Alban Nikolai Herbst: Näher, mein Wort, zu Dir

Alban Nikolai Herbst: Näher, mein Wort, zu Dir

in Dossier: Was wird Literatur?

Bemerkungen eines Ketzers zur Dichtung, dem Buch als Fetisch und Ware sowie zur Freiheit des Wortes im Netz.

Immer wieder, in großem Umfang zuletzt in einem von der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff für die ZEIT geschriebenen und von dieser Wochenzeitung bedeutsam gefeatureten Essay, ist die Klage darüber zu lesen, das Internet zerstöre die Literatur, sei überhaupt wort- und insgesamt kunstfeindlich; deswegen bedienten sich seiner nur rundweg dumme Leute, also solche, zu denen zu gehören ich mich hiermit oute. Es, das Internet, sei der jeder Kunst- und Denkanstrengung nötigen Konzentration abträglich, weil sich zum Beispiel längere zusammenhängende Texte nicht lesen ließen, permanent auf Ablenkung gesetzt werde und überdies die permanenten Bildeinstreuungen eine ernsthafte, sagen wir: seriöse Auseinandersetzung mit Inhalten verunmöglichten. Menschen wie Lewitscharoff, auch, dreivier Jahre früher, nämlich in der FAZ, Thomas Hettche und mit den beiden zahllose andere favorisieren für das Wort nach wie vor das Buch als seinem, quasi von Gottes Gnaden, einzig adäquatem Träger. Indem die Buchkultur sterbe, gehe auch die Dichtung zugrunde.

So weit wird, so schlecht vielleicht nicht gedacht, aber argumentiert – ungewußt einen ganz anderen, einen historischen Kulturbruch zitierend. Ich meine den von der Handschrift zum Buchdruck in den Fünfziger/Sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Selbst im Siebzehnten wurde noch heftig diskutiert, mit Argumentationssträngen, die den heutigen geradezu bizarr ähnlich sehen. Darauf hat wohl zuerst, am Beispiel Pietro Aretinos, Renate Giacomuzzi1 aufmerksam gemacht – wie auch auf einen Hintergrund, der die Diskussionen unter einem wie immer auch eigentlich naheliegenden, so doch völlig anderen Zweckziel beleuchtet, nämlich dem der Macht, bzw. des Machterhalts. Dabei geht es um Märkte. Ich spreche deshalb von einem Verteidigungskrieg der Deutungshoheiten, der derzeit geführt wird. Selbstverständlich ist es ein Krieg um Pfründe. Eben deshalb wirken die Einlassungen derart ideologisch, wenigstens verkrampft. Spielerische Haltungen sind so wenig zugelassen wie abenteuerfrohe Neugier. Freilich kommt, auf der Seite der Netz-Gegner, oft eine nachlassende hirnphysische Präsenz hinzu, die es ihnen auch objektiv unmöglich macht, mit den Entwicklungen Schritt zu halten. Um es knapp auszudrücken: Die Netz-Gegner sind alte Menschen, wobei es gleichgültig ist, ob sie erst vierzig oder bereits achtzig Jahre alt sind; ihre Entwicklung ist zum Stehen gekommen. Deshalb stimmt es, wenn sie behaupten, man könne lange zusammenhängende Texte am Bildschirm nicht lesen; nämlich können sie es nicht. Weshalb es auch andere nicht können können sollen. Man käme sich sonst genau so schwach vor, wie man ist. Obwohl man doch bedeutend ist und das auch deutlich zeigt.

Ich spreche von einem Generationswechsel, vor allem aber Generationenmentalitätswechsel, der möglicherweise eingreifender ist, als es – in sämtlichen Kunstbetrieben – die Machtübernahme durch die sogenannten 68er gewesen ist. Nicht nur die politische Ausrichtung, sondern ein gesamtes Sozialverhalten ändert sich, die Definition desssen, was Freunde seien; man tritt in innigen und aber direkten Kontakt mit Menschen, die oft Hunderte, wenn nicht Tausende Kilometer entfernt leben. Für Jugendliche ist das bereits Alltag. Damit ändert sich die gesamte Art und Weise der Wahrnehmung. Es ändern sich also die anthropologischen Konstanten. Kein traditionelles Pisa kann das mehr messen. In meinem Aufsatz „Die anthropologische Kehre“2 habe ich den Vorgang beschrieben.
Um es auf eine verknappte Formel herunterzubrechen: Multi Tasking statt fokussierter Konzentration. Diese Entwicklung entspricht einer zunehmend sich dadurch begebenden Mythisierung der Wirklichkeiten, als rein faktisch das gesamte Maß des wißbaren Wissens persönlich von gar niemandem mehr erfaßt werden kann; wir brikolieren Wirklichkeit, um es mit Lévi-Strauss zu sagen. Ein anderer meiner Aufsätze – „Das Flirren im Sprachraum“ aus dem Jahr 2000 – hat dieses im Zentrum und spiegelt es in die Dichtung. Eine moderne Literatur muß diesen Geschehen entsprechen, nur hier auch kann Utopie entstehen. Das heißt für die Dichtung, daß es um neue Formen geht, die den Erscheinungen angemessener sind als die sogenannte realistische Narration des 19. Jahrhunderts. Um diese Formen zu entwickeln, braucht es das Netz.
Die Frage ist also nicht ob Literatur im digitalen Zeitalter noch zur Utopie tauge, sondern vielmehr umgekehrt, ob eine Literatur dazu tauge, die sich dem Netz verweigert.
Ich glaube, sie taugt nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, daß sie den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat und ihn auch nicht wieder herstellen will. Selbstverständlich glaube ich nicht, daß es keine belletristischen Bücher mehr geben wird, auch wenn, im Unterhaltungsbereich, mehr und mehr und schließlich wahrscheinlich ausschließlich noch zum eBook gegriffen werden wird, aber die Formen einer zeitgenössischen, das heißt zeitgemäßen Dichtung – den Roman schließt das ein – werden sich nicht in Konkurrenz zum Netz, sondern aus der Zwiesprache mit ihm entwickeln, und zwar schon deshalb, weil die Erfahrungswelten künftiger Leser zu großen Teilen vom Netz besiedelt sein werden.
Und im Netz entsteht bereits heute Dichtung, völlig anders, als das offizielle Bild des klassischen Feuilletons uns glauben machen will. Daß die Umsätze sämtlicher großen Zeitungen signifikant, ja alarmierend für sie, zurückgegangen sind, zeigt, auf welch verlorenem Posten sie stehen, und zeigt auch, weshalb mit solch rhetorischer Gewalt reagiert wird – und mit einer auch vorm Rufmord nicht zurückschreckenden Gewalttätigkeit gegenüber im Netz agierenden Literaten. Dies sind indes, um böse Kafka zu travestieren, Handlungen und Haltungen, die bereits im Absturz gemacht, bzw. eingenommen werden. Abwehrbewegungen radikalisieren sich um so mehr, je weniger sich einem Ende noch ausweichen läßt.

Allerdings habe Aretino, analysierte Giacomuzzi, „das dauerhaft auf Papier gesetzte Wort als moralischen Radiergummi“ gebrandmarkt, „beharrt mit ‚Feuer‘ und ‚Flamme‘ auf einer prä-gutenbergschen, oralen Medienkultur“ und damit „die spezifischen Merkmale des neuen Mediums“ ignoriert, nämlich der rasant entstehenden Kultur des Buches, „das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Dauerhaftigkeit plus massenhafte Verbreitung ermöglichte“3. Aber er habe „die Möglichkeiten des neuen Mediums sehr wohl erkannt. Die an potentielle Kritiker und Zensoren gerichtete Beschwörungsformel ist nichts anderes als ein Trick, den Aretino benutzt, um vom eigentlichen Sinn der Druckerpresse (…) abzulenken. Auch der literarische Text selbst lebt von der Differenz des real benutzten Mediums, der Schrift, zur Rede. (…) Werden die Leser über die äußerst bildhafte Sprache Nana‘s in die Geheimnisse erotischer Praktiken eingeführt, steht den geschilderten Nonnen kein Schrifttum als Lehrmaterial der Erotik zur Verfügung, sondern ein ‚Bilderzimmer‘, dessen einzelne Abbildungen von der Erzählerin in Geschichten umformuliert werden. – Wiederum findet“, so Giacomuzzi weiter, „(…) scheinbar beiläufig und belanglos ein Medienwechsel statt, der aber eine für den Text grundlegende und belangvolle Semantik entwickelt: Die Schrift tritt dadurch scheinbar in den Hintergrund, beziehungsweise wird unsichtbar, während das Bild mit seiner Geschichte des christlichen Bilderverbotes (…) in den Vordergrund tritt. Mit diesem Trick wird durch das Bild die Schuld von der de facto ‚Schuldigen‘, der Schrift, abgelenkt.“4

Vielleicht läßt sich auch so Thomas Hettches Haßartikel in der FAZ verstehen, eines Autors, der nicht nur Aretino neu übersetzt, bzw. nachgedichtet hat, sondern auch einer der ersten deutschen Schriftsteller gewesen ist, der als prominente Experimentierbühne eine Netzpräsenz betrieben hat. Freilich singt sein letzter Roman andere, unisono mit vielen Kollegen lamentierende Töne: „Dieser blaue Leinenband aber hat noch das richtige Gewicht, er öffnet sich wie von selbst, und die Finger gleiten widerstandslos über das feine Papier, gerade dünn genug, damit man, gegen das Licht, den Umriß des umseitigen Textes durchscheinen sieht. So muß es sein, das gibt dem Blick Halt. Meine vergehende Welt.“5
Worüber spricht hier Hettche wirklich? Nolens volens verrät er es: Über das Buch als ein Bild. Dem Blick wird Halt gegeben. Der Blick gibt GOtt. So daß sich etwas noch ganz anderes wiederholt. Nicht von ungefähr sind, wie Giacomuzzi schließlich schreibt, trotz aller Haß-Volten auf den Buchdruck, Aretinos Schriften doch noch auf dem katholischen Index des Tabus gelandet, wenn auch erst nach seinem Tod. Die verbotene Sinn- und Erkenntniskraft des Bildes hatte sich auf die gedruckte Schrift übertragen, die so nun ihrerseits zum Bild wurde; monotheistisch argumentiert, ist sie regrediert. Sie wird der Halt, den Aaron Moses‘ aus Ägypten ausgezogenem Volk wiedergeben wollte, das, was dem Blick Halt gibt, aber nicht genügte, weil es kein Gegenstand mehr war. Heute ist das Buch Aarons Goldenes Kalb.

Im Buchdruck wird das Wort-selbst zum Fetisch. Nicht grundlos ist das Kalb „golden“ – ein Umstand, der sich erst in der kapitalistisch durchökonomisierten Welt zur Quelle ständig neuer Mehrwertschöpfung gemacht hat und damit zugleich jeglichen Inhalt profaniert. Mit der gedruckten Bibel ist das Wort GOttes zwar wohlfeil geworden; die höchsten Gewinne aber lassen sich, in der Massengesellschaft, gerade mit Billigartikeln erzielen, durch deren Addierung von Centbeträgen Milliarden entstehen. Die Profanierung wiederum bedingt, daß das Buch keineswegs ein Tempel des Heiligen Wortes ist, sondern jederlei Schund die Klappen öffnet. Ein qualitativer Unterschied von Internet-Wort zu Buch-Wort besteht nämlich gar nicht; der Ausstoß an Unerträglichkeiten ist kein minderer als im Netz. Insofern ist es geradezu bizarr, anläßlich eines vermeintlichen oder tatsächlichen Untergangs der Buchkultur von kultureller Abenddämmerung zu sprechen – um so abstruser, übrigens, als gerade der Roman eine ganze Zeit lang, erst nur fürs Amusement Höherer Töchter geschrieben, als Hort der Unmoral galt; zur favorisierten Ausdrucksform des Bürgertums avancierte er erst langsam. Da muß es nicht Wunder nehmen, daß er als abgeschlossenes Totales in einem Prozeß an Kraft verliert, in dem eben dieses Bürgertum zerfällt, d.h. in dem die feste Entität als Fixpunkt des Sozialen an Bedeutung verliert.

Die Buchdeckel signalisieren die Geschlossenheit, sie sind die Körpergrenzen des Fetischs. Über den Roman selbst, also über den Text, der er ist, sagt das nichts. Die frühesten Romane, nämlich die Epen als seine Vorläufer, wurden vorgetragen; daß sie im Versmaß stehen, hat Gründe in der Oralität, nicht etwa, weil das Versmaß dem Roman-selbst notwendig gewesen wäre. Es ging schlichtweg ums Memorieren. Das ist der Genese des Reimes ganz ähnlich; dieser steht näher der Musik als der Roman, der spätestens mit dem Buchdruck auf den mündlichen Vortrag nicht weiter angewiesen war. Interessanterweise rhythmisiert er sich jetzt neu, heute, in den Tagen des Internets, da ihm das Haus, aber nur dieses, überm Kopf zusammenbricht.
Andere Rhythmen aber sind es, sind solche der Gleichzeitigkeiten, denen eine Befähigung der Rezipienten entspricht, die ich schon oben multi-tasking nannte. Das wiederum spiegelt unsere moderne Wahrnehmung von Welt. Mehr noch kommt der Roman gewissermaßen erst jetzt bei sich an, indem er eine neue Entwicklungsstufe erklimmt: Er muß nicht mehr abgeschlossen werden, ja nicht einmal mehr abschließbar sein. Er realisiert sich als seine eigene Utopie. Allerdings wurde das schon nach seinen poetologischen Höhepunkten um Flaubert, Balzac und Tolstoj erspürt: daher die erkenntnistheoretische Kraft etwa der Romane Kafkas als Fragmente, auch Musils und anderer. Stärker noch, zeigt der Vorgang an, daß der Roman seine Tendenz ins Unabschließbare, damit auch Unfaßbare, zu perfektionieren gewillt ist. Und zwar gab es durchaus Vorläufer – die Literaturwissenschaft spricht von „digressivem Schreiben“; denken Sie an Laurence Sterne, denken Sie an Jean Paul. Aber nicht die heute noch immer eine Romanästhetik des 19. Jahrhunderts fortschreibenden Bücher zeigen das, also nicht Autoren wie Updike, Atwood, unterdessen auch Hettche und andere, sondern die, die sich aus der neuen Freiheit, die ihnen die Postmoderne gab, herausentwickelt haben, etwa Thomas Pynchons, Elfriede Jelineks, Roberto Bolaños; auch meine eigenen Arbeiten zähl ich hinzu.

Das Unfaßbare ist eben GOtt, d.h. das erste WOrt, mit dem Welt begann oder begonnen zu haben eben: gesagt worden ist. Die bis heute grandiose Idee daran ist, daß, wie unverwurzelt man immer auch leben mag, dieser GOtt eine jedes Bild übersteigende Gegenwart hat. Praktisch gesprochen, mußte ein Nomadenvolk keinerlei Götzen mehr mit sich wuchten; theoretisch bedeutete es SEine permanente Gegenwart. In einer von schon berufshalber häufigen Ortswechseln gekennzeichneten Gegenwart, sprich der Globalisierung, kann deshalb das Buch gar nicht mehr „Ort“ des geschriebenen und zu lesenden Wortes sein und also auch nicht der Utopien. Wer will denn Bibliotheken schleppen, zumal dann, wenn alles in digitaler Form quasi überall verfügbar ist? Es ist ja nicht falsch, nicht nur in mosaischem Zusammenhang von einem Fließen Gottes zu sprechen, sondern der „Ort“ SEiner permanenten Gegenwart ist heute das Netz, das Internet, und zwar auch und gerade, was die Vermittlung von Wissen angeht. Einen Anschluß finden Sie, derart von Netzen überworfen ist längst die Welt, noch in dem ärmsten Dorf, wo es an Essen mangelt. – Oder wenn Sie Lexika brauchen, für Ihre Arbeit? Wo steht die nächste Britannica? Die schwarmgeniale Erfindung Wikipedias hat sie beinah obsolet gemacht. Allerdings sie selbst, die berühmteste aller Enzyklopädien, hat schon früh reagiert, anstelle in der Schmollecke zu sitzen, und eine Netzvariante vorgelegt, die anders als jedes Buch tatsächlich gegenwärtig sein kann, besonders, was die rasanten Entwicklungen der Naturwissenschaft anbelangt. Und diese, längst, präsentieren Dissertationen und Habilitationsschriften ohnedies kaum noch in Printform. Wenn wir akzeptieren, daß kaum etwas unsere moderne Gegenwart derart geprägt hat wie sie, die Naturwissenschaften, nähme es allein schon von daher Wunder, spiegelte die Dichtung das nicht wider und folgte nicht den entsprechenden Wegen oder liefe ihr voraus. Tut sie es nicht, wird sie sich antiquieren. „Literatur nimmt die Wissenschaft vorweg“, formulierte Hettche einst selbst, aber da war er noch jung.

All dies bedacht, lassen sich die Beklager der Entwicklung nur als Pharisäer der kapitalistisch durchökonomisierten Welt verstehen, als ihre Statt- und Steigbügelhalter, solche, die der Kirchenvertreter Rolle übernommen haben, die, anders als der Glaube selbst, beharrend ist, und zwar auf ganz ähnlichen Strukturen wie alle gängigen Machtapparate. Deshalb sprach ich oben von einem zur Zeit brandenden Krieg der Deutungshoheiten. Da werden auch mutwillig Augen verschlossen, und gegen besseres Wissen wird eben der GOtt gelästert, nämlich seinem WOrt, dem zu dienen man vorgibt. Denn nur der Götze Buch hat einen Marktwert, an dem sich auch und gerade dann verdienen läßt, wenn man es selbst nicht geschrieben hat; das WOrt hingegen, als allgegenwärtiges, ist bei einem Jeden; das Internet als sein neuer Tempel läßt die Kirchenpforten immer offen: jeder kann hinein; es gibt nicht einmal Sakristeien. Das WOrt ist nun wirklich wenn zwar nicht „demokratisch“ geworden, so doch prinzipiell nicht nur Eliten zugänglich.
Darin steckt eine Logik. Sie setzt radikal fort, was mit den Keilschriften begann, was die Handschriften kultivierten und schließlich Gutenberg verteilte. Sogar die bei Aretino erzählten Mischformen aus Wort und Bild perfektionieren sich – ja, indem des Netz auch das gesprochene Wort wiederzugeben vermag, kann die Dichtung in eine Totale gehen, von der, für das Musiktheater, Wagner nur geträumt hat.
So kommt denn das WOrt zu sich zurück, wird aus dem Allerheiligsten genommen, der Vorhang ist beiseitegeschlagen, wenn nicht bald schon heruntergerissen. Der Text wird gemeinfrei – gleich der nächste, für Bürgerliche, Skandal. Dies ist die vielleicht größte Attacke auf eine Welt allein aus Waren. Verwalter werden nicht mehr gebraucht, also solche, die bestimmen, wer was zu lesen habe und was der Jugend schade. Wen wundert‘s da, wenn die Kuroren, die bezahlt sind, von den verderbten Sitten klagen? Daß sie verderbe, stand als Warnung schon je zu Seiten der Kunst. Das wissen die Kuroren auch…
Zum andren kann sich das WOrt nun alliieren; etwas, das vordem allenfalls um sehr teuer Bibliophiles zu haben war, und auch da nie in einer anzustrebenden Einheit mit wieder dem Klang. Nicht von ungefähr hat gerade die Lyrik nicht nur enormen Zulauf im Netz, sondern sie entsteht dort auch, und zwar in kaum vorstellbarer Menge. Sie braucht keine vorhergenommene Kanonisierung mehr, die für ein kaufmännisches Unternehmen, wie jeder Verlag es ist und sein muß, das Risiko rechtfertigt, solch Schwerverkäufliches auf den Markt zu bringen. Die Zugriffe auf Gedichte auf nur meiner eigenen Webpräsenz gehen bisweilen an die 5000; man vergleiche, daß auf dem deutschen Markt bereits ein Lyrikband von 800 verkauften Exemplaren als extrem erfolgreich gilt. Literaturpreise, freilich, werden nur für die vergeben. Wer nämlich sitzt in den Juries?
Auch das ist Schlacht um Deutungshoheit, die eine Schlacht um Einkünfte ist. Man will ja seine Leasingraten zahlen. Ihr nehmt uns unser Land weg: Darum alleine geht es. Was eine Pflanze sei, was Wiese und was Acker, also cultura, Kultur, spielt die geringste Rolle. Doch das steht auf den Fahnen.
Allerdings ist die Szene derart vielgestaltig, lebhaft und wahrhaftig unüberschaubar, daß die gegenwärtige Tageskritik auch deshalb von ihr keine Kenntnis nimmt, und das, obwohl sich die Form der zeitgenössischen Lyrik im Netz nicht annähernd so ändert und wohl auch nicht ändern kann, wie die eines Romanes, der in sein unendliches Fortschreiben vordringt und dabei obendrein eine direkte Mitschrift seiner jeweiligen Zeit ist, d.h. immer auch das Dokument seiner eigenen Entstehung und der Welt um sie herum – womit endlich eine der großen, bislang unrealisiert gebliebenen Forderungen der jungen literarischen und insgesamt ästhetischen Moderne eingelöst werden kann. Eine im Netz realisierte kunstphilosophische Utopie. Dagegen ist der traditionell im Buchdruck erscheinende Romane immer, notgedrungenermaßen, schon bei seiner Drucklegung historisch – so wie, mit Karl Kraus gesprochen, die Zeitung von heute immer gestern. Die sich im Roman gestaltende abgeschlossene Erzählung wird zur Binnenerzählung in einem Strom. Damit macht sich diese Gattung, wenn sie in bewußter Formung entsteht, erneut zum adäquaten Kunstmedium der Gegenwart, einerseits, indem es um vieles näher wieder am WOrt ist als jedes durch seinen Fetisch-, modern gesprochen Warencharakter verstellte Buch, andererseits, indem er sich den zunehmend die Entwicklung bestimmenden technischen Bildern öffnet oder, siehe das Spätwerk Godards, sie ihm. Das wäre ohne das Netz nicht möglich gewesen, weil nämlich nicht rezipierbar. Was nun die technischen Bilder selbst anbelangt, möge ein Verweis auf Vilém Flusser genügen.

1 Renate Giacomuzzi: Die Dschungel.Anderswelt und Alban Nikolai Herbsts Poetik des Bloggens. In: Ralf Schnell (Hg.): Panoramen der Anderswelt. Bremerhaven: Ed. Die Horen 2008, S. 137-150.
2 Alban Nikolai Herbst: Die anthropologische Kehre. In: Ders.: Schöne Literatur muß grausam sein. Gesammelte Essays und Reden 1. Berlin: Kulturmaschinen 2012.
3 Giacomuzzi, a.a.O.
4 Ebd.
5 Thomas Hettche: Die Liebe der Väter. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S.146.

Alban Nikolai Herbst (Pseudonym für Alexander Michael von Ribbentrop), geb. 1955 in Refrath, lebt in Berlin. Studium der Philosophie. Schriftsteller, Librettist, Kritiker und Regisseur im Bereich der Rundfunk-Hörkunst. Betreibt seit 2004 das literarische Weblog Die Dschungel. Anderswelt. Zuletzt erschien: Traumschiff (Mare 2015).