Umspannwerk, Josef-Ornig-Straße 16 © Clemens Setz
Umspannwerk, Josef-Ornig-Straße 16 © Clemens Setz

Clemens Setz: Mein liebstes Umspannwerk

in Fünfzehn Jahre Literaturhaus Graz

Wenn man auf dem Murradweg Richtung Gösting am Kalvarienberg vorbeifährt, kommt man an einem Umspannwerk vorbei, das von allen Umspannwerken mein liebstes ist. Es liegt direkt neben einer kleinen Siedlung, gleich hinterm Pongratz-Moore-Steg. Im Inneren der Siedlung versteckt sich das “Erste Grazer Zauber-Theater”. Ich war noch nie in diesem Theater, aber bin schon oft vorbeigewandert, mit leuchtenden Vorstellungen über all die Vorgänge hinter den schlichten Türen. Die Siedlung neben dem Umspannwerk allein hat genug Zauber für mich: Hier hat alles, so scheint mir, genau seine richtigen Proportionen. Das liegt, logischerweise, an der direkten Nachbarschaft zum Umspannwerk. Umspannwerke sind generell eine Zauberzutat zu egal welcher landschaftlichen oder architektonischen Situation. Oft summen sie. Man kann dann neben ihnen stehen und den Kopf hin und her bewegen und wahrnehmen, wie sich der Summton im Schädelinneren verändert, er durchläuft je nach Kopfstellung verschiedene Modulationen. Und natürlich die Formen! Oh wie herrlich sind diese riesigen Schraubendinge, in denen der Strom lebt, dick und fett gespeichert. Die dicken Drahtspulen, die Gewinde! Am Anfang von Andrej Tarkowskijs berühmtem Film “Stalker” sieht man auf dem Bahnhofsgelände, wo sich die drei Männer, die in die “Zone” gelangen wollen, treffen, endlos viele dieser Formen. Auf Güterwaggons werden sie durchs Bild geführt, in Lagerhallen wuchern sie. Wer weiß, warum sie meinem Gehirn so wohltun… Ein anderes kleines Umspannwerk, das ebenfalls recht entzückend ist, findet sich übrigens in Graz neben der Seifenfabrik nahe der Barackenhaussiedlung. Umspannwerke sehen immer so aus, als hätten sie etwas vor. Man bleibt neben ihnen stehen, steigt vom Fahrrad, betrachtet sie und weiß, sie sind voller Strom. Ich bekomme ähnliche Gefühle, wenn ich in gotischen Kathedralen nach oben Blicke.

In einer etwas kitschigen Folge der Serie MacGyver kämpft ein nordamerikanischer Ureinwohner gegen die Verlegung von Stromkabeln durch ein Waldgebiet, das seinem Stamm als heilig gilt. Natürlich unterstützt MacGyver ihn dabei. An einer Stelle heißt es (sinngemäß; ich zitiere aus dem Gedächtnis): “Wie würdet ihr euch fühlen, wenn man durch eure Kirchen Hochspannungsleitungen ziehen würde?” Meine Reaktion auf dieses Bild, schon damals, irgendwann Ende der 80er Jahre, als ich die Folge im Fernsehen sah, war eher andächtiges Staunen als Ablehnung. Durch Kirchen sollten unbedingt summende Hochspannungsleitungen verlaufen! Was wären sie für Orte der ekstatischen Präsenz! Gerade deshalb muss mir das kleine Umspannwerk neben dem Grazer Kalvarienberg so perfekt erscheinen: seine Nähe zum (bei näherer Betrachtung etwas bizarren) Kreuzigungshügelchen mitsamt Kapelle. Vor kurzem begegnete ich auf einem Spaziergang dort einem äußerst beglückendsten Anblick: da war ein Liegestuhl direkt im abgezäunten Areal des Umspannwerks. Keine Ahnung, wem er gehörte, und was für ein Wesen in dem dazugehörenden Häuschen wohnte, aber ich wusste: Dort, auf diesem Liegestuhl, will ich sein.

Beitrag aus: Klaus Kastberger (Hrg): Graz. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt (Edition Kleine Zeitung 2018)
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