Peter Glaser: Überall Schreiben

Peter Glaser: Überall Schreiben

in Dossier: Was wird Literatur?

Ende der siebziger Jahre war ich der einzige Schriftsteller unter lauter Musikern in meinem Freundeskreis und litt darunter, über keinerlei eindrucksvolles Equipment zu verfügen. Als ich 1978 zum ersten Mal einen Mikrocomputer sah, begriff ich sofort, welche großartige Chance mir diese Maschine bot: Endlich eine Schreibmaschine, mit der man auch Lärm machen konnte! Ich nahm den Rechner fortan bei Lesungen mit auf die Bühne. Ein Schriftsteller mit einem Computer – die Verbindung war für mich seit jeher ganz selbstverständlich, da ich als Junge Naturwissenschaftler werden wollte und erst, nachdem ich fassungslos hatte erkennen müssen, dass Mädchen sich nicht für organische Chemie interessieren, in die Kunst abgerutscht war, genauer gesagt in die Literatur.

Noch jedes neue Aufschreibesystem hat auch neue literarische Spielformen und Entwicklungen nach sich gezogen. Die Individualisierung des Bleisatzes in Form der Schreibmaschine hat die Textexperimente der Dadaisten ebenso inspiriert wie die konkrete Poesie. In der geometrischen Textmatrix, in der die Buchstaben sich mit Hilfe der Schreibmaschine tippen ließen, kündigte sich die Annäherung von Mathematik und Sprache an, die heute im Computer vollzogen ist. Was das eigentliche Schreiben angeht, kann einem aber, wenn man nichts zu sagen hat, kein Computer helfen. Die Frage, ob das Geschriebene auf Papier gedruckt, über ein Blog oder auf einem iPad zu seinen Lesern findet, ist für den Autor nachrangig. Wenn ein Text Käse ist, helfen ihm weder brillante Auflösung noch runde Ecken. Anders als etwa bei Autos geht es beim Schreiben nicht darum, womit man fährt. Da auch ich für die Lockungen der Computerindustrie empfänglich bin, schreibe ich auch mit Stift und Zettel, um mich zu vergewissern, dass es mir weiterhin um das Schreiben geht und nicht um das Equipment.

„Kultur ist Reichtum an Problemen”, schrieb Egon Friedell. Und tatsächlich ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr so viel und vergnügt, zum Teil verzweifelt und um Geld-oder-Leben ringend, mit Schrift und Sprache experimentiert worden wie in unserer zunehmend digitalen Kultur. Ob es sich bei dem Autor um einen Schriftsteller, einen Publizisten, einen Journalisten oder einen Blogger handelt, nimmt sich dabei erst einmal nichts. Neben typographischen Experimenten, in denen sich die visuelle Poesie der sechziger Jahre wieder auf die Höhe der Zeit bringt, gibt es eine Fülle weiterer literarischer Ansätze, von den begehbaren, epischen Erzählungen der Computerspiele bis zu lyrisch dichten, winzigen Twitter-Juwelen. Das alles führt Traditionen fort, wovon aber bemerkenswerter Weise sowohl die Vertreter der klassischen Buchkultur als auch die Digerati oft nichts wissen wollen – dabei verbindet das. Schon von Hemingway gibt es eine Story aus den zwanziger Jahren, die nur sechs Worte lang ist: „For sale: baby shoes, never used“.

Mit dem Netz hat der Mensch eine vollkommen neue Dimension des Durcheinanders erschaffen – einen reichen, schöpferischen Humus. Das Netz ermöglicht es uns nun, nicht mehr nur Bücher und Zettel durcheinanderzuschmeißen, sondern auch Bilder aller Art, Animationen, Videos und komplette Diskurse. Im gordischen Myzelienknoten der Hyperlinks ist inzwischen die ganze Welt in die Globalisierung der Unaufgeräumtheit eingebunden. Dazu gibt es Ent-Ordnungssysteme – Stichwort „Tagging“ – in denen die Idee des Strukturierens überhaupt aufgegeben wird. Ziel von Multimedia ist es also, die Unübersichtlichkeit zu universalisieren. Jeder soll alles von überall aus durcheinanderbringen können. Als Schriftsteller fühle ich mich zutiefst aufgerufen, aktiv an dieser Art von Anarchie teilzunehmen. Und dann ist das Schreiben doch auch wieder etwas wie die Fortsetzung der Alchemie: Man fügt Teile zueinander und hofft, dass daraus Gold oder etwas Lebendiges wird. Es geht um die Qualität der Teile, wie sie zusammengefügt sind, und man soll den Leser nie spüren lassen, was einen viel Arbeit gekostet hat. 1940 schrieb Hemingway an seinen Verleger Charles Scribner, ihm gefalle am Krieg, dass es jede Nacht möglich sei, getötet zu werden, das heißt, am nächsten Tag eventuell nicht schreiben zu müssen.

In ihrem Buch Where Wizards Stay Up Late über die Ursprünge des Internet umreißt die amerikanische Autorin Katie Hafner ein neues Lebensgefühl: „Amerikas Romanze mit den Highways hat nicht damit begonnen, dass jemand Straßen begradigt, asphaltiert und mit weißen Streifen in der Mitte bemalt hat, sondern damit, dass einer auf den Trichter kam, seinen Wagen wie James Dean die Route 66 runterzufahren und das Radio laut aufzudrehen und eine gute Zeit zu haben.” Die neuen Bewegungsmöglichkeiten in der digitalen Dimension empfinden nicht alle als Zugewinn. Zu vieles scheint unausgesetzt und gleichzeitig zu geschehen. Dieses Gefühl, nicht mithalten zu können mit den Beschleunigungen der modernen Welt. Wir befinden uns, falls das jemanden beruhigt, in einem Phasenübergang – die Beschleunigung gehört zu den Symptomen dieses Übergangs. Was wir erleben, ähnelt einem alten, flimmernden Bildschirm, der so lange nervt, bis die Bildfrequenz über 70 Hertz steigt. Dann wird das Bild ruhig und klar, auch wenn weiter beschleunigt wird.

„Wer einen Blick ins Netz wirft und sich an die Nachrichtenströme bei Facebook oder Twitter anschließt, bekommt einen Eindruck von der großen Lebendigkeit, der großen Dynamik, vor allem der großen Produktivität und Kreativität, die sich derzeit rund um die Literatur und ihre Institutionen entfaltet“, hält Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung in Berlin, fest. „So viele neue Ideen, engagierte Diskussionen, interessante Versuche und so viel Bereitschaft, grundsätzlich über die Literatur nachzudenken und ihre Möglichkeiten zu erweitern – das hat der Literaturbetrieb seit Ewigkeiten nicht erlebt.“

Wir treten ein in die Boom-Zeit der Literatur. Und wer jetzt die Augen zumacht und behauptet, das alles sei flach, sei nur uninteressanter Kram und technische Spielerei jenseits des eigentlichen literarischen Schreibens, das letztlich Romanform annehmen und in Büchern gedruckt werden müsse, der ist taub und tumb. Schlimmer noch: Wer sich jetzt abwendet und versucht, einfach die Skripte des alten Literaturbetriebs nachzuspielen, der interessiert sich auf sentimentale Weise für Bücher und Buchkitsch, nicht aber für Literatur und literarische Kreativität.

Versucht man, die Regeln beim American Football auf den Punkt zu bringen, könnte man sagen: Es geht bei dem Spiel darum, dass jeder jeden bei allem behindert. Gleichermaßen könnte man über die digitale Textsphäre sagen, dass es dabei darum geht, dass jeder alles und jeden bei allem und jedem kommentiert und ergänzt. Der Essayist Michael Rutschky äußert angesichts der durch neue Kommunikationsmittel ausgelösten Mitteilungsfluten den Verdacht: „Jeder will nur noch schreiben, keiner liest mehr.” Soll übrigens niemand glauben, dass die Vielschreiberei ein Phänomen ist, das erst jetzt zum Vorschein kommt. Einer der exzessivsten Aufschreiber war der Architekt Buckminster Fuller, der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentiert hat: Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern.

Die immer eingehenderen, detaillierteren, oft aber auch vor Banalität rauschenden Aufzeichnungen und Literaturen, mit denen wir es nun zu tun haben, werfen ein Problem auf, das der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Von der Strenge der Wissenschaft schon 1960 beschrieben hat. Es geht darin um ein Reich, in dem die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erreicht hat, dass eine Karte gezeichnet wird, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte“. Aber eine Karte, die genauso detailliert ist wie die Wirklichkeit, verliert ihre Funktion.

Peter Glaser, Schriftsteller und Journalist, geb. 1957 in Graz, publiziert seit 2006 im Blog der deutschen „Technology Review“, verfasst Beiträge für das Internetportal „futurezone“ und führt seit 2008 das Blog „Glaserei“.