„Ich bin mit dieser Ehre in eine fast peinliche Not geraten“: Alfred Kolleritsch zum Erhalt des Franz-Nabl-Preises 2009

in Objekt des Monats

Grünes DIN-A5-Quartheft, 40 Blatt, liniert, mit der Aufschrift „F. N. Sept. 09“, in dem Alfred Kolleritsch im September 2009 auf 16 Seiten einseitig seine Rede zum Erhalt des Franz-Nabl-Preises der Stadt Graz skizziert hat. [FNI-KOLLERITSCH (Notizbücher)].

Am 29. Mai dieses Jahres jährt sich der Todestag des Doyens der deutschsprachigen Literatur zum zweiten Mal. Alfred Kolleritsch wird heute als „Monolith“ in der Literaturlandschaft verehrt, als „Mentor, Förderer, Entdecker neuer Talente, die kaum zählbar sind“[1]. Unter seinem „Zepter“ sei Graz zur „heimliche[n] Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur“[2] avanciert. Sein editorisches Vermächtnis, die Literaturzeitschrift manuskripte, wird mit vergleichbarem Zug ins Große nicht nur als „heimische Talenteschmiede“[3] oder „eines der einflussreichsten heimischen Sprachrohre neuer und experimenteller Literatur“[4] charakterisiert, sondern auch als „gigantische Schaubühne der deutschsprachigen Literatur“[5] oder – mit beneidenswertem Absolutheitsanspruch – überhaupt als „bedeutendste Literaturzeitschrift in allen deutschsprachigen Ländern“[6].
Das Literaturhaus Graz hat von Kolleritsch kurz vor dessen Ableben ein Konvolut aus 175 Notizbüchern, Notizblöcken und Schreibheften aus den Jahren 1950 bis 2018 angekauft. In drei Archivboxen finden sich bis dato noch nicht näher ausgewertete Materialien des bedeutenden Autors und Herausgebers: Neben einigen Prosafragmenten, Gedichten und Gedichtentwürfen und einer Dramenskizze sind in erster Linie tagebuchartige Aufzeichnungen, Unterlagen zu seinem Lehrerberuf, Reiseaufzeichnungen (u. a. Japan, USA, Frankreich, Schweiz, Deutschland, Italien, Polen, Jugoslawien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Griechenland, Ukraine, Russland), Rede- und Textentwürfe, Briefentwürfe, Adressen, Verzeichnisse von Telefonanrufen (teilweise mit Angaben zu Dauer und Gesprächsinhalt), Termineintragungen, Anmerkungen zu Ereignissen (Kulturhauptstadtjahr, diverse Jubiläen usw.), Portraitskizzen, Reflexionen, (autobiografische) Erinnerungen, Notate über eine Schreibkrise („Die Sätze sind nicht zu finden“), anlassbezogene Texte (zum Tod Günter Waldorfs, über Peter Handke u. v. m.), Lektürelisten und -notizen, Musikhinweise, Notizen zur Literatur Peter Handkes sowie Zeichnungen seiner Kinder enthalten. Ein reicher Fundus, der als eine Art Hintergrundrauschen zum publizierten Werk manch aufschlussreiche Querbezüge ermöglichen und – zieht man das Netzwerk des Nabl-Preisträgers 2009, seine respektgebietende Position im Feld der deutschsprachigen Literatur in Rechnung – nicht alleine der Kolleritsch-Forschung spannende neue Perspektiven eröffnen dürfte.
Immer wieder kreisen die Notizen und Erinnerungen um die Gründung der Zeitschrift manuskripte, ihre Geschichte und Etablierung. In den Notizbüchern sind oft erste Entwürfe für seine marginalien zu finden, wie z. B. für jene, die im Zuge der Realismusdebatte in Heft 27 (1969) erschien.[7] Mit diesen Randnotizen hat Kolleritsch nicht selten auch pointiert kulturpolitisch Stellung bezogen; die Erwägungen und (teils) ungefilterten Emotionen dahinter sind in seinen Notizbüchern konserviert. So, gleichsam als ‚Homme de Cahiers (avant de Lettres)‘, beschreibt ihn auch Jochen Jung, der die Laudatio bei der Verleihung des Preises hielt, aus einer Erinnerung an einen gemeinsamen Griechenlandurlaub heraus: „allein unten auf einem der letzten Marmorsessel der ersten Reihe über sein Notizbuch gebeugt, schreibend“.[8]
Im grünen Quartschulheft der Marke Libro notierte Kolleritsch einen Entwurf für seine Dankesrede zum Erhalt des Franz-Nabl-Preises der Stadt Graz im Jahr 2009. Mit schwarzem und blauem Fineliner sowie blauem Kugelschreiber hält er Gedanken zu und vor allem Erinnerungen an Franz Nabl fest. Die Jury stelle ihn durch Zuerkennung des Preises „in eine Reihe […] mit bedeutenden Dichter [!]“,[9] eine Ehre, die den nach schwerer Krankheit Rekonvaleszenten, der sich aufgerufen fühle, „die zerrissenen Fäden wieder zu knüpfen“, in „fast peinliche Not“ bringe. Der Entwurf ist mit zahlreichen Streichungen, Ergänzungen und Korrekturen versehen. Eine Transkription wurde graphemgenau angefertigt und verzichtet gemäß editorischen Standards auf eine unmarkierte Emendation (etwa der durchgängig fehlenden Umlaute) oder die Markierung von Fehlern im Text.
Die Jury, bestehend aus Heinz Hartwig, Markus Jaroschka, Gerhard Melzer, Eva Orgler-Schäffer, Birgit Pölzl und der Preisträgerin von 2007, Terézia Mora, begründet ihre Auswahl mit dem besonderen Schreiben Kolleritschs, das durch „die Entgrenzung, die Öffnung, die Weitung“ und das Grundanliegen geprägt sei, „[z]u sprechen, ohne vorschnell Bedeutungen zu stiften“. Der Autor und Herausgeber werde für sein „bedeutendes literarisches Werk“ ausgezeichnet sowie dafür, dass er „fünf Jahrzehnte lang als Herausgeber der ‚manuskripte‘ der Gründervater der Literaturstadt Graz war und ist“.[10] Auch in den regionalen wie überregionalen Medien ist der Zuspruch für den Preisträger groß, wie eine Recherche in der Zeitungsausschnitt-Sammlung am Franz-Nabl-Institut ergab. Ein paar wenige Beispiele seien angeführt: Die Kleine Zeitung kürt Kolleritsch im Juni 2009 zum Steirer des Tages und bezeichnet ihn als „Monolith, nicht nur in der österreichischen Literaturlandschaft“[11], die Kronen Zeitung vom 8. Oktober,[12] dem Tag der Preisübergabe, nimmt auf Kolleritschs durchwachsene Geschichte mit Preisen Bezug und verweist auf das berühmt gewordene Foto, das ihn gemeinsam mit Peter Handke, Gerhard Roth und eben Franz Nabl zeigt.[13] In einem zweiseitigen Interview mit dem Falter wird ebenfalls die Bekanntschaft der beiden ungleichen Männer thematisiert.[14]
Kolleritsch widmet seine Preisrede denn auch dieser besonderen Verbindung mit dem Namensgeber der Auszeichnung. Er schildert den ersten Besuch bei Franz und Ilse Nabl, gemeinsam mit Wolfgang Bauer und Alois Hergouth, der den Kontakt hergestellt hatte. Die spätere „Besucherrunde“, bestehend aus Kolleritsch, Peter Handke, Wolfgang Bauer und Gerhard Roth, spricht mit Nabl über sein Leben und Werk, Kolleritsch thematisiert weiters das „Weltbild Franz Nabls als Ausdruck einer Zeit − die wir als vergangene Welt kennenlernen wollten“. Die Geselligkeit kam dabei keineswegs zu kurz, immerhin „verschwendete“ der Gastgeber „reich seinen Vogelbeerschnaps − das Elixier − ich darf das so nennen unserer Freundschaft.“ Kolleritsch und Bauer sind es schließlich auch, die Nabl am Sterbebett begleiten:

Wolfi Bauer + ich waren die letzten Besucher. Mit Nabls Frau saßen wir neben dem im Koma versinkenden Dichter. Plötzlich riß er die Arme hoch verfluchte namentlich einige. Sie hatten ihn von den Jungeren bewußt ferngehalten. Es war ein niederschmetternd Augenblick fur uns − wenige Augenblicke spater starb er.

Der Kreis schließt sich, wenn Kolleritsch am Ende seiner Rede auf den Nachlass Nabls und die Gründung eines nach ihm benannten Institutes verweist: „das Nablinstitut im Literaturhaus – da sitzen wir jetzt.“ Mit dem Franz-Nabl-Institut war Kolleritsch eng verbunden, im Februar 2020 hat er hier seinen letzten Gedichtband präsentiert. Der Kreis schließt sich jedoch gewissermaßen auch für Kolleritschs Nachwirken, hatte sich Jung in seiner Lobrede doch in Wunschdenken geübt: „Ich gebe es zu, am meisten würde es mich entzücken, würde AK heute der AK-Preis verliehen.“[15] 2021 wurde der mit 7.500 € dotierte Alfred-Kolleritsch-Würdigungspreis der Stadt Graz ins Leben gerufen. Er soll alternierend zum Franz-Nabl-Preis biennal in geraden Jahren vergeben werden (erste Preisträger, rückwirkend für 2020: Aleš Šteger und die von Udo Kawasser initiierte POESIEGALERIE).

[1] Werner Krause: Er ging, doch er bleibt für immer. In: Kleine Zeitung (Graz) vom 30.05.2020, S. 76f.
[2] Willi Winkler: Zum Tod von Alfred Kolleritsch. Der Dichtervater von Graz. In: Süddeutsche Zeitung (online) vom 30.05.2020. URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/alfred-kolleritsch-nachruf-1.4923200 [02.04.2022].
[3] Evelyne Polt-Heinzl: Alfred Kolleritsch: Ein immer wieder Staunender. In: Die Furche (online) vom 30.05.2020. URL: https://www.furche.at/feuilleton/alfred-kolleritsch-ein-immer-wieder-staunender-1255843 [02.04.2022].
[4] Michael Wurmitzer: Autor Alfred Kolleritsch gestorben. In: Der Standard (online) vom 29.05.2020. URL: https://www.derstandard.at/story/2000117797244/der-autor-alfred-kolleritsch-ist-gestorben [30.03.2022].
[5] Klaus Kastberger: Das Her-Zeigen war sein Metier. Zum Tod des Schriftstellers und Herausgebers der Literaturzeitschrift manuskripte, Alfred Kolleritsch. In: Falter 23/2020 vom 03.06.2020, S. 29.
[6] Winkler (wie Anm. 2).
[7] Siehe dazu das Objekt des Monats Oktober 2020 von Lisa Erlenbusch: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/detail/article/objekt-des-monats-oktober-2020/
[8] Laudatio von Jochen Jung zur Verleihung des Franz-Nabl-Preises an Alfred Kolleritsch auf der Website des Kulturservers Graz: http://static.kulturserver-graz.at/kultur/pdfs/rede_dr_jochen_jung.pdf
[9] Siehe dazu das Objekt des Monats Dezember 2019 von Gerhard Fuchs: https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/detail/article/objekt-des-monats-dezember-2019/
[10] Jurybegründung zum Franz-Nabl-Preis auf der Website des Kulturservers Graz: http://static.kulturserver-graz.at/kultur/pdfs/jury_kolleritsch.pdf
[11] Werner Krause: Er baut Denkmäler, dauerhafter als Erz. In: Kleine Zeitung vom 28.06.2009, S. 20f.
[12] Manuela Reichart: „Eine längst fällige Würdigung!“ In: Kronen Zeitung (Graz) vom 08.10.2009, S. 47.
[13] Siehe dazu Daniela Bartens: Literaturgeschichte im Bild. In: steirische berichte 2021, H. 2, S. 26f.
[14] Thomas Wolkinger: Aus heiterem Himmel. In: Falter 36/2009 vom 02.09.2009, S. 48-50.
[15] Jung (wie Anm. 8).