Christian Benne: Based on a true story

Christian Benne: Based on a true story

in Dossier: Was wird Literatur?

Manche Sprachen besitzen für die Zukunft der Vergangenheit, futurum in praeterito, eine eigene Tempusform. Die deutsche Sprache gehört nicht dazu. Sie behilft sich mit Umschreibungen.
Wir schreiben das Jahr 1998. (Wir umschreiben es, wir schreiben es um.) Die nahende Jahrtausendwende, das augenscheinlich grenzenlose Wachstum am Neuen Markt und die Aussicht auf den kurz bevorstehenden ewigen Frieden beflügelten futuristische Phantasmagorien wie seit der Mondlandung nicht mehr. Alles würde ganz anders werden, wir wussten bloß noch nicht, ob das ein Grund zum Feiern war. Aber zum Feiern brauchte man damals eigentlich gar keinen Grund.
Berliner Zimmer nennt man das Durchgangszimmer, das die Mietskasernen jener Stadt auszeichnet, die sich gerade erst damit zu versöhnen begann, die Zukunft des Landes zu beherbergen. Hier baute, wer damals PC und Modem besaß, die klobige Anlage mit Vorliebe auf, denn für schöne Dinge war es kaum zu gebrauchen. Das Berliner Zimmer ist lichtarm.
Der Berliner Student saß in seinem Berliner Zimmer und starrte ungläubig in den flackernden Monitor. Über den Schreibtisch verstreut lagen an ihn gerichtete Schmähbriefe auf Kopierpapier, das die Konturen des Tintenstrahldrucks ausfransen ließ und, passend zum Inhalt, die Unbedarftheit der Typographie unterstrich. Übertroffen wurden sie von eifernden Beiträgen in Internetforen, die sich schon wie der Shitstorm anfühlten, der erst noch erfunden werden würde. Das isländische Wort für Computer lautet wörtlich: Fenster zur Welt. Was dieses Fenster preisgab, übertraf in seiner Tristesse noch die Aussicht auf den Hinterhof, auf dem die Hausmeisterin Frau Tonn, sie hieß wirklich so, wenigstens versuchte, den Müll sachgerecht zu trennen.
Soeben war in einer großen Wochenzeitung ein Beitrag von ihm erschienen, in dem er so rundheraus wie nassforsch das Ende der gerade erst verkündeten Zukunft der Literatur ausgerufen hatte, eigentlich nur einer verlorenen Wette wegen. Mit seinem Erscheinen stellte die Zeitung indes zugleich den von ihr selbst erst zwei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Wettbewerb für Internetliteratur ein. Die eingesandten Texte hatten, um es milde auszudrücken, die hohen Erwartungen ästhetisch nicht einzulösen vermocht. Das fanden auch IBM und die anderen Sponsoren; Geld verdienen ließ sich damit nämlich nicht.
Der Student, in der Phantasie der Erregten ein bigotter Reaktionär weit fortgeschrittenen Alters, der das Netz nur vom Hörensagen kannte, hatte also gerade die Zukunft der Literatur zerstört. Das lastete schwer auf seinen schmalen Schultern.
Die Geschichte der Literatur lässt sich als Abfolge ihrer in die Zukunft gerichteten Selbstentwürfe erzählen, die selber wieder historisch wurden. Spätestens seit der Querelle verband sich damit auch eine gesellschaftliche Zukunftsbestimmung, deren Allegorie die Dichtung nun wurde. Ihre Zukunft zu prophezeien war eine Ahnung nicht nur des kommenden Wortes, sondern der kommenden Tat. Es galt die Zukunft der Menschheit herbeizuschreiben: das Licht zu schaffen, mit Nietzsche gesprochen, indem man es begehrt. Dahinter steckte freilich noch, wie Nietzsche selbst am besten wusste, die metaphysische Gleichsetzung von Wesen und Zweck. Das zukünftige Ziel der Literatur, der Gesellschaft, der Menschheit wurde zugleich zu ihrem Eigentlichen erklärt.
Hinter dem naiven Technikfetischismus gewisser Zeitgenossen vermutete der junge Mann, bisweilen wohl sogar mit Recht, zu kurz gekommene Menschheitsbeglücker, mit denen er in seinem Leben schon Erfahrungen gesammelt hatte, die für ein Leben reichten. Was ihn zu seinem bescheidenen Artikel provoziert hatte, war ihr Siegeseifer, der sich aus dem Ressentiment speist und die Züge verzerrt. Musste die Ablehnung der literarischen Ersatzutopie aber notwendigerweise zum Rückzug in die selbstzufriedene Biedermeierlichkeit der Sammler von Erstausgaben führen? Zum Glück bot Manufactum noch keine Bücher an, lange würde es nicht mehr dauern. Gab es denn keine Alternative zur falschen Dichotomie aus Revolution und Tradition?
Die Universität, die er besuchte, schmückte ihr Hauptgebäude mit der berühmten Behauptung, dass es nicht darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Er hatte das immer als Absurdität, ja als Zumutung empfunden. Der Urheber des Satze hatte an anderer Stelle von der Last der „Tradition aller toten Geschlechter“ gesprochen, die die Lebenden belaste und sie selbst im Augenblick der totalen Umwälzung „ängstlich die Geister der Vergangenheit“ heraufbeschwören lasse. Ihm selbst hingegen schien die Vorstellung einer Revolution attraktiver, die sich mit eben jenen Geistern der Vergangenheit verbündete, schon allein um Aussicht auf dauerhaften Erfolg zu haben. Er dachte dabei an keine konservative Revolution, nicht an die Rücknahme der Gegenwart im Namen einer vorgängigen Überlieferung. Vielmehr schwebte ihm die radikalste Auslegung des pindarischen genoio hoios essi vor: Werde, der du bist. Nicht allein unsere Zukunft änderte sich durch die Revolution, sondern unsere Vergangenheit. Erst über die interpretierende Um-Schreibung der Vergangenheit würde die Revolution in die Zukunft finden, weil sie nur dann die Prämissen zu ändern vermochte, unter denen sie selber noch angetreten war. Deshalb begann, so dachte er sich, noch jede (nicht nur jede literarische) Revolution mit einer revolutionären Re-Lektüre.
Für die Zukunft der Literatur interessierte sich der Student, er studierte übrigens Literatur, nun immer weniger, für ihre Vergangenheit umso mehr – weil ihm an ihrer Gegenwart gelegen war. Die Literatur im Internet wurde ihm umso sympathischer je weniger missionarisch sie auftrat. Allerdings schien ihm dergleichen immer unbedeutsamer. Er sah das Netz nun als konsequenteste Erfüllung des frühromantischen Traums vom ewigen Werden. Was wird Literatur? Sie wird werden. Und nur wenn sie wird, wird sie sein. Sein muss sie aber, um zu werden. So wird sie, was sie ist. Er begann Aufsätze, Bücher, Essays zu verfassen, für die er insgeheim den Begriff der Literaturphilosophie erfand. Für Zeitungen schrieb er kaum noch.
Etliche Jahre gingen ins Land. Er gab sein beschränktes Wissen inzwischen selbst an die nächste Generation weiter und wunderte sich allenfalls über ihren linkischen Umgang mit Texten jedweder Provenienz. Dass unter ihnen ein Streit über die Zukunft entbrennen würde, gar über die Zukunft der Literatur, hielt er für höchst unwahrscheinlich. Ein wenig hätte er es sich gewünscht. Merkwürdigerweise lud man ihn nun vermehrt zu Veranstaltungen über die Zukunft der Literatur ein. Mit den alten Geschichten hatte das nichts mehr zu tun; sie waren zum Glück längst vergessen. Obwohl doch gar keine Jahrhundertwende ins Haus stand, kündigte sich augenscheinlich wieder irgendetwas an. Nun würde er ihnen also erneut begegnen: den Zukunftsgewissen und angesagten Neuerfindern des „scheibenförmigen Gegenstands mit idealerweise kreisförmiger Kontur, der um seine Symmetrieachse drehbar gelagert ist“ (Quelle: Wikipedia), aber auch den mutigen Spielern und Träumern. Er atmete tief durch und beschloss, sich ihnen stellen. Vielleicht waren sie ja dabei, die Zukunft der Literatur aus dem Berliner Zimmer zu befreien? Das wäre doch schon mal ein Grund zum Feiern.

Christian Benne, geb. 1972, Professor für europäische und deutsche Literatur an der Universität Kopenhagen. Zuletzt erschien: „Die Erfindung des Manuskripts. Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit“ (Suhrkamp, 2015).