faul und ideologisch voreingenommen gegen Nähprojekte und Eifer bin, und zu niemandem mit Nähmaschine solche Kümmer-Beziehungen habe).
Lisz Hirn, 10.4.2020
Reaktion. Wenn das Prinzip Hoffnung eine böse Täuschung ist, dann werden Genesene wieder erkranken. Echtzeitnachrichten ersticken stündlich den glosenden Optimismus meiner Risikoangehörigen. Es gibt nicht nur Nächte, in denen ich untröstlich pessimistisch bin.
Christian Mähr, 10.4.2020
Bis jetzt scheint die „Tagebuchfiktion“ zu gelten. Keiner nimmt in den Corona-Tagebüchern Bezug auf das, was andere schon geschrieben haben. Eine „echte“ Tagebucheschreiberin kann ja auch nicht wissen, was in anderen Tagebüchern steht. Kommt mir in unserem speziellen Fall geradezu absurd vor: Jeder und jede kann lesen, was andere verfasst haben; am Ende soll sogar ein Buch draus werden, also, woran liegt dieses peinliche aneinander Vorbeischauen?
Kathrin Röggla, vom 10.4. zum 11.4.2020
Die wenigen Menschen am Hauptbahnhof waren viele, zu viele, aber dann kam der Zug und nahm mich wieder zurück aufs Land. Dort nahm ich die Tätigkeit auf, die ich vorher fein säuberlich durchführte, ich schrumpfe. Meine Reichweite schrumpft, meine terminliche Situation schrumpft, mein Planungsvermögen schrumpft, meine Geldbörse usw. Ich denke an den Herbst in großer Ratlosigkeit. Mal ehrlich: Werde ich wirklich nach Norwegen und Schweden reisen? Was ist mit Wien, die Reihe in der Alten Schmiede, mit Graz, aber auch Belgien? Meine Uraufführung ist um ein Jahr verschoben, auch mein Roman wird weiß Gott wann erscheinen können, nur das Anthropozänprojekt tut so, als könnte es weitergehen, und es geht auch weiter. Und dann ist plötzlich Karsamstag und Ostereier wollen gefärbt sein. Angeblich.
Robert Pfaller, 11.4.2020
Jetzt ist die Exekutive offenbar angehalten, die Leute schon aufgrund geringfügigster Vergehen gegen die Verordnungen empfindlich zu bestrafen. Je fragwürdiger die von der Regierung verhängten Maßnahmen werden und je deutlicher wird, aufgrund welch lückenhafter Informationen und Fehlkalkulationen sie verhängt wurden, desto gnadenloser werden sie also exekutiert. Wie Spinoza schrieb: „Was die Menschen aus Vernunft erkennen, das verteidigen sie mit Vernunft. Was sie aber aus Leidenschaft erkennen, das verteidigen sie mit Leidenschaft.“
Ann Cotten, 11.4.2020
Um 1 bin ich zu einer Zoom Happy Hour von ein paar Mitarbeitern des Wang-Laboratoriums für Neurowissenschaft an der NYU dazugestoßen. Pangiota hatte wohl die gesamte Mailingliste der NYU eingeladen und war ziemlich enttäuscht, dass nur drei Leute aus ihrem eigenen Labor da waren. Ich wurde entsprechend enthusiastisch begrüßt. Entspricht wohl einer dieser random gesegneten Zufälle in Trinklokalen.
Julya Rabinowich, ohne Datum
Eine Woche ist keine Woche ist keine Woche. Jeder Tag ist vernachlässigbar, jede Stunde egal. Aufstehen, Gassi gehen, frühstücken, Versuch zu schreiben, social media, Gassi gehen, Versuch zu schreiben, Mittagessen, Diät natürlich, Gassi gehen, social media, Süßigkeiten fressen, bis der Gaumen taub wird vom klebrigen Overload, weil vorher Diät. Gassi gehen, social media, kein Versuch mehr zu schreiben, ein bisschen weinen, aufmunternde Nachrichten an die Verwandtschaft schicken, bisschen weinen, social media, kleiner Eklat, schlafen gehen. Aufstehen, frühstücken, Gassi gehen, weinen. Schreiben. Lachen. Schlafen. Aufstehen. Ich schminke mich nicht mehr, ich sitze im Pyjama da, meine Frisur ist ein Wiedergänger lang verstorbener Vokuhilas mit Nachwuchs. Mein Friseur gibt Stylingtipps per Video. Die Frau, die mich im Spiegel ansieht, kann ich nicht leiden. Sebastian Kurz steuert uns in ein Paralleluniversum, in dem immer Pressekonferenz ist, er ist ein schwarzes Loch, eine nervende Singularität, die täglich das ganze Land mit dem bewährten Wahlkampfalphabet framed: Neue Zeit, Neuer Kurs, Neue Normalität.
Valerie Fritsch, 11.4.2020
In den Zimmern gibt es Privatliturgien im kleinsten Rahmen, Eigenfleischweihen, auf Geheiß des Papstes segnet man die Osterspeisen unter dem hellen Tuch im Weidenkorb selbst. Die Weihsprüche machen, was alle Worte imstande sind zu leisten, wenn es nur die richtigen sind, sie geben den Dingen eine Bedeutung, und heben sie aus der Welt in den Kopf hinein. Das Weihwasser ist salzig, ein Wallfahrtssouvenir Verwandter, eine Heiligkeit to go im Fläschchen, man gießt es ungelenk über den roten Schinken und das weiße Anisbrot, bis sich kleine Lacken bilden, und befindet doch, man sei kein schlechter Gott. Familien sitzen weinend um den Tisch, und immer gibt es einen, dessen Tränen nicht vom Kren kommen. Sein Glück und sein Unglück ist: er fällt nicht auf, nicht einer gedenkt seiner. Ein Kind lacht. Später gibt es eine große Nacht ohne Feuer, weite, dunkle, katholische Landschaften, die kein Brand aufhellt. Wer heimfährt, dem leuchtet heute nichts von den Hügeln.
Monika Helfer, zweite Aprilwoche
Ich sitze im Quartier meiner Stille. Ich denke an Paula, und wie es wäre, würde sie neben mir im Bett liegen. Sie hätte es kaum ausgehalten, daheim zu sein, ihre Freunde nicht zu treffen. Sie war es, die in der Mitte saß und redete, ihre Freunde rundum. Erzähl weiter, sagten sie, was geschah dann, und Paula erfand. Sie war die beste Erfinderin, die ich kannte. Ich verbringe viele Stunden mit ihr, sie kann nicht weglaufen, nicht rufen, gleich Mama, gleich, habe keine Zeit, morgen vielleicht, kann jetzt wirklich nicht, die warten schon, er wartet schon. Meine Nachbarin, beinahe hundert Jahre alt, Monate habe ich sie nicht mehr im Freien gesehen, schaut über den Zaun. Fahles Weiß ihre Haut, ihre Haare schlohweiß, ihre Gestalt wie aus einem alten Schulbuch. Ihre Augen blicken gebannt: „Was fehlt da?“, fragt sie. „Da fehlt etwas.“ Wahrscheinlich meint sie den gefällten Baum, unser Naturdenkmal, der dreizehn Meter hoch, von einem Sturm gefällt wurde.
Lisz Hirn, 11.4.2020
Krake. Man braucht sich nicht zwingend das Virus einzufangen, um in Atemnot zu kommen. Gegen die Enge vor dem Schlafengehen kann Hochprozentiges helfen, auch wenn es das Virus nicht killt. Aber was kann das schon. Die Osterbotschaft der Hl. Corona, Schutzpatronin der seuchenbedingten Säufer: Die Toten, die jetzt liegen, diese Toten bleiben liegen.
Nava Ebrahimi, 12.4.2020 (Ostersonntag)
Die Kinder haben ihre Schokohasen und Schokoeier alle auf einmal aufgegessen, ich habe nicht protestiert, sollen sie, ein Konfliktpunkt in den kommenden Tagen weniger. Wir sind auf der Hütte, ich sitze mit dem Laptop am noch immer von Eierschalen übersäten Esstisch, versuche zu schreiben, der Kleine singt „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“, mir fällt auf, dass das Lied, bis vor kurzem noch unter Verdacht, Alltagsrassismus zu befördern, nun eine ganz andere Problematik thematisiert. Die Chinesen sitzen zu dritt auf der Straße! Na ja, vielleicht ist die Polizei besonders alarmiert, weil es sich zusätzlich noch um Chinesen handelt. Das Lied hat er von seinem tiptoi-Stift, ein Gerät, das Kindern aus tiptoi-Büchern vorliest und das derzeit schwer zu bekommen ist, weil es Eltern in Homeoffice im besten Fall 45 Minuten zusätzliche Arbeitszeit schenkt. Der Osterhase jedenfalls konnte ein weiteres tiptoi-Buch ergattern und ins Nest legen. Wir atmen auf.
Benjamin Quaderer, 12.4.2020
Fenster geputzt. Am Ostersonntag. Ich weiß nicht, ob es der Restkatholizismus, der unüberwindbar tief in mir drinsteckt, ich schaffe es ja nicht einmal aus der Kirche auszutreten, oder einfach nur Faulheit gewesen ist, was mich auf Ms Vorschlag, die Fenster, wir könnten die Fenster putzen, so empört reagieren hat lassen. Am Ende hat sie sich durchgesetzt. Wie immer. Ich putze also das Küchenfenster und sehe den Familienvater aus dem dritten Stock im Innenhof Eier verstecken. Als er mich sieht, lächelt er, und ich lächle zurück. Später, ich putze das Fenster im Schlafzimmer, sehe ich ihn einen Tisch in den Innenhof tragen. Die Kinder kommen dazu, suchen Eier, eine Frau bringt Salate, ein andere Mann trägt den Grill in den Hof, wenn ein Kind etwas findet, schreit es, ich denke an den Text eines Kommilitonen aus dem Studium, fast 10 Jahre ist das jetzt her, in dem er über sich schrieb: Marco fällt zartfühlig aus dem Fenster.
Birgit Birnbacher, 12.4.2020
ich muss zum feiertagsnotdienst der apotheke am alten markt. ich bin noch nie mit dem auto zum alten markt gefahren, ich weiß nicht einmal, wo man parkt. ich parke auf der busspur und sehe zum ersten mal die leere innenstadt. am alten markt gehe ich den platz hinauf und suche die apotheke zwischen luxuslabelläden und mozartkugelauslagen. ich bin der einzige mensch am platz und drücke die notdienstklingel. als ein gesicht hinter dem fenster erscheint, bin ich erleichtert. die apothekerin muss die salbe für mein kind erst anrichten. zwanzig minuten, sagt sie, und: habens noch einen weg? das ist ihr gleich zu blöd. niemand hat mehr einen weg. als wir das merken, ist es unangenehm. ich warte. ein älterer mann kommt auf dem fahrrad den platz heraufgefahren. als er mich sieht, steht er auf und beschleunigt. von hinten ist seinen schultern anzusehen: er will nachhause. alle wollen immer nachhause.
Daniel Wisser, 12.4.2020
Nachdem die „westliche”, die „zivilisierte” Welt den Menschen in armen, kriegsgebeutelten Ländern, die dort unter unerträglichen Bedingungen leben und flüchten wollen, ständig ausrichtet, sie sollen zu Hause bleiben, müssen nun alle, die im Wohlstand leben, zu Hause bleiben.
Bettina Balàka, 13.4.2020
Dass bei der Eroberung des Erdballs Kollateralschäden entstanden, weil seit jeher von einander getrennt lebende Organismen aufeinanderkrachten, war schon jahrhundertelang bekannt. Die indigenen Menschen anderer Erdteile wurden von europäischen Infektionskrankheiten dahingerafft. Manchmal half man ein bisschen nach, etwa indem man mit Pocken infizierte Decken an nordamerikanische Ureinwohner verteilte. Aber die, die isoliert lebten, waren die Opfer, nicht wir, die Entdecker, die Eroberer, die Horizonterweiterer. Dass so ein Virentransfer auch in umgekehrter Richtung, von einem kleinen Stück Wildnis in die große, weite, zivilisierte Welt stattfinden kann, war uns zwar spätestens seit der Spanischen Grippe ebenfalls bekannt, aber nicht wirklich bewusst. Jetzt ist der ganze kosmopolitische Lifestyle perdu. Von unseren Wohnungen aus freuen wir uns, dass im Schönbrunner Zoo ein Katta-Baby geboren wurde. Wir reden uns ein, dass die Gefangenschaft bestimmt nicht so schlimm ist, wenn man von klein auf nichts anderes kennt.
Michael Stavarič, 13.4.2020
Betrachten wir doch mal kurz das ultimative Ende aus dem Blickwinkel der Physik (also fern von Corona). Im Wesentlichen gibt es – darüber herrscht absolute Übereinkunft – lediglich drei Möglichkeiten: 1. Das große Knirschen (The Big Crunch): Hierbei geht man davon aus, dass die scheinbar unendliche Ausdehnung des Universums irgendwann zum Stillstand kommt und sich umkehrt, womit dieses praktisch wieder in sich zusammenfällt und in einem unendlich winzigen Punkt, der Singularität, kollabiert. 2. Das große Reißen (The Big Rip): In diesem Szenario breitet sich das Universum immer weiter mit einer stetig größer werdenden Geschwindigkeit aus, am Ende gelangt man an einen Punkt, in dem nichts mehr der unendlichen Ausdehnung standhalten kann und regelrecht bis in die kleinste Quantenstruktur „zerbröselt“; einem Urknall folgt eine Art Endknall. Und 3. Das große Jammern (The Big Whimper): Nunmehr dehnt sich das Universum aus und wird immer kälter; die Galaxien entfernen sich voneinander, und irgendwann gibt es, aufgrund der unendlichen Entfernungen, keine Möglichkeit mehr miteinander zu interagieren. Mangels Interaktion geht den Sternen ihr Brennstoff aus, Material für die Entstehung neuer Sterne wird ebenfalls knapper, und irgendwann ist zwangsläufig der Punkt erreicht, an dem die letzten Sterne vergehen und die Dunkelheit einsetzt.
Angelika Reitzer, 13.4.2020
Sie sagen „Frohe Ostern“, „Schönes Pessach“, stehen in der Wiese herum, halten Abstand, unterhalten sich. Wie sich Nachbarschaft entwickelt, jeden Tag ein bisschen mehr.
Die Corona-Tagebücher. Ein Projekt des Literaturhauses Graz
Konzept: Klaus Kastberger. Redaktion: Agnes Altziebler, Elisabeth Loibner.
© Bei den Autorinnen und Autoren. Nachdrucke nur nach deren schriftlicher Genehmigung und mit dem Hinweis: Der Text ist Teil des Projekts „Die Corona-Tagebücher“ des Literaturhauses Graz.
Weitere Infos: agnes.altziebler@uni-graz.at, Tel. (derzeit): 0664/8565146