Ansichtskarte Viktor Geramb an Franz Nabl
Ansichtskarte Viktor Geramb an Franz Nabl

„Ist das ein unsagbar herrliches Land!“ – Ansichtskarte von Viktor Geramb an Franz Nabl

in Objekt des Monats

Ansichtskarte (13,5 x 8,9 cm) mit einer Luftaufnahme des Türnitztals (vermutlich gekauft im niederösterreichischen Annaberg bei Mariazell) von Viktor Geramb (1884‒1958) an Franz Nabl (1883‒1974), datiert und mit Poststempel „Heiligenkreuz (b. Baden)“ vom 26. Mai 1950, aus dem Nachlass von Franz Nabl am nach ihm benannten Institut für Literaturforschung (FNI-Nabl-K2-Geramb [26.5.1950]).

„Sommerfrische Annaberg, N[ieder]-Do[nau]“ steht auf der 1942 vom bekannten Wiener Postkartenverlag Paul Ledermann aufgelegten Ansichtskarte mit imposantem Blick ins Türnitztal, die Viktor Geramb im Frühjahr 1950 aus Heiligenkreuz im Wienerwald an seinen Freund Franz Nabl in Graz schickte. Die bis zur Unscheinbarkeit abbreviierte Regionalbezeichnung „N.-Do.“ könnte man noch übersehen, spätestens die Verlagsangabe auf der Rückseite mit dem Vermerk „Nachdruck verboten – Freigegeben durch R[eichs]L[uftfahrt]M[inisterium]“ zerstreut jedoch jegliche Zweifel über die zeitliche Einordnung des Druckwerks. Dass eine Postkarte aus der NS-Zeit – zumal mit unzweideutiger Nomenklatur, zumal inmitten der sowjetischen Besatzungszone – fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs unverhohlen und gewiss nicht als verstaubtes Einzelstück über den Ladentisch ging, um in der Folge mit einer 30-Groschen-Marke der Republik Österreich frankiert zu werden, mag heutige Betrachtende in Erstaunen versetzen. Als pragmatische Erklärung wird man nicht unbedingt die erst Jahrzehnte später einsetzende ernsthafte Aufarbeitung des nationalsozialistischen Erbes Österreichs heranziehen müssen, sondern eher eine ressourcenorientierte Nachkriegswirtschaft, die nach den Entbehrungen der Kriegsjahre ungern etwas ‚verkommen‘ ließ. Der landschaftlichen Schönheit der Sommerfrische-Destination Türnitztal dürfte abgesehen davon über jene mitnichten ‚tausendjährige‘ dunkle Zeit hinweg eine ähnliche Kontinuität beschieden gewesen sein wie den Einstellungen und Meinungen in den Köpfen eines großen Teils der Bevölkerung. Wozu also ein harter Schnitt und Neuanfang?

Die Sommerfrische jedenfalls, die sich bereits seit den 1990er Jahren – bedingt durch vermehrte Hitzetage und Tropennächte und die damit einhergehende Sehnsucht nach Naherholungsgebieten ‒ wieder im Aufschwung befindet, erlebt seit der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Reisebeschränkungen einen regelrechten Boom, wie sich im Übrigen auch anhand von touristischen Werbesujets unschwer erkennen lässt. Modernisierung, Urbanisierung, Verdichtung und eine Beschleunigung des alltäglichen Lebens sind seit jeher treibende Faktoren für die Stadtflucht. Waren diese ländlichen Aufenthalte, die von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten dauern konnten, schon im 19. Jahrhundert keineswegs mehr nur dem Adel vorbehalten, wurden sie nach der vorletzten Jahrhundertwende zusehends zu einem Signum bürgerlicher Lebensführung. Aufgrund neuer Arbeitszeitregelungen wurden Sommerfrischen zudem für immer breitere Bevölkerungsschichten möglich. Der Gegensatz zur Arbeit, Ruhe, Erholung und der vielzitierte ‚Luftwechsel‘ waren und sind wichtige Anreize für eine derartige Reise aufs Land.

So vermutlich auch für Viktor Geramb, seit 1949 ordentlicher Professor für Volkskunde an der Universität Graz, der Franz Nabl von einem Pfingstausflug im Mai 1950 eine Postkarte nach Graz schickte. Der Luftwechsel dürfte auch für ihn ein zentrales Movens für den Urlaub am Land gewesen sein, immerhin geht aus der Korrespondenz mit Nabl hervor, dass Geramb kein großer Freund der Motorisierung war, wenn er unter anderem von der „Auto- und Motorradpest“ schreibt (vgl. FNI-Nabl-K2-Geramb [30.7.1953]). Doch auch Nabl kritisiert in einem Brief des am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Graz aufbewahrten Geramb-Nachlasses die modernen Fortbewegungsmöglichkeiten und vor allem die damit einhergehende Verschlechterung der Luftqualität: „[S]o benütze ich denn diesen glutheissen Sonntag, während an unserem Haus vorbei Auto nach Auto und Motorrad nach Motorrad zum Samsonumzug nach Tamsweg brausen und die ganze Gegend in Staub einwickeln, um Dir, lieber Viktor, das zu schreiben, was ich viel lieber von Angesicht zu Angesicht gesagt hätte.“ (nab-19530726) Im Mai 1950 unternahm Geramb also mit seiner Gattin Frieda, die die Karte ebenfalls eigenhändig unterschrieb, eine „herrliche Obusfahrt Wien ‒ S. Pölten ‒ Lilienfeld ‒ Ödhof ‒ Annaberg ‒ Gscheidt [= Gescheid] Kalte Kuchel ‒ Kernhof ‒ s. Aegydi ‒ Hell [= Hölle] ‒ Hainfeld u. Gerichtsberg – Hafnerberg – Alland – Heiligen Kreuz“. Nach einer Übernachtung in der berühmten Zisterzienserabtei schrieb er, sichtlich enthusiasmiert von der Reise durch das „unsagbar herrliche[] Land“, an Nabl und stellte ein baldiges Wiedersehen „Dienstag […] in Gedersberg“, an seinem idyllisch gelegenen Wohnsitz nahe Graz, in Aussicht.

Dass sich aus der recht umfangreichen Korrespondenz zwischen den beiden Freunden (im Geramb-Nachlass sind 51 Schriftstücke von Nabl erhalten, im Nabl-Nachlass 11 von Geramb) in Nabls vergleichsweise überschaubaren Unterlagen auch diese Ansichtskarte erhalten hat, überrascht keineswegs. Die Reise, die Viktor und Frieda Geramb unternahmen, ging durch eine Gegend, die Franz Nabl nur zu gut kannte: In seiner Kindheit verbrachte er die Sommermonate (ab 1888 bis zum Verkauf 1901) am elterlichen Gstettenhof bei Türnitz in Niederösterreich – ein Sehnsuchtsort, für den er zeitlebens Heimatgefühle hegte. So verarbeitet er in seinem 1911 erschienen Roman Der Ödhof nicht nur Kindheitserinnerungen an den Gstettenhof, sondern auch Natureindrücke und vor allem sein schwieriges Verhältnis zum Vater. Von 1933 bis 1938 hielt er sich außerdem immer wieder im nahegelegenen Schwarzau im Gebirge auf, von wo er Geramb häufig schrieb ‒ nicht zuletzt den Tod seiner ersten Frau Hermenegild, „Mini“, im Juli 1937 versuchte er dort zu bewältigen (vgl. nab-19370727).

Auch im Nachlass von Geramb finden sich verschiedene Ansichtskarten von Nabl, immerhin acht an der Zahl. Nabl berichtete ihm zum Beispiel von seinen Vortragsreisen in Deutschland oder aus Urlauben in der Murauer Gegend. Dementsprechend breit ist das Themenspektrum mit beruflichen Klagen über die Anstrengungen der Vorträge und Reisen bis hin zu profaneren Materien wie der Ausbeute beim Fischen. Nicht nur der Korrespondenz ist zu entnehmen, dass die beiden Männer ein enges freundschaftliches Verhältnis zueinander pflegten ‒ der Umgangston ist vertraut-amikal, die Gruß- und Verabschiedungsformeln stets liebevoll, mitunter wird zutiefst Privates ausgetauscht. Nabl thematisiert die Freundschaft zu Geramb auch in seinen Erinnerungsbüchern Die zweite Heimat (1963) und Meine Wohnstätten (1975). So war es auch Geramb, den Franz Nabl maßgeblich dafür verantwortlich machte, dass er mit seiner Gattin Mini 1934 von Baden endgültig nach Graz übersiedelte.

Dass sich die beiden Männer so gut verstanden, verwundert angesichts Gleichaltrigkeit (Geramb war nur acht Monate jünger als Nabl) und ähnlicher sozialer Herkunft sowie gemeinsamer Interessen und weltanschaulicher Einstellungen kaum. Beide hegten eine große Leidenschaft für die Natur, für Literatur und Themen, die der ‚traditionellen‘ Volkskunde entsprechen, also Brauchtum, Heimat und ‚Volk‘. Überdies waren beide politisch konservativ bis reaktionär eingestellt und im deutschnationalen Lager anzusiedeln. Sie sympathisierten zumindest bis zu einem gewissen Grad mit dem NS-Regime, von dem Nabl – im Gegensatz zu Geramb, der unter anderem aufgrund seines ausgeprägten Katholizismus und seines Naheverhältnisses zum damaligen Landeshauptmann (und dezidierten NS-Gegner) Karl Maria Stepan seiner geliebten universitären Lehrtätigkeit enthoben wurde – auch kräftig profitierte (siehe dazu u. a. das Objekt des Monats Mai 2018 von Gerhard Fuchs). Schließlich waren beide im konservativen, deutschnationalen Kulturzirkel Südmarkrunde tätig, dem unter anderen auch Josef Papesch, Hans Kloepfer und Emil Ertl angehörten.

Nicht allein hinsichtlich der historisch-politischen Konnotation, des differenzierten Spektrums an Reaktionsformen auf den Nationalsozialismus wäre eine größer angelegte Aufarbeitung des Verhältnisses dieser beiden in der steirischen Erinnerungskultur fest verankerten Männer ein lohnendes Unterfangen: Viktor Geramb, ein in seinem Fach führender Gelehrter – er war 1931 der erste Inhaber einer volkskundlichen Professur im gesamten deutschen Sprachraum –, und der häufig als Nestor der nicht nur (traditionsorientierten) Literaturszene der Steiermark apostrophierte Franz Nabl. Die für den vorliegenden Artikel begonnene Auswertung der Korrespondenz soll demnach fortgesetzt werden, eine längere Studie in den Blättern für Heimatkunde ist in Vorbereitung.

Lisa Erlenbusch