In Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (vier Fassungen: 1841/42, 1847, 1864, 1867) findet der namenlose Ich-Erzähler der Rahmenhandlung, ein Urenkel des Doctor Augustinus, bei einem Besuch im Elternhaus zufällig ein in einer alten Truhe aufbewahrtes Konvolut, das „eigentlich aus lauter ungebundenen Heften zusammengelegt“ ist. Dieses als Mappe die urgroßväterliche autobiographische „Dichtung des Plunders“ sammelnde disparate innerfiktionale Objekt verbindet materiell „in der überlieferungstauglichen Buchform“, so Carlos Spoerhase in Das Format der Literatur über ein ähnliches Aufbewahrungssystem von Goethe – das jener auch „Brieftasche“ nennt –, das „Knäuel von Papieren“. Stifters Text exemplifiziert, gerade entlang des das Narrativ strukturierenden Mediums Mappe, dass es keinen definitiven Ordnungsvorschlag bzw. keine letztgültige Anordnung des Verwahrten gibt. Dennoch verhindert dieses Medium aufgrund seines materiellen Status die Dispersion der Papiere und damit der Schrift.
Jede „steife gröszere tasche zur aufbewahrung von zeichnungen und schriften“ nennt das Grimm’sche Wörterbuch diesen Gegenstand. Als eine „einfache Hülle aus zwei Pappen, die mit einem Gewebestreifen verbunden sind, zur Aufbewahrung von losen Blättern“ wird die Mappe vom Lexikon des gesamten Buchwesens definiert. Diese Funktion erfüllte z. B. der Buvard als buchähnliche Mappe oder Schreibmappe, die in der Art von Bucheinbänden künstlerisch verziert war; ebenso dienten ihres Inhalts beraubte alte Einbände demselben Zweck der Aufbewahrung. Auch der Begriff „Portfolio“, eine englische Wortbildung aus dem italienischen „portafoglio“ und dem französischen „portefeuille“, bezog sich ursprünglich auf eine Mappe, die lose Blätter sammelt.
Mit dem um 1800 einsetzenden Autographenkult wurden intelligible Aufbewahrungssysteme für Sammler immer wichtiger. Im Handbuch für Autographensammler (1856) heißt es über die sogenannte „fliegende Mappe“: „Man lasse vom Buchbinder zwei Pappdeckel gleichmässig so zuschneiden, dass, wenn der Umschlag mit dem Autograph darauf gelegt wird, die Deckel an jeder Seite ungefähr ¼ Zoll hervorstehen. Die innere Fläche wird mit weissem Papier, die äussere mit einem beliebigen farbigen, am besten dunklen Marmorpapier überzogen. Herauf macht man in beide Deckel vier gleichmässige senkrechte 1 Zoll lange Einschnitte und zieht durch die vier obern wie untern je ein Band in entsprechender Breite, Stärke und Länge, wodurch eine Verbindung hergestellt wird, die einen Rücken bildet, der sich erweitern und verengen lässt […].“ Die „fliegende Mappe“ empfahl dann auch der Schriftsteller, Sammler und Archivar Ludwig Bechstein in seinem Beitrag für den enzyklopädischen Band Die Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert (1857) von Johannes Andreas Romberg nachdrücklich zur Aufbewahrung von Autographen.
Abb. aus: Johannes Günther u. Otto August Schulz: Handbuch für Autographensammler. Leipzig: Verl. Otto August Schulz 1856, S. 136.
Die Frage nach den Technologien des Ablegens durchläuft Ende des 19. Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen; sie wird „nicht allein Gegenstand einer neuen Wissenschaft, sondern auch zum wesentlichen Bereich des Handelns, ja Bedingung der Entfaltung und Neuordnung von Geschäfts- und Industrietätigkeit“, so Delphine Gardey in ihrer Studie zum Schreiben, Rechnen, Ablegen. Die Mappe wird in ihrer Form und Funktion ein Massenartikel, der in bürokratischen Sphären als Operator loser Ordnungs- und Aufbewahrungsverfahren eingesetzt wird und diese verarbeitet. Sie ermöglicht z. B. im Kontext des modernen Büros rasches Einordnen sowie auch Umgruppierung des bereits Vorhandenen.
So beschreibt der Philosoph Friedrich Kuntze (1881–1929) in Die Technik der geistigen Arbeit (1921) einen aus einem Karton gefertigten „Vertikalableger“, in „den Pappmappen senkrecht eingesteckt werden können. Die Anordnung ist so getroffen, daß immer ein Teil der Mappe hervorragt, auf dem ihr Inhalt vermerkt wird. Diese, für die Notizen bestimmten, über den Rand der Mappe hervorstehenden Teile stehen staffelförmig so hintereinander, daß keiner den anderen verdeckt.“
Innerhalb der Struktur des Archivs kommt der Mappe ebenfalls eine an/ordnende und zugleich verwahrende Funktion zu: Die säurefreie Mappe ist im Dispositiv Literaturarchiv jener kleinste, die Archivalien um-/verhüllende „Mechanismus“ aus säurefreiem, leicht biegsamem Karton, der die Handschriften, Typoskripte und Korrespondenzen vor den ihnen inhärenten chemischen Zersetzungsprozessen sowie äußeren mechanischen Einflüssen schützt. In ihren unterschiedlichen Figurationen, u. a. als Falt-, Zieh-, Einstell- oder Hängemappe, gehört sie ebenso zum Inventar eines jeden Archivs wie die Archivschachtel, die jeweils mehrere Archivmappen enthalten kann. Beschriftet wird die Mappe mit der der Archivalie zugewiesenen Signatur sowie dem Umfang des papierenen Mappeninhalts, dabei den Ordnungszusammenhang innerhalb der Archiv- bzw. Nachlasslogik herstellend.
Im Gegensatz zum Exponat in der Vitrine ist das vermappte Objekt nicht einsehbar, muss von BenutzerInnen im Lesesaal des Archivs erst der schützenden Mappe entnommen werden und kann mit der „Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle“, wie Walter Benjamin formuliert hat, zur „Zertrümmerung der Aura“ des Objekts führen.
Stefan Maurer