Oliver Bukowski: Jeder für sich und alle miteinander?

Oliver Bukowski: Jeder für sich und alle miteinander?

in Dossier: Was wird Literatur?

In der Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie nennt sich das „Priming“, „WYSIATI“ (What you see is all there is – in etwa: „Nur, was man gerade weiß, zählt“) und „Halo-Effekt“: Wir nehmen ein paar Anfangsinformationen – ob nun vorgegeben oder selbst gesucht – und treten daraus den neuronalen Trampelpfad unserer Annahmen und Vorhersagen. Unsere ersten, schnellen Schlussfolgerungen sind beharrlich. Jede und jeder weiß, wie schnell der sog. Erste Eindruck bei der Partnerwahl gebildet, aber wie schwer er zu korrigieren ist. Orakeln wir hier über die Zukunft des Schreibens, sind wir da nicht viel besser dran, wir „primen“ uns. Wir destillieren die massivsten Phänomene aus der Gegenwart und glauben zu wissen, was sich künftig wie entwickeln wird. Wir projizieren und wahrsagen. So entstehen Trends, so entstehen Moden und das, was dann sehr bald als brandneu und Avantgarde ausgerufen wird. Bis, ja bis, wir uns wieder zusammensetzen und neuerlich aus dem Bodensatz der Tasse Kaffee in der Kantine lesen. Denn wir glauben stur daran, dass nichts bleibt, wie es war. Dass es Entwicklung gibt, geben muss. Höherentwicklung sogar. Überall ist das so, also auch in der Kunst. Wieder ein Fehler. Ein sehr menschlicher – denn unsere Spezies urteilt intuitiv nun mal so naiv optimistisch. Evolutionspsychologisch mag das sogar von Vorteil sein, aber hier, in Kunstfragen, ist es ein folgenreicher Irrtum. Anders als in Wissenschaft und Technologie, lässt sich in der Kunst nicht von Fortschritt oder Höherentwicklung sprechen. Wie der Fotograph Man Ray wusste: „Kunst hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Kunst ist kein Experiment. Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst, ebensowenig wie es Fortschritt in der Sexualität gibt. Um es einfach zu sagen: Es gibt nur verschiedene Wege, sie auf die Beine zu stellen.“1 Oder für das Theater mit dem Fachjournalisten Dirk Pilz: „Die Annahme von Fortschritt in Kunst ist jedoch ein Irrglaube: Nie werden durch neue Formen alte hinfällig. Die Theatergeschichte wird – wie jede Kunstentwicklung – nicht durch Fortschritte, sondern durch Ausdifferenzierungen bestimmt. Rimini Protokoll macht keine Andrea Breth hinfällig, Gob Squad keinen Bondy. Im Grunde ist diese Feststellung eine Banalität, aber der blinde Fortschrittsglaube des ‚postdramatischen Theaters‘, die Frontstellung zwischen vermeintlich alten und vorgeblich neuen Darstellungsweisen ließ dies leicht in Vergessenheit geraten. … Der Gestus der Opposition – gegen das Vorhandene, „Alte“ – OB – allein macht noch keine eigene – und gehaltvolle – Haltung.“2 Nichts gegen den Versuch, Entwicklungen zu sehen und zu bestimmen. Gefährlich wird es nur, wenn wir uns hier tatsächlich einigen und wieder einmal allzu genau wissen, was modern und avantgardistisch ist. Gefährlich nicht, weil wir uns vielleicht irren, sondern weil wir der Kunst genau das nehmen, was sie am Leben hält und ihr Publikum sichert: die Vielfalt. Wir setzen das Eine über das Andere und erledigen damit beide. Das Vorhandene, indem wir es pauschal als unbrauchbar und gestrig denunzieren; das Neue, weil wir es für überlegen halten und ihm jede Bühne schenken – genau so lange, bis eben kaum eine Bühne mehr anderes zeigt. Das, was gerade noch brandneu war, ist dann wieder das Gewöhnliche. „Hypermoderne Sachen haben die seltsame Angewohnheit, schneller als andere zu veralten“,3 wie Nabokov sagte. Aus Avantgarde wird Mainstream, und alles beginnt von vorn. Das Paradox: Wer zu genau über die Zukunft redet, verhindert oder übersieht sie. Erwartungshaltungen „primen“, sie richten unsere Wahrnehmung und engen sie dadurch ein. Noch verstiegener wird es, wenn wir uns auf inhaltliche Vorhersagen einlassen. Es hieße nicht nur, die ästhetischen Formen künftiger Bühnenereignisse vorherzusagen, wir Scharlatane müssten auch noch den Gegenstand des kommenden Theaters prophezeien, nicht weniger als die komplette Gesellschaft der Zukunft also. Bitte nicht, jeder Horoskop-Redakteur hätte mehr Anstand. Wie nun trotzdem über das Schreiben von Morgen reden? Ich denke, indem wir nachsehen, welche Probleme wir heute haben. Der erste Gedanke zu ihrer Lösung ist dann schon ein Spurenelement von Zukunft. Dirk Pilz vermisste Gehalt bei den Modernisierungs-Versessenen. Gehalt entsteht durch das Spannungsverhältnis von Form und Inhalt. Pilz‘ Kritik zielt darauf, dass die Postdramatik der letzten Dutzend Jahre vor allem durch die Entwicklung der Theaterformen spektakulär sein wollte. Draußen, vor dem Theater, tobte die Spätmoderne. Die Habermassche Unübersichtlichkeit der Verhältnisse wurde drinnen, im Theater, zur Undurchschaubarkeit vulgarisiert. Jeder Kausalzusammenhang in Plots, Konflikten, Figurenentwicklungen galt nun als peinliche Vereinfachung, als „unterkomplex“. Überhaupt, das „Komplexe“ – die Vokabel wurde zum steten Hammerschlag gegen das Repräsentationstheater. Grundzug der neuen Suchbewegung: das Theater soll unverwechselbar subjektiv (damit auch ein Markenschlager) und es soll wahr sein. Subjektiv sollte es werden, indem man nun die Zwangsjacken von Rolle und Figur abwarf. Und wahr wurde es, weil man sich von den herbeikonstruierten Kausalketten befreite und also nun so ähnlich komplex in seinen Komplexen, überfordert und sinnverlassen auf der Bühne stand, wie man sich auch draußen durchschlug. Beides sollte sich dann glücklich zu dem vereinen, was in einer so feindlich wirren Welt von höchstem Wert sein musste: wieder glaubhaft sein, authentisch. Jede Form von Einfühlungstheater war von nun an Lüge. Die Rhetorik: Einfühlung = Gefühl = Gefühligkeit = Sozialromantik = Kitsch. Sozialrealismus wurde zum Schimpfwort, nur der eigene, der postdramatische Ansatz galt. Alles hier zu knapp und ungerecht skizziert, aber im Prinzip wieder nur der ganz gewöhnliche Fall, wo sich eine einzige Denkweise als Weltgeist zu Pferde hievt und alles Vorhandene niederreitet. Doch, frohe Botschaft, auch ein Glücksfall. Denn die Postdramatik vernichtete nicht nur, ihr Ansatz war kein monoformaler, sondern trug selbst viele Spielarten in sich. Die Klaviatur verfügbarer Theatermittel erweitert sich ungeheuer. Von Dokumentar- über Tanz-, Erzähl-, Störfall- bis Diskurstheater – es wurde wie der Teufel experimentiert. Auch sprachlich. Wir sehen heute Rhythmus, Arbeit mit Zeilenbruch und lyrischer Metaphorik bei Palmetshofer und Schmalz, die Fließtexte der Jelinek, Slang und Soziolekte bei Berg, Laucke, Kricheldorf, Diskurs-Idiome bis in die Lecture Performance, Erzähltheatralik mit Bericht, Kommentar und nahezu reiner auktorialer Prosa, chorische Intarsien ähnlich dem Hiphop in den „Sprachskulpturen“ der Zeller, die alltagsbelassene Sprache des Dokumentartheaters und jeden Tag vieles mehr. Hatte ein Text nur irgendeine performative Potenz, ließ er sich auf die Bühne bringen. Aber was ist die nun, diese dunkel fordernde „performative Potenz“? Genau diese Frage ist und bleibt für Schreibende ein Problem. John von Düffel spricht von einer „postdramatischen Verunsicherung“ der Autorinnen und Autoren. Das ist aufregend oder entmutigend. Gerade die, die anfangen, für das Theater zu arbeiten, sitzen häufig vor dem leeren Blatt und wissen nicht recht, was die Bühne eigentlich von ihnen will. Wo zeigt sich denn „performative Potenz“ wenn ich jeden Roman, jeden Tagebucheintrag und Küchenzettel auf die Rampe bringen kann? Wenn keine Kausalzusammenhänge mehr gefragt sind, dann kann ich auch keine Handlungslogik anlegen und die Entwicklungsdynamik des Abends verifizieren. Wo es weder Figur, Konflikt noch Situation gibt, lässt sich für einen Satz auch nicht entscheiden, ob er aufgrund einer bestimmten Motivation, einer Erregung oder einer kontextuellen Reaktion zu glauben ist. Gleiches gilt für die Theatermacher. Ob nun ein Text „theatral“ und „performativ potent“ ist, lässt sich nicht mehr an sich bestimmen. Der Text im Manuskript war einst ein Angebot für das Theater. Zum Theaterstück wurde er, wenn er auf die Bühne kam. Präsentationsraum und -situation erlösten ihn aus der Papierform. Spätestens seit den 1990ern wird Theater aber erst dann Theater, wenn es als solches im Parkett gesehen und verstanden wird – die große Zeit der Wirkungsästhetik und Funktionsanalyse begann. Schreiben heißt Entscheiden. Wer aber entschied nun? Ich, der Autor? Der Regisseur? Alle Prozessbeteiligten? Vom Text selbst, das war postdramatisch, war nichts Zwingendes mehr zu holen. Also entschied der, der die Macht dazu hatte. Die letzte Instanz vor dem Publikum: die Regie. In Kritik des sogenannten Regie- oder genauer Regisseurstheaters und seinen brutalen Strichen, Textumstellungen, Fremdtextcollagen peitschte sich dann freilich die Debatte um Urheberschaft und Werktreue hoch. Lange Jahre dummer Ego- und Grabenkämpfe bis man dann endlich, endlich den Prozess anerkannte und sich selbst in ihm sah: egal, wie es beginnt (ob als Manuskript oder freie Improvisation): das, was es wirklich ist, ist es erst in den Köpfen des Publikums. Auf dem Weg dahin war man mehr Zuträger als grandios selbstherrlicher Entscheider. Man stellte auf Konferenzen sogar zerknirscht fest, dass man sich mit Personalkarussell, Namedropping und Förmchenspiel wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt hatte. Theater als Insiderveranstaltung für Theatermacher, ohne Einführungsveranstaltung und Begleitheft kaum noch erklärlich für den eigentlichen Adressaten, das Publikum. Gutes Theater machen und trotzdem verstanden werden – dafür wollte man alle Kompetenzen bündeln. Fortan sollte gemeinsam, also kollektiv entwickelt werden. Und in genau dieser Arbeitssituation befinden wir uns heute. Mal wieder. So ein Text, das ist noch immer so, hat dabei eine enorme Macht und Funktion. Erstens, ist er – ähnlich einem Geschäftspapier in der Wirtschaft – der erste Grund und Anlass, Personen und Ressourcen zu bündeln. Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Bühnenbildner entscheiden sich wegen dieser paar Seiten Papier, Verträge zu unterschreiben. Intendanten planen, die Werbung rollt an. Zweitens leistet er im kollektiven Miteinander Hervorragendes. Gegen und mit ihm kann man arbeiten, auf ihn kann man sich jederzeit beziehen. Selbst, wenn man frei entwickeln will, kann man mit ihm Improvisationen domestizieren, sich dramaturgisch rückversichern, Debatten konzentrieren oder auch nur beruhigen, dass, wenn alles scheitert, der Text immerhin noch die Chance auf ein gutes Ende des kreativen Gemetzels bietet. Notfalls kann man ja wieder werktreu werden. Wie aber kommt es zum Text? Die Autorin, der Autor schreibt und liefert – das ist der übliche Weg. Das Theater Kollektiver Stückentwicklung kann das nicht hinnehmen. Warum auch einen so wesentlichen Posten auslassen? Man kann nun Autoren einladen. Vorher oder immer mal wieder. Mit ihnen streiten, feilschen, zu Veränderungen bewegen. Auch das ist Alltagspraxis, und kaum eine Autorin oder Autor wird sich guten Argumenten sperren. Hingegen kenne ich keinen Regisseur, der sich im fairen Gegenzug ähnlich kooperativ und veränderungswillig zeigt, wenn es um sein Regiekonzept, seine Inszenierungs-Ideen und -Entscheidungen geht. Der Kollektivgeist schwächelt also schon. Aber auch das so alles anders und besser werden. Writers-Rooms, „Agiles Theater“! Alle mit allen und zwar gleich von Anbeginn an! Der Kommunikationsberater, Theaterwissenschaftler und Dramatiker Ulf Schmidt entnimmt aus der Wirtschaft und der Produktionsweise der besten US-amerikanischen Serien ein Verfahren, in dem sich alle Kompetenzen des Theaterbetriebs bündeln sollen. Wie das im Einzelnen geschieht: dazu bitte ein Blick auf seine Website.4 Im Prinzip geht es darum, nicht nur einen Autor aktiv in den Theaterbetrieb einzubinden, sondern gleich einen ganzen Stab. Gemeinsam mit allen anderen Entscheidern des Theaterbetriebs soll dann das Bühnenereignis digital und interaktiv revolutionär entwickelt werden – von der ersten Idee bis zum letzten Vorhang. Einmal davon abgesehen, dass eine weltweit erfolgreiche Serien-Produktion die Mittel für solch einen Luxus hat, nicht aber das Theater, so ist das doch ein schönes, paradiesisches Zukunftsszenarium. Aus Erfahrung skeptisch bin ich allerdings, weil der Kern der Schmidtschen Arbeitsweise noch immer eine Art Brainstorming ist. Alle arbeiten, denken nach, klügeln miteinander. Letztlich aber, sonst endet das nie, muss jemand sagen: Ja, so soll es sein, final cut! Bei diesem Konzept ist das dann so ein Sachwalter der Idee, ein „Product Owner“. Das muss in diesem Modell zwar nicht die Regisseurin oder der Regisseur sein, aber wo liegt dann der Unterschied zu deren Allmacht, das letzte Wort zu haben? Ob nun Product Owner oder Regisseur – wieder steht eine Einzelperson am Ende der Entscheidungskette und hat keinen künstlerischen Fressfeind. So weit, so normal – Kunst, soll sie sich vor Publikum zeigen können, ist nicht basisdemokratisch zu schaffen. Aber was ist mit dem Prozess, dem gemeinsamen Weg dahin? Leisten die Writers Rooms hier nun mehr als das, was wir aus Konzeptionsproben, Arbeitsgesprächen, Schreibseminaren und Workshops kennen? Nein, denke ich. Und zwar weil das gute, alte Brainstorming eben dafür nicht taugt. Es langt für marginale Einzelfragen, nicht aber für die Struktur und Wirkungsästhetik, den Hauptsachen des postdramatischen Ereignisses. Dagegen hilft alles Digitale wenig, denn Probleme, die verbal kaum noch vermittel- und begründbar sind, klaren nicht auf, nur weil sie uns auf den Bildschirmen entgegenleuchten. Schmidt, das ist erfreulich, bleibt nicht nur im Teich der Theaterwissenschaft, aber warum liest er, der Kommunikationsberater, nicht auch bei denen nach, die schon ewig zum Thema arbeiten, den Wissenschaftlern der Kommunikations- und Kreativitätsforschung? Seit 1882 ist dort der Ringelmann-Effekt bekannt. Das Phänomen, dass das Ergebnis nicht unbedingt besser wird, nur weil es in der Gruppe erarbeitet wurde. Im Gegenteil, wir delegieren Verantwortungen, verbergen uns in der Gruppe, strengen uns weniger an. Und werden die unterschiedlichen Auffassungen dann schließlich doch zu einem Konsens geglättet, dann ist es eben ein Konsens blutarmen Mittelmaßes. Etwas, womit alle „irgendwie leben“ können. Wer das plastisch erfahren will, der setze sich einmal in eine ganz alltägliche Drehbuchkonferenz deutscher Filmproduktionen und beobachte die Herrschaften beim „Ploten“. Und weiß Schmidt von den in den Kognitionswissenschaften bekannten „Verlustaversionen“? Dem so menschlichen Reflex, selbst auf Missratenem bocksstur zu beharren, nur weil man zuvor so viel Zeit, Mühe und Gedanken investiert hat. Kennt er das nicht wenigstens aus seinem Arbeitsleben als Autor? Oder das Brainstorming selbst, das Mantra der Kreativgruppen. Schon vor zehn Jahren wussten Utrechter Sozialpsychologen: „Die Situation des Brainstormings stört den Gedankenfluss des Einzelnen. Wenn man mit anderen Menschen reden muss, sich mit ihren Ideen auseinandersetzt, im Gespräch immer wieder unterbrochen wird, werden die eigenen Denkprozesse blockiert. Assoziationsketten reißen ab, Verarbeitungstiefe und Anzahl der Ideen nehmen ab.“5 Alles satt bekannt. Warum nicht den Freunden Kollektiver Kreativität? Sicher, es gibt da schon einige Techniken, das Miteinander doch noch glücken zu lassen. Beispielsweise hilft die ständige Verschriftlichung der Positionen vor dem Gruppengespräch. Nur, ich hab es immer und immer wieder probiert: Kaum ein Regisseur, nicht einmal der Dramaturg und schon gar nicht ein Darsteller lässt sich darauf ein. Man fürchtet, sich nachlesbar festzulegen. Außerdem gibt der Theaterbetrieb die Kollegen nicht frei, sie haben ganz einfach keine Zeit dafür. Und selbst wenn, sind die Ergebnisse nicht viel besser. Denn das Problem liegt nicht in den Umgangsformen, sondern in dem, was es gemeinsam zu entwickeln gilt. Ein gelungener Abend Gegenwartstheater ist in Form und Inhalt ein sehr viel subjektiverer Zugriff auf Welt, als dass er Ergebnis eines Gruppen-Konsens sein kann. Zwei Hauptgründe unseres kollektiven Scheiterns: Erstens, die Dramaturgie. Anders als in Film- und Serienproduktion hat die Raffinesse der Handlungslogik – etwa eines Plots – geringeren Stellenwert. Warum jetzt dies oder jenes genau so geschieht und geschehen muss, ist deshalb kaum noch sinnvoll debattierbar. In der Not verlegt man sich auf das Sammeln von Einfällen, und genau so sieht es auf der Bühne dann auch aus: eine Reihung von Einfällen, so bunt wie beliebig. Zweitens, die Sprache. Der Film arbeitet im Wesentlichen mit Umgangssprache. Mit etwas Stilkunde ist die von jedem gut zu bearbeiten. Nicht so die Sprache der Bühne. Man kann in die artifiziellen Sätze, Ellipsen, Rhythmen, Stilbrüche, Metaphern – etwa eines Schwab, Palmetshofer oder Schmalz – nicht so einfach hineinkorrigieren. Schon gar nicht kollektiv. Tut man es doch, geht die Kraft dieser Sprache verloren und mit ihr ein Großteil des Theaterabends. Und doch, es könnte gehen! Thomas Ostermeier, Intendant der Schaubühne, arbeitet mit seinem Dramaturgen und Hausautor Marius von Mayenburg. Er liest jede Textfassung mit, erklärt, was ihm gefällt und was er sich anders wünscht. Ein großer Fehler, sagt Ostermeier: Ich mildere oder entferne mit dem Autor alles, was mir im ersten Moment nicht passt. Danach habe ich einen (mir) gefälligen Text. Aber es sind gerade die sperrigen Stellen, die Zeilen und Szenen, die ich noch nicht verstehe, an denen ich mich abzuarbeiten habe. Genau da muss mir was einfallen, hier liegt meine Chance als Regisseur, zu erfinden, wirklich Neues zu schaffen. Er, Ostermeier, werde nie wieder seinem Autor so früh ins Handwerk pfuschen. Ist das schon Zukunft? So wenig, so viel? Ich denke, ja. Künftig wird es für uns Autoren womöglich kollektiver zugehen, aber Ostermeiers Erfahrungsbericht lärmt nicht mit hipper Gruppenkreativität, er stärkt die Position des Einzelnen – im Kollektiv. Die Zusammenarbeit wird nicht permanent betrieben, sondern behutsam und erst dann, wenn jede und jeder immer wieder die Zeit für sich hat, das Eigene zu entwickeln. Und selbst danach, in der Gruppe, wird es nicht – Regress zum Mittelmaß – auf den kleinsten Nenner herunter debattiert, nur weil er dann ein „gemeinsamer“ ist. Im Gegenteil, das je Andere wird zunächst einmal belassen und ausgehalten. Und mehr noch: Es wird Initialzündung für das eigene Denken. Jeder für sich und dann erst miteinander – so unspektakulär das auch klingt, es wäre schon mehr, als ich heute irgendwo vorfinden kann. Zuerst herrschte Vereinzelung unter der Allmacht der Regie, dann – oh, flache Hierarchien – wurde das Kollektiv, und nur das Kollektiv, als Wundermittel ausgeschrien. Jetzt sollten wir endlich Beides dialektisch einen, sinnvoll in ein Spannungsverhältnis setzen. Wir bräuchten dazu nicht einmal Writers Rooms. Alles da, die vorhandenen Strukturen lassen das schon lange zu. Nur sehen und nutzen wir sie nicht, wir benehmen uns lieber wie Hipsters: Alles Neue radiert das Vorhandene rückstandslos aus, bloß weil es „neu“ ist. Hören wir damit auf und wir sehen zwar unsere schwierige, oft frustrierende Vergangenheit, haben dafür aber auch eine Zukunft. Vielleicht sogar eine gemeinsame.


1 zit. n. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heide Paris, Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Reclam: Leipzig 1990, S. 315.
2 Dirk Pilz: Der Gestus der Opposition. Unübersichtliche Vielfalt am Theater. In: Neue Züricher Zeitung, 27.7.2012.
3 Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1999, S. 38.
4 http://postdramatiker.de/
5 Siehe Psychologie heute, März 2005, S.8.

Oliver Bukowski, Dramatiker und Hörspielautor, geb. 1961 in Cottbus, ist seit 2012 ständiger Gastdozent an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg.