I.N. 221.001/1 – BS 37 a [1], Bl. 6 (Nachlass Ödön von Horváth an der Wienbibliothek im Rathaus).
Das Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald, an dem Horváth in den Jahren 1930 und 1931 arbeitete, geht auf ein Dramenprojekt zurück, das den Titel Die Schönheit aus der Schellingstrasse trug und noch in München in der genannten Straße angesiedelt war. Von dort wird es schließlich in die „stille Straße im achten Bezirk“ in Wien verlegt und zu einem Sittenbild des Wiens der Zwischenkriegszeit. Die lokale Transposition führt auch im Figureninventar des Stücks zu Metamorphosen. So wird aus dem nicht näher bezeichneten Vater der Agnes, wie die Frühform Mariannes noch hieß, ein Hofrat (dritte Konzeptionsphase) und schließlich der Inhaber der Puppenklinik, der Zauberkönig.
„Ein Volksstück und die Parodie dazu“, schrieb der bekannte Wiener Kritiker Alfred Polgar in der Weltbühne anlässlich der Uraufführung des Stückes am 2. November 1931 im Deutschen Theater Berlin (Regie: Heinz Hilpert). Und zugleich warnte er davor, das Stück ausschließlich auf die Wiener zu beziehen: „Zweifellos wienerisch an den Menschen des Spiels ist ihr, so böse wie gut gesehenes, Gegeneinander-Miteinander, ihre Eintracht auf Basis boshafter Geringschätzung, ihre enge, liebevolle Verbundenheit durch den Kitt wechselseitiger Mißachtung. Was sich sonst im Stück begibt, könnte auch anderswo als im österreichischen Seelen-Klima vorkommen, Geschlechts- und Geldgier sprechen in jeder Mundart ziemlich denselben Text, daß der Mensch aus Gemeinem gemacht ist, ist keine Besonderheit der wienerischen Küche, und im skurrilen Affentanz dreht sich das Leben nicht nur nach der Musik von Johann Strauß.“
Das hier gezeigte Blatt gehört in der Korrekturschicht zu Konzeptionsphase vier von Geschichten aus dem Wiener Wald, als das Stück noch sieben Bilder aufweist, statt der drei Teile der Endfassung. Die Grundschicht hingegen entstammt noch der dritten Konzeptionsphase, der Hofrat-Konzeption. In einer ersten handschriftlichen Notiz rechts oben auf dem Blatt fällt auch noch der Figurenname Hofrat. Die Stellung an der Schwelle zur vierten Konzeptionsphase zeigt sich insbesondere an der Ersetzung der Figurennamen Agnes durch Marianne, Frau Kramer durch Mathilde (die spätere Valerie) und Vater durch Zauberkönig. Bei dem auf dem Blatt realisierten Text handelt es sich um eine Szene des zweiten Bildes „Am nächsten Sonntag im Wiener Wald“, und zwar ist es die bekannte Diskussion über die „Seelenwanderung“. Neben den erwähnten Figuren tauchen hier auch der Fleischhauer Oskar, der Strizzi Alfred, der Deutschnationale Erich und zwei Tanten auf. Die versammelte Ausflugsgesellschaft, die die Verlobung zwischen Agnes/Marianne und Oskar feiert, überbietet sich gegenseitig darin, in den Anderen tierische Vorfahren zu erblicken. Dies erinnert an Horváths berühmten Ausspruch „Sans ned tierisch?“, der auf den Punkt bringt, was in Kasimir und Karoline in der Szene bei den Abnormitäten nur aufleuchtet, nämlich dass die Abnormitäten in ihrem Denken und Empfinden menschlicher sind als ihre scheinbar ‚normalen‘ Zeitgenossen. Die tierischen Artgenossen, die die Figuren füreinander finden, reichen – in der Grundschicht – von der Wildkatze, dem Leoparden, dem Rennpferd und dem Lamm über den Vampyr bis zum Werwolf. Über Letzteren sagt Oskar: „Es ist doch immerhin möglich, dass es Werwölfe gibt.“
Damit hatte sich der Dialog in eine Richtung entwickelt, die Horváth schließlich nicht mehr passte, weshalb er den gesamten maschinenschriftlichen Text durch einen handschriftlichen ersetzte. Dort spitzt der Autor den Dialogverlauf zu und zwar lässt er ihn bereits zum Ort eines Konflikts zwischen Mariannes Verlobtem Oskar und seinem sich gerade formierenden Nebenbuhler Alfred werden. Während Oskar meint, Marianne sei wohl in ihrem früheren Leben einmal ein Lamm gewesen, was Marianne mit dem aufbegehrenden Satz: „Das würde Dir so passen“ kommentiert, schmeichelt ihr Alfred mit den Worten: „Nein. Das Fräulein Braut ist ein Tier mit grossen Augen. Eine Gazelle, wie sie die schwermütigen Wüsten Afrikas beleben.“ Darauf folgt eine für Horváth symptomatische „(Stille)“, in der „das Bewusstsein und das Unterbewusstsein miteinander kämpfen“, wie Horváth in der berühmten Gebrauchsanweisung schreibt. Diese „(Stille)“ wird vom Zauberkönig unterbrochen, der wissen will, welchem Tier er entspricht. Mathilde kontert mit: „Ein Hirsch. Ein alter Hirsch“, worauf die versammelte Gesellschaft in „(Grosses Gelächter)“ ausbricht. So bricht Horváth die Romantik der Replik Alfreds durch einen komischen Sager Mathildes und bewahrt die Szene davor ins Kitschige abzudriften.
Nicole Streitler-Kastberger
Das vorgestellte Typoskriptblatt ergänzt die von der Verfasserin gemeinsam mit Martin Vejvar kuratierte Ausstellung „‚Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur‘ – Ödön von Horváth und das Theater“, die von 10.1.–23.3.2020 im Literaturhaus Graz zu sehen ist.