„Und ebenso wie es durch Vitrine oder Glasrahmen bei der Musealisierung geschieht, geht auch Archivierung damit einher, dass Schrift zunächst einmal jedem Gebrauch entzogen wird, der am Lesen des Schrifttextes interessiert wäre. Die Schriftträger werden nämlich […] in Archivboxen verstaut und […] magaziniert“, hat der deutsche Mediävist Peter Strohschneider im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (2016) festgestellt.
Tatsächlich sind die im Kontext von Archiv und Museum, also jenen dem kulturellen Gedächtnis verschriebenen Institutionen, angewandten kuratorischen, archivarischen und denkmalpflegerischen Strategien vergleichbar, jedoch ist der ontologische Status eines Objekts, z. B. einer Handschrift Johann Wolfgang von Goethes oder Franz Kafkas, dessen Proceß-Manuskript im letzten Jahr im Gropius-Bau in Berlin vollständig ausgestellt wurde, in einer opaken Archivbox von dem in einer gläsernen Vitrine im Kontext einer Literaturausstellung grundverschieden. Die „Raffinesse des Glases“ besteht ja darin, so Walter Seitter in seiner Physik der Medien, dass es zwar „lichtdurchlässig ist und die Kommunikation mit der Außenwelt in ‚Aussicht‘ stellt“, es andererseits jedoch, z. B. in Form eines Containers, hermetisch abschließt.
Im Archiv sind Nachlässe, durch das seit dem 19. Jahrhundert bestehende Provenienzprinzip definiert, im Kontext der Ausstellung aber werden bislang ungesehene Zusammenhänge hergestellt, kontextualisiert und veranschaulicht. Die Schaffung eines Arrangements, das „bislang nicht existiert hat“ (Manfred Sommer), ist das konzeptuelle Ziel jeder Ausstellung, wobei ihr hinsichtlich der Temporalität die dem Archiv inhärente ‚Dauer‘ fehlt.
Während das Objekt im Archiv in einem Zustand der ‚Latenz‘ (Hans Ulrich Gumbrecht) verharrt, tritt es im Kontext einer Ausstellung nicht nur in einen anderen Ordnungs-, sondern auch Bedeutungszusammenhang. Innerhalb einer ‚Politik des Zeigens‘ (Karen van den Berg) wird dem Objekt im ‚Schaufenster‘ ein Platz in einem kohärenten narrativen Zusammenhang zugewiesen. Das Objekt, zunächst hinter einer Signatur im Ordnungszusammenhang des Archivs verschwunden, erhält erst in seiner Relation zu anderen Objekten einer Ausstellung eine spezifische Qualität, die jedoch gleichzeitig auf ein zentrales Argument hinsichtlich der „Unausstellbarkeit“ jeglicher Form von Literatur verweist, auf die auch Strohschneider referiert: Literatur müsse gelesen werden und sei als sogenannte ‚Flachware‘ kein entsprechendes dreidimensionales Objekt, das der Gattung Museums und seiner Praxis entspreche.
Die Vitrine als ‚Mikroarchitektur‘ im Museum, die durch entspiegeltes Glas Durchblick auf das Objekt zulässt, sollte hinsichtlich typologischer Charakteristika zumindest an einer Seite eine Glaswand oder einen Glasdeckel besitzen und einen Blick auf die im Inneren aufbewahrten Gegenstände gewähren. Sie dient, ebenso wie ein anderes Aufbewahrungssystem, die Archivbox, als Schutzbehälter, der das Objekt vor Beschädigungen, dem Klima und Staub sowie vor Licht, aber auch – insbesondere im Ausstellungsraum – unerlaubtem Zugriff schützen soll.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde, wie Anke te Heesen konstatiert hat, die Kunst- und Wunderkammer der Renaissance von anderen Sammlungstypen abgelöst, da nicht mehr „die Wunder, das Bedeutungsvolle und das Einmalige“, sondern nun vielmehr „das Regelhafte, das Typische und das Ordnungsbelegende“ zum Merkmal der gespeicherten Dinge wurde. Vermehrt wird Glas in Sammel- und Wissensmöbel wie den Schrank eingesetzt, die als ‚Zeigemöbel‘ auf die doppelte Funktion des Zeigens und des Deponierens verweisen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzieht sich in der Ausdifferenzierung von Wissensmöbeln dann die endgültige Trennung von Präsentation und Depot.
Der Literaturausstellung als verhältnismäßig junger Gattung (Stichwort: „Zimelienschau“, 1844 war die erste deutsche Literaturausstellung in Frankfurt Goethe gewidmet) geht aber durchaus die seit der römischen Antike gebräuchliche Tradition voraus, Schriftrollen bzw. Bücher zu zeigen. Ebenso ist die Geschichte literarischer Gedenkstätten und Archive ein zentrales Element in der Geschichte von Literaturausstellungen.
Das älteste Literaturarchiv, das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, gegründet 1889, hat ebenfalls ein angeschlossenes Museum. Für Walter Benjamin, der es 1928 besuchte, lagen die dort ausgestellten Handschriften in den Schaukästen wie „Kranke in Hospitälern […] hingebettet“. Theodor W. Adorno wird 1953 diesen Gedankengang noch radikalisieren, als er nicht nur von der phonetischen, sondern auch inhaltlichen Verknüpfung der Institutionen ‚Museum‘ und ‚Mausoleum‘ spricht. In Museumskrankheit (1957) hat Maurice Blanchot dieses Unbehagen damit erklärt, dass das Museum „also nicht der Behälter gelehrter Kontemplation und auch nicht das geordnete Inventar der Entdeckung der Kultur“ sei, sondern „ein imaginäre[r] Raum, in dem die künstlerische Schöpfung sich im Kampf mit sich selbst unaufhörlich sucht, um sich jedesmal gleichsam aufs neue zu entdecken, eine im vorhinein zurückgewiesene Neuheit.“
Stefan Maurer
Ähnlichen Fragestellungen geht die Konferenz „Schauplatz Archiv. Objekt, Narrativ, Performanz“ von 4.4. bis 6.4.2018 im Literaturhaus Graz nach. Die dritte Tagung der Reihe „Literatur und Archiv“ wird sich der Zugänglichkeit, Repräsentation und Dissemination des institutionell verwahrten kulturellen Erbes zuwenden und in einem übergreifenden Gespräch zwischen Fachwissenschaften und Praxis, Theorie und Management des Archivs den Fragen der Auswahl, Inszenierung, Reflexion und Extraktion widmen.