Cat-Content aus Graz: Hans Leifhelms „Unwahrscheinliche Geschichte“

in Objekt des Monats

Notizbuch mit eigenhändigen literarischen Entwürfen und Notizen von Oktober 1926 bis Mai 1927 aus dem Teilnachlass des Schriftstellers Hans Leifhelm am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung. Ledereinband, buntes Vorsatzpapier und roter Schnitt, 10,7 x 13 cm, 58 Bl. Manuskript von „Unwahrscheinliche Geschichte“ auf Bl. 44v–45v. Signatur: FNI-LEIFHELM-4.1.2

Die TU Graz wurde wegen Sinnlosigkeit aufgelöst. An ihrer Stelle befindet sich ein verblüffender Gastronomiebetrieb: das Café Katzengarten, in dem einige Dutzend Katzen mit Milch, Kaffee und Schokolade bewirtet werden. Dieses so gegenwärtig wirkende Stück Cat-Content findet sich bei einem Schriftsteller, bei dem man diesen subversiven Humor nicht unbedingt vermuten würde. Schließlich gilt Hans Leifhelm (1891–1947) zwar als großer Naturlyriker und dichterische Begabung, die ihrer Wiederentdeckung harrt, nicht aber als Autor komischer Miniaturen oder Meister des Phantastischen. Insofern ist die kurze Erzählung gleich in mehrfacher Hinsicht eine „Unwahrscheinliche Geschichte“.
Leifhelms so betitelter Text wurde kürzlich erstmals veröffentlicht. Die Grundlage für die Fassung im von Ralf Georg Czapla herausgegebenen Leifhelm-Band „An des Abgrunds schmalem Saume“ (Berlin 2022, S. 213f.) bildet dabei ein Typoskript aus dem Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Ihren Ursprung hat die Geschichte aber in Graz und in einem Notizbuch im Teilnachlass Hans Leifhelms am Franz-Nabl-Institut. Das kleine Büchlein mit Ledereinband, buntem Vorsatzpapier und rotem Schnitt enthält als Bleistifteintrag aus dem Mai 1927 das Manuskript der „Unwahrscheinlichen Geschichte“:

Unwahrscheinliche Geschichte
Wer weiß sicher zu unterscheiden, was in der Vergangenheit Wirklichkeit, was Traum gewesen. Oft gilt dasselbe für die Gegenwart.
Ich ging durch die Lessingstraße in G. Alles war wie früher, im Hause Nr 30, wo die lahme Maschinschreiberin wohnt, saß der streitlustige Dackel noch immer im offenen Fenster, beim Hause Nr 36 roch es noch so aus den Kellerlöchern – diesen gleichen Geruch habe ich in der Friesenstraße in Cöln wahrgenommenen und in einer engen Gasse der Londoner Slums. Nur die Technische Hochschule war verschwunden. Vielleicht war schon alles Technische in der Welt vollkommen geordnet und die Hochschule deshalb überflüssig geworden. An ihrer Stelle stand eine Reihe von Häusern mit einem durchlaufenden Vorgarten, von der Straße getrennt durch ein Eisengitter. Und hinter dem Gitter waren gegen 50–60 Katzen zu sehen, zum Teil hielten sie sich mit den Vorderpfoten am Gitter fest. Alle hatten wildkatzenartige, aber freundliche Gesichter. Da öffnete sich die Tür des Hauses, und heraus kam ein sauberes Mädchen, mit weißem Häubchen und weißer Schürze. In der Hand trug sie eine gefüllte Kaffeeschale. „Wer hat Durst“ rief sie. Eine Katze meldete sich mit „Miau“ und bekam die Schale vorgesetzt. Weitere Menschen kamen mit Milchschalen und servierten.
Ich ging weiter. Da war der Eingang in den Vorgarten, daran ein großes Schild: „Café Katzengarten. Kaffee, Tee, Schokolade zu jeder Tageszeit. Auch für Menschen“.
Ich hatte keine Zeit, einzukehren. Später fand ich nicht mehr Gelegenheit hinzugehen.

Hans Leifhelm war 1923 nach Graz gezogen und bewohnte mit seiner Familie eine Wohnung im Rosenhof am Oberen Plattenweg, von wo er zu Fuß über eine Stunde zu seinem Arbeitsplatz beim Steirischen Arbeitsnachweis (also dem Arbeitsamt) pendelte, bevor er ab 1928 in der Rechbauerstraße wohnte – also nahe der Technischen Hochschule. Für die „Unwahrscheinliche Geschichte“ schöpft er aber aus einer früheren Erfahrung: Schon 1923 hatte er kurze Zeit in unmittelbarer Nähe des Schauplatzes in der Technikerstraße gewohnt und die Gegend erkundet.
So ‚unwahrscheinlich‘, fantastisch oder traumähnlich die Geschichte auch wirkt, ihren Schauplatz verortet sie äußerst realistisch. „Diese Straße kenne ich aus der Erfahrung gut und genau“, heißt es im veröffentlichten Text über die Lessingstraße, alles sei „wie früher“, im Manuskript. Dass die Maschinschreiberin, der Dackel und der unangenehme Geruch aus dem Leben gegriffen sind, bleibt derzeit nur zu vermuten; jedenfalls gibt es die Kellerluken. Leifhelm achtet bei seiner Überarbeitung des Textes zudem auf Präzision: Geht es im Manuskript noch ungenau und vielleicht irrtümlich um die Lessingstraße 36 (das wäre das Eckhaus an der Mandellstraße, das aber nicht so nummeriert ist), ist es im Typoskript das Haus Nummer 27, das an das Gelände der TU grenzt und der Nummer 30 schräg gegenüberliegt. Diesem realistischen Setting, zu dem auch Leifhelms Blick für die arbeitende Bevölkerung, soziale Probleme und schlechte Wohnverhältnisse gehört, wird unvermittelt das surreale Katzencafé gegenübergestellt.
Auch die Katzen selbst scheinen zunächst aus dem Leben gegriffen. Felix Braun sieht in der titelgebenden Gestalt von Leifhelms Gedicht „Die Katze“ (in: „An des Abgrunds schmalem Saume“, S. 50–54) „die geliebte Katze aus der Kindheit“ („Zeitgefährten“, München 1963, S. 95) und Ingrid Bröderer erklärt in ihrer Dissertation „Hans Leifhelm. Versuch einer Monographie“ (Wien 1961, S. 7) sogar, wie dieser angesichts der Nüchternheit seiner Familie, des „robusten“ Vaters und der überarbeiteten Mutter, nach Ersatz suchte: „So zog sich schon der Knabe ganz in seine eigene Welt, die Welt der Natur zurück. […] Nach außen hin scheu […] fand er ohne Schwierigkeiten engsten Kontakt mit Tieren. Bereits als Kind empfand er die Liebe zum Bruder Tier. Er entwickelte eine große Vorliebe für Katzen.“
Mit der Formulierung vom Bruder (oder der Schwester) Tier ist ein zentraler Punkt des Textes angesprochen: Von der christlichen Tradition hierarchischer Verhältnisse von Mensch und Tier abweichend und dabei über seinen verehrten Franz von Assisi hinausgehend, betont Leifhelm nicht nur Wesensverwandtschaft und Verbundenheit, sondern auch die Gleichstellung der beiden (vgl. Bröderer, S. 44, 47 und 186). Diese Idee treibt die „Unwahrscheinliche Geschichte“ auf die Spitze, wenn am Eingang des Café Katzengarten auf dem Schild „Auch für Menschen“ prangt. Leifhelm spitzt die Sache bei der Überarbeitung des Textes weiter zu: Die im Manuskript nur miauenden Katzen geben in der veröffentlichten Version klar sprechend Bestellungen auf und verkörpern so ein Verhältnis zu den Menschen zumindest auf Augenhöhe. „Der Mensch steht dabei nicht nur auf einer Stufe mit allen übrigen Geschöpfen der Erde, sondern scheint auch in mystischer Gemeinschaft mit ihnen zu leben“, erklärt Ralf Georg Czapla (in seinem Beitrag „Der Schriftsteller Hans Leifhelm (1891–1947). Archivalische Bausteine für eine wissenschaftliche Biographie“ 2020, S. 50).
Die „Unwahrscheinliche Geschichte“ erzählt aber auch etwas anderes, wenn sie den entspannt im Café bedienten Katzen gebeutelte Menschen in der Lessingstraße, gestresstes Servicepersonal und einen Erzähler gegenüberstellt, der so gehetzt ist, dass er weder einkehren noch später zurückkehren kann. Verbunden mit der Abschaffung der Technischen Hochschule kommen hier einige von Leifhelms pessimistischeren Grundthemen zum Vorschein: Zivilisations-, Stadt- und Technikkritik. „Die Welt ist weit, die Stadt ist eng“, heißt es etwa in der Erzählung „Unter Steinen“ (in: „An des Abgrunds schmalem Saume“, S. 217), in der die drückende Enge und Unruhe der Stadt den Erzähler sogar zu Vernichtungsfantasien treibt, und oft werden den problematischen Städten Schönheit und Ruhe des Landes gegenübergestellt. Leifhelm sieht aber auch dieses durch Technik und Überindustrialisierung gefährdet, sogar das von ihm geliebte steirische Land ist betroffen: „In loderndem Feuerschein stehen die Hochöfen am Fuße waldbewachsener Berge, Stahl- und Walzwerke lärmen vor den Toren von Roseggers Waldheimat“ (S. 252).
Kein Wunder also, dass der Erzähler davon träumt, dass technische Hochschulen überflüssig geworden sind, dass alles Technische geordnet und gelöst ist. Ein Gedanke, der uns angesichts der Klimakrise und der Hoffnungen auf rein technische Lösungen nur zu vertraut ist. Doch wie der Erzähler wissen wir: unwahrscheinlich. Traum und Wirklichkeit scheinen, wie der Textanfang anspricht, schwer voneinander zu trennen. Und hier kommt noch einmal die überarbeitete, veröffentlichte Fassung ins Spiel, die Leifhelm mit einem Plädoyer für eine mögliche Wirklichkeit des Traumes, der Fantasie und der Vorstellung und damit auch für die Wirksamkeit von Literatur versieht: „Ist es gewiss, dass die Wirklichkeit an der Schwelle des Traumes endet, dass nur das Geschehen des wachen Tages die Wirklichkeit in sich schließt? Diese Frage zu lösen, wird hier nicht versucht. Es sei erzählt, was sich begab.“

Stefan Alker-Windbichler