„Für Gunter Falks Haikus maßgebliche Information“. Eine Haiku-Zusammenstellung in der „Sammlung Mixner“

in Objekt des Monats

Titelblatt und Einleitung der Typoskriptfassung mit hs. Korr. einer Sammlung von japanischen Haikus aus mehreren Jahrhunderten mit dem Titel Haiku, ohne Herausgeber- und Übersetzerangaben, undat., 184 Bl., hier Bl. 1-3, aus der „Sammlung Mixner“ am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Signatur: FNI-Rundfunktexte (SLG Mixner)-TA 036/03

In jener Systematik, die der ehemalige Leiter der Hörspielabteilungen des ORF Landesstudios Steiermark, später von Ö1 und schließlich des SFB, Manfred Mixner, für seine 2003 an das Franz-Nabl-Institut übergebene Sammlung von Rundfunktexten und -materialien selbst erstellt hat, findet sich folgender Eintrag:

652 – TA 036/03
NN
Haiku (kommentierte Anthologie von Haikus, für Gunter Falks Haikus maßgebliche Information)
Durchschlag des Autorentyposkripts, in Klebebindung, 184 Seiten

 

Es handelt sich um eine in unscheinbares graues Kartonpapier gebundene Typoskriptfassung mit Durchschlägen von ausgewählten Haiku-Übersetzungen, deren Originaltexte der berühmten vierbändigen Sammlung von R. H. Blyth Haiku (Tokyo: Hokuseido 1947) sowie einer zweiten japanischen Anthologie von Asataro Miyamori (Tokyo: Maruzen 1932) entstammen. Wobei die Gliederung des Readers den „fünf Jahresabschnitten (Neujahr, Frühling, Sommer, Herbst und Winter)“ folgt, deren Evokation mittels bestimmter Codewörter, wie etwa „Kirschblüte“, zugleich (jahres-)zeitliche und räumlich-pikturale Vorstellungen aufruft. Den fünf Hauptkapiteln sind jeweils kurze Einführungen mit einer kursorischen Herleitung des codierten Jahreszeitenvokabulars aus den jeweiligen Natur-Gegebenheiten (Tiere, Pflanzen, Klima…) in Japan vorangestellt. Wer die Haikus ausgewählt, angeordnet, übersetzt und fallweise kommentiert hat, lässt sich dem vergilbten Exemplar nicht entnehmen. Ergänzt wird es in Mixners Sammlung durch zwei deutlich weniger umfangreiche, offensichtlich von demselben Verfasser stammende, rot bzw. grün kartonierte Reader zu den beiden japanischen Lyrik-Gattungen des „Tanka“ bzw. des „Senryu“, die ebenfalls keine Verfasserangaben aufweisen. Ein kleiner Hinweis findet sich allerdings in dem „Tanka“-Heft, werden dort doch wenigstens die Initialen des Übersetzers genannt: „übertragen von G.C.“
Erst durch Mixners Hinweis auf deren Bedeutung für Gunter Falk werden die drei undatierten Textsammlungen eines unbekannten Verfassers für die Forschung relevant:

Ich übergab damals Gunter Falk drei Mappen mit Übersetzungen japanischer Lyrik, die jeweils von einem kleinen Aufsatz eingeleitet waren. Eine Mappe war dem Tanka (auch Waka genannt) vorbehalten, das ist ein 31-silbiger Fünfzeiler nach dem Schema 5 – 7 – 5 – 7 – 7, eine Form, die bereits in den Anfängen der japanischen Literatur im 8. Jahrhundert nachweisbar ist; die zweite Mappe war dem Haiku gewidmet, das im 15. Jahrhundert unter dem Einfluß des Zen-Buddhismus als Kurzform des Tanka (dessen zwei 7-silbige Zeilen am Ende weggelassen wurden) entstanden war – wie der Zen-Buddhismus erlebte das Haiku im 17. Jahrhundert seine Blütezeit; in der dritten Mappe schließlich befanden sich Beispiele des Senryu, das ist eine parodistische Spielart des Haikus, mit dem selben Versschema, aber seltsam ironischen inhaltlichen Verkehrungen, benannt nach dem Lyriker Senryu (1718-1790). Diese drei Mappen mit den Durchschlägen von Manuskripten, die an keiner Stelle einen Hinweis auf den Verfasser enthielten, hatte ich zufällig in einem der Papierstapel gefunden, die mein Vorgänger als Leiter der Hörspiel- und Literaturabteilung des ORF-Landesstudios Steiermark, Alfred Holzinger, im Laufe der Jahre im Büro aufgeschichtet hatte. Wir verabredeten, daß Falk zumindest einen Haiku-Zyklus in der Sendereihe Literatur aus der Steiermark (damals immer Samstag nachmittag jeweils 15 Minuten im steirischen Regionalprogramm des ORF) vorstellen sollte, und wenn der Text zu kurz sei, könnten wir ja ein erläuterndes Gespräch aufnehmen.

 

In seinem – zunächst in einem „Dossier extra“ zu Falk (Droschl 2000) publizierten – Essay „Das Leben fühlen. Mitteilungen betreffend Gunter Falks Haikus“ nennt Manfred Mixner den 20.4.1980 als Sendetermin für die Erstpräsentation der ersten Haikus von Falk: „3 jahreszeiten. 17 haikus“, die bald darauf in Heft 68 der Literaturzeitschrift „manuskripte“ veröffentlicht wurden. Die drei Reader hat Falk bei diesem Anlass retourniert, nicht ohne die darin enthaltenen Übersetzungen zu kritisieren.
Seit 1948 die erste Auflage von Eugen Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens erschienen war, jene Annäherung des deutschen, in den 1920er Jahren in Japan lehrenden (und bereits 1937 der NSDAP beigetretenen) Philosophen an den Zen-Buddhismus via Bogenschießen, und spätestens seit die englische Übersetzung 1953 durch ein Vorwort des bekannten japanischen Philosophen und Verfassers mehrerer populärer Zen-Bücher, Daisetz Teitaro Suzuki, „geadelt“ wurde, jenes zwischen Ost und West vermittelnden Philosophen, dessen Darstellungen des Zen-Buddhismus u.a. auf so unterschiedliche Intellektuelle wie Martin Heidegger, Erich Fromm, C.G. Jung oder John Cage Eindruck machten, war in der westlichen Nachkriegsgesellschaft das Interesse an östlicher Spiritualität geweckt, wobei deren martialische Elemente im Rahmen des allenthalben praktizierten Nachkriegseskapismus übersehen wurden bzw. auf ähnliche Polungen – ob innerhalb der diversen Avantgarde-Bewegungen oder bei den Grenzüberschreitern der Beat-Generation – trafen.
Kein Wunder also, dass jenem Zeitgeist auch im Grazer Forum Stadtpark Rechnung getragen wurde: Organisiert durch das „referat literatur“ (Referent 1961-63: Alois Hergouth / Co-Referent Alfred Holzinger) fand – wie Christine Rigler in ihrer Forum-Monografie akribisch verzeichnet – am 20.3.1962 folgender Abend statt: „Tanka, Haiku und Senryu, japanische Lyrik; Gestaltung: Dr. Gerolf Coudenhove-Kalergi; Sprecher: Gertrude Kellner, Alfred Reiterer und Emil Breisach.“ – Womit auch der Verfasser und Übersetzer jener drei Objekte aus der „Sammlung Mixner“ gefunden wäre: Gerolf Coudenhove-Kalergi, Jurist und Japanologe, Sohn eines altösterreichischen Prager Adeligen und Diplomaten und einer japanischen Mutter, Mitsuko Aoyama, die, katholisch getauft, als Maria Thekla Gräfin von Coudenhove-Kalergi mit ihrem Mann nach Böhmen zurückkehrte und während des Zweiten Weltkriegs verwitwet, verarmt und völlig vereinsamt in Mödling bei Wien starb. In Japan wird sie als die erste Japanerin, die nach der Öffnung des Landes nach Europa gegangen ist, verehrt. „Es gibt mehrere Bücher über Mitsu, einen Film, eine mehrteilige Fernsehserie, einen Comicstrip und sogar ein Musical. Mitsu ist darin eine Art fernöstliche Sisi, eine romantische Gestalt im europäischen Dekor der Jahrhundertwende“, schreibt die bekannte ORF-Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi in ihren Erinnerungen Zuhause ist überall über ihre Großmutter, die sie nie kennengelernt hat und deren Leben sie als „Geschichte einer nicht gelungenen Integration“ erzählt. Die Familie verlor nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Ländereien in Böhmen und Barbaras Vater, Gerolf Coudenhove-Kalergi, landete in Graz, wo er neben seinem Brotberuf mehrere Bücher, u.a. mit Übersetzungen japanischer Lyrik, herausbringt – darunter den Band „Japanische Jahreszeiten. Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten“ (Manesse 1963, wiederaufgelegt 2015), in den sowohl die Einleitungen als auch die Übersetzungen aus den beiden Typoskriptfassungen in der „Sammlung Mixner“ beinahe wörtlich aufgenommen sind. Ein Band „Senryu. Japanische Lebensweisheit und Besinnlichkeit im Gedicht“ erscheint 1966 im Zürcher Verlag „Die Waage“.
Ob und inwiefern Gunter Falk durch die Übersetzungs-Arbeiten Coudenhove-Kalergis „maßgebliche Informationen“ erhielt, ob er schon an jenem Abend Anfang der 1960er Jahre im Publikum saß, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Falk selbst hat – Mixner zufolge – über eine englische Übersetzung der Schriften von D. T. Suzuki sein Interesse am Zen-Buddhismus und dessen Gegenüberstellung von zwei Welten entdeckt: der „Welt der Sinne“ mit ihren verstandesmäßig konstruierten, also begrifflichen Unterscheidungen und Trennungen und der sich „unmittelbar offenbarenden“, als real existierend vorgestellten „Welt des Geistes“, einer Welt der (begrifflichen) Ungeschiedenheit und „Ein“-heit, des Unbestimmten und Nicht-Ausdifferenzierten, des „absoluten Schweigens“, das aber (wie Licht und Finsternis) nur in Zusammenhang mit dem „Verlauten oder Sprechen“, also in der Differenzierung, erkennbar wird (Daisetz Teitaro Suzuki in Wesen und Sinn des Buddhismus). Auf Falks für das westliche intellektuelle Denken charakteristische Grundbefindlichkeit eines Auseinanderklaffens von Subjekt und Objekt, Gefühl und Verstand musste die Hoffnung auf eine Überwindung der Trennung in einer „buddhistischen Logik der Identität der Gegensätze“ wie ein Befreiungsschlag aus dem Käfig der narzisstischen Ich-Fixierung wirken. In diesem Kontext muss wohl auch seine Auseinandersetzung mit der Gattung „Haiku“ verstanden werden. Mixner referiert, dass Falk die klassischen japanischen Haikus von Basho, Bushido oder Issa mit ihrer „Ausklammerung des lyrischen Ichs“ und ihrer scheinbaren „Bedeutungslosigkeit“ schätzte. Vermutet werden darf auch, dass Falks Interesse möglicherweise über seine Lektüren der amerikanischen Beat-Literatur und deren Zen-Rezeption, besonders der Haikus von Jack Kerouac, geweckt wurde. Falk schätzt an der Gattung „Haiku“ ihre „asketische Form“ und deren – wie er es ausdrückt – „materialistische“ Ausrichtung, gemeint ist wohl ihre konkrete Gegenständlichkeit und die Aussparung alles Subjektiven.
Wenn jedoch der Übersetzungs-Praktiker Coudenhove-Kalergi die „Kleinheit“ des Haiku zen-buddhistisch damit begründet, dass im Haiku „jeder Gegenstand der Außenwelt bloß eine Erscheinungsform des allein Wirklichen, nämlich Buddhas, ist, und daher in jedem kleinen, unscheinbaren, vergänglichen und scheinbar unwichtigen Ding gleichnishaft das tiefste Wesen des Alls geschaut werden kann“, dass also, um mit Suzuki zu sprechen, die „Welt der Sinne“ selbst die „Welt des Geistes“ transportiert, ohne dass dies explizit zum Thema werden muss, so lassen sich aus Falks wiederholt formulierter Intention, im Haiku „sich überkreuzende Bilder“ zu konstruieren, die „so etwas wie eine dialektische Bewegung“ entstehen lassen, doch ganz andere, genuin westliche Denkfiguren der Auftrennung und Abgetrenntheit ablesen, die aus der Verlusterfahrung den Wunsch nach symbiotischer Vereinigung aufrufen.
Das letzte Haiku in Falks 17-teiligem Haiku-Zyklus 3 jahreszeiten lautet denn folgerichtig:

haben ist trennung
teilen ist sein: ich bin durch
dich wie du durch mich

 

Am 30.4. liest Manfred Mixner im Literaturhaus Graz aus seiner neuen Aufsatzsammlung mit literaturwissenschaftlichen Werk-Interpretationen, Versuche Geschichten zu verstehen (keiper 2019), in der unter anderen sein Essay über Gunter Falks Haikus wiederabgedruckt ist.

Daniela Bartens