Altziebler © Stefan Maurer
Altziebler © Stefan Maurer

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie

in Allgemein

Buchtipp für den Sommer von Agnes Altziebler.

Der 1966 in Sarajevo geborene Miljenko Jergović zählt zu den großen europäischen Erzählern unserer Zeit, seine Bücher sind mittlerweile in viele Sprachen übersetzt. Bekannt wurde er auch einer deutschsprachigen Leserschaft mit seiner Kurzgeschichten-Sammlung Sarajevo Marlboro (1996), dann folgten Bücher wie Mama Leone (2000), Buick Rivera (2006), Das Walnusshaus (2008), Freelander (2010), Wolga Wolga (2011) oder Vater (2015). Jergović, der als „virtuoser Chronist und Archivar einer notwendigen Desillusionierung“ bezeichnet wird, hat sich immer schon die Familiengeschichte für seine Romane angeeignet, nun aber liegt sein Mammut-Werk vor, Die unerhörte Geschichte meiner Familie, das tief und breit in die Familien-Geschichte der Mutter vordringt und diese über 4 Generationen ausbreitet. Ein 1000-seitiges Familien-Epos als zeithistorisches Portrait und umfassendes Gesellschaftspanorama, das die Verstrickungen der Familie verknüpft mit den historischen Ereignissen und deren Auswirkungen bis heute. Die Aufarbeitung der Familiengeschichte ist Jergovićs Lebensthema: „Weil“, wie er sagt, „in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt.  Eine Familie ist in gewissem Sinne der Zustand des menschlichen Gewissens.“
Es ist ein unendlicher Fundus an Geschichten und Figuren, Anekdoten, historischen Fakten, biographischen und autobiographischen Details, denen er seine Interpretation angedeihen lässt bzw. die weißen Flecken der Erinnerung mit seinen Vermutungen füllt. Es geht in diesem Roman ums Vergessen, Verdrängen, um offene und nie gestellte Fragen, um Selbstbetrug, sowohl im innerfamiliären wie im historischen Kontext, und darum, dass Erzählen die Welt retten kann.
Es wäre nicht Jergović, würde der Roman nicht von großer Fabulierlust geprägt sein, die sich in verschiedenen Geschichten verzettelt und doch immer wieder den Faden aufzunehmen weiß. Anhand des Schicksals einer Familie und deren politischen und gesellschaftlichen Verstrickungen rollt er die Geschichte eines ganzen Landes auf, die nicht als Allegorie, sondern als „dokumentarische Fantasie“ verstanden werden soll.
Manchmal sind es Bausteine, die verschoben und zusammengesetzt werden; dann sind es einzelne abgeschlossene Romane innerhalb des Buches. Alles, nur keine lineare Erzählung. Aber das war auch nicht zu erwarten. Jergović lässt seiner Fabulierlust freien Lauf und zähmt sie gleichzeitig ganz gezielt; spielt gekonnt mit verschiedenen Genres, er zieht Kreise, er wiederholt, interpretiert, wechselt die Perspektive, kommentiert sein Schreiben, bringt sich als Autor mit poetologischen Überlegungen ein.
Und natürlich geht es in diesem Roman um Schlüsselfragen kultureller, nationaler, sprachlicher Identität, bezieht sich Jergović auf historische Ereignisse, etwa auf die kroatische Geschichte und dabei besonders um den Umgang mit dem faschistischen Erbe, den jugoslawischen Sozialismus und den nationalistischen Chauvinismus, das unfassbare Treiben im letzten Krieg, auf Fragen der Identität und der Religion. Er, der qua seiner Herkunft sich multikulturell begreift und an einem ebensolchen Ort aufgewachsen ist, dekonstruiert das Konzept der ethno-nationalen Identität, indem er für sich „Zugehörigkeit durch Nichtzugehörigkeit“ definiert.

Jergovićs Familiensaga ist voluminös, ja, aber spannend, ironisch, informativ, empathisch, von der Form her ein Ziegelstein, vom Inhalt her ein Goldbarren, den man zuweilen auch zur Nackenstütze umfunktionieren kann.

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman. Schöffling 2017, 1137 Seiten