Hartmut Abendschein: Was wird meine Literatur?

Hartmut Abendschein: Was wird meine Literatur?

in Dossier: Was wird Literatur?

Der Besuch von Orakeln ist nicht immer eine ungefährliche Sache. Vielleicht hilft es aber, will man ein Bild künftiger Literaturen skizzieren, sich daran zu erinnern, was früher als solche bezeichnet wurden. Und – vielleicht noch wichtiger – worüber geschwiegen wurde. Eines der frühesten Werke, an dessen persönliche Rezeption ich mich erinnern kann, ist Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle, eine Jahrgangsgenossin, quasi. Sicher ist das Buch nur im vorbegrifflichen Sinne als Literatur zu bezeichnen. Als Werkzeug, Medium, Objekt, das eine Geschichte transportiert, haptisch innovativ war und nicht nur als erzählte sondern auch als mediale Allegorie funktioniert, ist sie immer noch auf der Höhe der Zeit, behaupte ich. Und steht für das anschauende Lesen als Transformationsprozess, ist gleichermaßen aber auch literaturdiätetische Schrift. Ein richtiger Longseller in den Kinderbilderbuchcharts. In diesem Lesealter war und ist Lesen, auch als Bildbetrachtung noch mit Literatur identisch und es war (kaum mit Einschränkungen) wichtig. The medium is the message.
In der Oberstufe wurde es dann konkreter. Goethe und Brecht waren Literatur. (Man rief sie beim Nachnahmen, wie alte Kollegen.) Und eine Prise Hesse für die Verträumten. Es gab ein geheimes System von Namen, den Lehrplan, der das bestimmte. (Wer diesen bestimmte und warum, war (uns) nicht transparent. Die KMK selbst im Bereich des Literarischen.) Dies bestätigte sich in ähnlicher Weise in der Buchhandelsschule, dort wurden sogar Whitelists ausgehändigt. Autortitelkombinationen, Verlagsnamen, Orte, Jahrgänge. ISBN. Ein Werk wurde zu einem syntaktischen Metadatensatz mit verbindlicher Nummer. Praktisch. Aber eines unter einigen. Noch theoretischer, ungreifbarer, kühler. In der Praxis – in einer Großbuchhandlung – stand die Literatur zwischen Krimi- und Sachbuchabteilung. Mit einem kleinen Lyrikregal als strukturell erratischem Wurmfortsatz. Wieder Hesse, Benn, die Droste. Von Kling oder Brinkmann hatte man damals auch schon was gehört. Machte die BuchhändlerInnen aber trotzdem ratlos. Man nannte es Kassengift, auch schon in den Neunzigern. Aus Gründen aber unverzichtbar. (Gleich daneben zur Kompensation: Die Kontemplationslyrik einer Allert-Wybranietz mit Rosenfotos als Geschenkbändchen. Läuft. In Kurorten sogar wie warme Semmeln.)
Fürs literaturwissenschaftliche Studium geeignet war das wenigste. Die Germanisten sagten: Goethe und Brecht. (Die Kollegen.) Die Anglisten Shakespeare und Chaucer. Faust 1 noch eher als Faust 2, aber manchmal muss es sein. Der Urfaust nur den Strebern vor der Zwischenprüfung. Frankenstein 2 noch eher als Toni Morrison. Aber o.k.
In Schottland gab es Robert Burns (Tae a Moose – die kleine Raupe Nimmersatt wird jetzt etwas nervös.) Und Alasdair Gray – wenn man Drogen mochte. Im Hauptstudium dann Durchbruch und Befreiung: man lernte auszurechnen, dass X% aller Literaturbegriffe zumindest fragwürdig sind. Man frage also lieber nach den Machtverhältnissen, die sich in Texten und Textaussagen spiegelten, man frage nach dem impliziten Leser, man frage nach dessen Mutter, man suche und analysiere verschollene oder apokryphe Kanones. Literatur ist demnach eine variable, ästhetische Erinnerungsfunktion. Und für den Common Sense: noch nie haben zwei Menschen dasselbe Buch gelesen. Noch nicht einmal das gleiche.
Als Verlagspraktikant erzählte man uns, dass unser Verlag die Richtige Literatur macht und der XY-Verlag nicht. RundfunkvolontärInnen pries man die autorschaftliche Sprechstimme. O-Ton ist Gold und the voice the message. Aber nur, wenn sie auch Preise erworben hat. Und eine Anerkennungsgabe der Literaturgruppe Olten war damit nicht gemeint. Dem Presselektorat ist Literatur, was im Feuilleton ist. The name ist the message. Zunehmend auch mal ein E-Book. Bei der Nennung von Games war man vorsichtig. Mit Webseitenliteratur sparsam. Textformate mit ungewissem Ausgang galten alle als irgendwie igitt.
Geradezu basisdemokratisch ist die Bestandesbildungspolitik der Universitätsbibliothek. Wenn man genug im Budget hat und entsprechende Kompetenzen, kann man fast eigenverantwortlich und in definitorischer Absicht wirksam werden. Kanones gab es auch, aber derer viele. Und den Sammelauftrag der lokalen Mundartdichter. Die Sondersammelgebiete sind zahlreich und wechseln alle zehn Jahre. Ebenso das Erwerbsprofil. Kontinuität ist allerdings Glückssache. Und Katalogbrüche sind wahrscheinlich, aber das ist ein anderes Thema.
Was ich damit sagen will: Je nachdem, mit wem man zu Tische sitzt, wird sich der Literaturbegriff dehnen und engen, vorausgesetzt natürlich, die Verhältnisse bleiben stabil und demokratisch und der Definitionsmächte viele. Nihil novum sub sole novum. Das ist die Prognose. Literatur in summa war, ist und wird also sein, wozu Gesellschaften und ihre Teilsysteme bereit sind, als solche zu bezeichnen, zu rezipieren, sich darüber auszutauschen. Warum sollte es also in ein paar Jahren nicht ein Spaziergang mit Oculus Rift sein. Oder – wie in Christian Böks Xenotext-Experiment – die Produktion eines Gedichte-Generators auf bakterieller Grundlage. Oder auch nur eine semiotisch gelungene Rückenmassage. Was immer man sich auch als kreative, bewusstseinserweiternde, willkürliche Zeichen, Zeichenkombinationen, -träger vorstellen mag. Im radikal anderen Fall gibt es dann eine (1!) Bibel an deren vier Schriftsinne wir alle glauben müssen. Einen Kommentar, der uns in Freiheit wiegt. Und ein paar mehr oder minder entspannte Auslegungsapparate.

Mit dieser Einsicht kann meine Literatur, die Freiheit nehme ich mir, – neben gelegentlicher Sichtung dessen, was andere als Literatur bezeichnen – diejenige sein, die ich als solche mache. Das sind auch immer wieder (Text-)Artefakte, die aus Materialsamplings entstehen. Manchmal Appropriationen, die aber um einen entscheidenden Tick erweitert werden. Dabei soll zunächst einmal kein Medium, kein Material, keine Technik ausgeschlossen werden. (Klar, das Buch ist ziemlich praktisch. Weswegen ich auch unbedingt an die Weiterexistenz der Buchkultur glaube. Menschen sind so.) Wenn das Archivieren das neue Sammeln und Rezipieren ist (Kenneth Goldsmith), dann ist das Buch nun einmal ein Tausendsassa.
Wenn es in Betrieb, Handel und Lehre nur noch 1-2 möglichst definierte und zu reproduzierende Gattungen gibt, deren Wahrnehmung und Vermittlung als respektabel erachtet wird, dann kann mir das egal sein. Mich interessieren die Ungenannten, Untendurchgefallenen und noch Unerprobten. Die Chimären und Mutanten. Was also Literatur sein kann und soll, ist für mich auch das, was sich medial, aber auch von Gatekeepern und Vorbildern emanzipiert. Von mir aus auch die Haltung eines ungeschriebenen Texts. Folglich will ich den Begriff breit und offen halten und arbeite gegen dessen Vereinnahmung bzw. Verknappung durch Textsortenkonventionen, Märkte, Betriebe, Medien, Performancetrends etc., sowohl als Autor, Herausgeber als auch als Verleger.
Kommen wir also zum Verlag, denn es ist nur konsequent sich als solchen aufzustellen: Die Verlagsarbeit sehe ich als fortlaufende Arbeit an einem poetischen Text: In der Darstellung und Anfertigung von Exempeln unterschiedlichster Art und deren Edition, entsteht ein sich aufdatierendes Gesamtliteraturkunstwerk, das Archiv und Resonanzraum für zeitgenössische, vergangene und künftige mögliche Literaturen sein kann. Neben konventionelleren Schriften befinden sich darin gleichberechtigt Oulipo-Ansätze, dissidente Schreibweisen, Sobjekte, aber auch printedierte Botprotokolle, Unterlassungserklärungen und Netzliteraturen. Literatur als Texterkenntnis ist auch Textkenntnis des ganz Anderen. Der Menueplan der kleinen Raupe ist divers. Das Ergebnis spricht für sich.

Hartmut Abendschein, Schriftsteller, Herausgeber und Verleger, geb. 1969 in Schwäbisch Hall. Lebt und arbeitet in Bern und ist seit 2007 Verleger der edition taberna kritika. Zuletzt veröffentlichte er „Flarf Disco. Popgedichte“ (2015).