Nora Gomringer: Was wird Literatur?

Nora Gomringer: Was wird Literatur?

in Dossier: Was wird Literatur?

Audiofile einer Rede, per Kapsel ins All geschickt im Jahr 2015
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Literatur wird spätestens ab dem Jahr 2035 vollkommen bedeutungslos für die weitere Zukunft, wird zum abgeschlossenen historischen Phänomen, das Eingeweihte, sogenannte Reader, noch als Quelle für Barcodierungen verwenden, die über das Binäre hinausreichen sollen. Alles andere, was unsere Generation eventuell noch an der vielköpfigen Hydra, der schön gelockten Nymphe, der Rausch fordernden „Cocaina Literatur“ schätzt, wird vergangen sein.
Abgesehen von meiner Kristallkugel lassen die Umstände, denen ich das Jahr 2015 ausgesetzt sehe, diese Prognose zu. Seit beinahe einer Dekade gibt es innerhalb der europäischen Union zunehmend die Tendenz, wenn nicht bereits die gängige Praxis ganzer Staaten und Regierungen, sich um die kulturellen Entwicklungen ihrer Bürgerschaften kaum oder gar nicht mehr zu bekümmern. Wo Sport, Lebensmittel- und Genusswarenindustrie als Teile der allgemeinen Kulturindustrien keine Einbussen erleben – außer vielleicht den ein oder anderen hinfälligen Skandal – werden rein rhetorisch die Zuwendungen an die Kunst stets als „Subventionen“ niemals als „Investitionen“ bezeichnet. Und weil Sprache Haltung ausbildet, wird die Welt müde vom ständigen Subventionieren irgendwelcher unverständlicher, unbegreiflicher Künste, deren Ansichten, Ziele und Profile auch deshalb nicht mehr nachvollzogen werden können, da in den Schulen und Universitäten Kunsterziehung, Musik und Religion keine Rolle mehr spielen, beim Ausfall der Stunden in diesen Fächern ja längst niemand mehr „Aufholen“, „Nachholen“, „Ersatz“ oder gar „bessere Qualität“ fordert. So gesehen überlebt die Literatur von allen Künsten noch am vergleichbar längsten, da sie quasi getarnt, eingebettet ist in eine Gruppe von Scheinwissenschaften: die Philologien. So wie unsere Zeiten zunehmend Bildung und Haltung zu Bildung entwerten, indem offizielle Gelder gekürzt und gestrichen, Kinder auch deshalb nicht mehr dem staatlichen Bildungssystem anvertraut werden, werden viele Wissenschaften ihre Wertigkeit hinter jenen die sich selbst nach der Hebelwirkung direkter, unmittelbar sichtbarer Resultate beurteilen, verschwinden müssen. Die Zeitungen, deren Mitarbeiter zum Teil nur noch als freie, nicht ausgebildete Enthusiasten zeichnen, lassen sich den geringen für’s Feuilleton zugestandenen Platz nur noch von Werbung füllen, verlieren dadurch vollends Trennschärfe und meinungsbildende Funktion. Die Bildmedien werden hilfloser in der Behandlung von Literatur, da ja kaum mehr einer außerhalb des Internets liest. Das Internet aber ist Heimstätte nicht der Literatur, sondern einzelner Textphänomene, die alle zusammen genommen, eine Haut, nicht aber eine Membran bilden. Außerdem wird nur noch das manipulierte Bild sprechen, welches wir ohne ein Verständnis für ikonographische Traditionen decodieren können. Traditionen überhaupt werden als reine Nostalgie abgetan. Und Nostalgie ist Ausdruck einer bewegten und beweglichen Seele und die werden nur Migranten, Flüchtlinge, Bewegte und damit Bevölkerungsgruppen, die kein hohes soziales und gesellschaftliches Ansehen besitzen und auch in Zukunft nicht besitzen werden, ihr eigen nennen. Weil unser Literaturverständnis des Jahres 2015 dem Geheimnis, der Erinnerung, der Schönheit und eben den Traditionen verschrieben ist, verstehen wir es kaum, diesen Schlagwörtern den Aufstand, die Verstörung, die Härte und die Struktur entgegenzusetzen, so wie es nur Literaten könnten, nämlich in radikaler, beweglicher und intellektueller Weise. Daher sehe ich bis 2035 die Bedeutung der Literatur abnehmen und ab 2035 gänzlich verschwinden. Literatur wird folglich Erinnerung. (Fun fact: Erstes Zeichen dafür wird grammatikalisch das Aussterben des Konjunktivs sein. Konjunktive drücken im Deutschen Möglichkeiten und Wünsche aus. Für eine Gesellschaft, die sich dem Faktischen vollkommen verschreibt und das Wünschen den Randgesellschaften überlässt, entfällt die Notwendigkeit, sich einer kommunikativen Entsprechung zu bedienen.) Für die Menschen, die noch mit Literatur aufgewachsen sind, in Strukturen, die eine Beschäftigung mit ihr zuließen, forderten und nötig machten, wird sie eine der vielen Geschichtstopoi sein, die man den Kindern und Kindeskindern anderer Leute erzählt – denn meine Generation bekommt keine Kinder – wenn diese überhaupt noch Geschichten fordern.
Hoffentlich aber wird noch in der nächsten Dekade alles anders und Literatur bleibt ein Phänomen der Sprache und der Erfindung und damit ultimativer und lustvoller Ausdruck menschlicher Existenz. Dafür aber bedarf es der schützenden, erhaltenden Strukturen, die jede Anfechtung abwehren, die die Wichtigkeit scheinbarer Marginalia hochhalten, schon weil es sich vom Rand am besten ins Innere blicken lässt und diese Beobachtung immer noch als wertvollstes zivilisatorisches Ringen erkannt bleibt, da es auch allen xenophoben Tendenzen aktiv entgegen zu wirken vermag.
Aber diese Absichten sehe ich 2015 nicht und von daher:
wird Literatur spätestens ab dem Jahr 2035 vollkommen bedeutungslos für die Zukunft, wird zum abgeschlossenen historischen Phänomen, das Eingeweihte, sogenannte Reader, noch als Quelle für Barcodierungen verwenden, die über das Binäre hinausreichen sollen. Alles andere, was unsere Generation eventuell noch an der vielköpfigen Hydra, der schön gelockten Nymphe, der Rausch fordernden „Cocaina Literatur“ schätzt, wird vergangen sein.
Abgesehen von meiner Kristallkugel lassen die Umstände, denen ich das Jahr 2015 ausgesetzt sehe, diese Prognose zu. Seit beinahe einer Dekade gibt es innerhalb der europäischen Union zunehmend die Tendenz, wenn nicht bereits die gängige Praxis ganzer Staaten und Regierungen, sich um die kulturellen Entwicklungen ihrer Bürgerschaften kaum oder gar nicht mehr zu bekümmern. Wo Sport- und Genusswarenindustrie keine Einbussen erleben – außer vielleicht den ein oder anderen hinfälligen Skandal – werden rein rhetorisch die Zuwendungen an die Kunst stets als „Subventionen“ niemals als „Investitionen“ bezeichnet. Und weil Sprache Haltung ausbildet, wird die Welt müde vom ständigen Subventionieren irgendwelcher unverständlicher, unbegreiflicher Künste, deren Ansichten, Ziele und Profile auch deshalb nicht mehr nachvollzogen werden können, da in den Schulen und Universitäten Kunsterziehung, Musik und Religion keine Rolle mehr spielen, beim Ausfall der Stunden in diesen Fächern niemand „Aufholen“, „Nachholen“, „Ersatz“ oder gar „bessere Qualität“ fordert. So gesehen überlebt die Literatur von allen Künsten noch am vergleichbar längsten, da sie quasi getarnt, eingebettet ist in eine Gruppe von Scheinwissenschaften: die Philologien. So wie unsere Zeiten zunehmend Bildung und Haltung zu Bildung entwerten, indem offizielle Gelder gekürzt und gestrichen, Kinder auch deshalb nicht mehr dem staatlichen Bildungssystem anvertraut werden, werden viele Wissenschaften ihre Wertigkeit hinter jenen die sich selbst nach der Hebelwirkung direkter, unmittelbar sichtbarer Resultate beurteilen, verschwinden müssen. Die Zeitungen, deren Mitarbeiter zum Teil nur noch als freie, nicht ausgebildete Enthusiasten zeichnen, lassen sich den geringen für’s Feuilleton zugestandenen Platz nur noch von Werbung füllen, verlieren dadurch vollends Trennschärfe und meinungsbildende Funktion. Die Bildmedien werden hilfloser in der Behandlung von Literatur, da ja kaum mehr einer außerhalb des Internets liest. Das Internet aber ist Heimstätte nicht der Literatur, sondern einzelner Textphänomene, die alle zusammen genommen, eine Haut, nicht aber eine Membran bilden. Außerdem wird nur noch das manipulierte Bild sprechen, welches wir ohne ein Verständnis für ikonographische Traditionen decodieren können. Traditionen überhaupt werden als reine Nostalgie abgetan. Und Nostalgie ist Ausdruck einer bewegten und beweglichen Seele und die werden nur Migranten, Flüchtlinge, Bewegte und damit Bevölkerungsgruppen, die kein hohes soziales und gesellschaftliches Ansehen besitzen und auch in Zukunft nicht besitzen werden, ihr eigen nennen. Weil unser Literaturverständnis des Jahres 2015 dem Geheimnis, der Erinnerung, der Schönheit und eben den Traditionen verschrieben ist, verstehen wir es kaum, diesen Schlagwörtern den Aufstand, die Verstörung, die Härte und die Struktur entgegenzusetzen, so wie es nur Literaten könnten, nämlich in radikaler, beweglicher und intellektueller Weise. Daher sehe ich bis 2035 die Bedeutung der Literatur abnehmen und ab 2035 gänzlich verschwinden. Literatur wird folglich Erinnerung. (Fun fact: Erstes Zeichen dafür wird grammatikalisch das Aussterben des Konjunktivs sein. Konjunktive drücken im Deutschen Möglichkeiten und Wünsche aus. Für eine Gesellschaft, die sich dem Faktischen vollkommen verschreibt und das Wünschen den Randgesellschaften überlässt, entfällt die Notwendigkeit, sich einer kommunikativen Entsprechung zu bedienen.) Für die Menschen, die noch mit Literatur aufgewachsen sind, in Strukturen, die eine Beschäftigung mit ihr zuließen, forderten und nötig machten, wird sie eine der vielen Geschichtstopoi sein, die man den Kindern und Kindeskindern anderer Leute erzählt – denn meine Generation bekommt keine Kinder – wenn diese überhaupt noch Geschichten fordern.
Hoffentlich aber wird noch in der nächsten Dekade alles anders und Literatur bleibt ein Phänomen der Sprache und der Erfindung und damit ultimativer und lustvoller Ausdruck menschlicher Existenz. Dafür aber bedarf es der schützenden, erhaltenden Strukturen, die jede Anfechtung abwehren, die die Wichtigkeit scheinbarer Marginalia hochhalten, schon weil es sich vom Rand am besten ins Innere blicken lässt und diese Beobachtung immer noch als wertvollstes zivilisatorisches Ringen erkannt bleibt, da es auch allen xenophoben Tendenzen aktiv entgegen zu wirken vermag.
Aber diese Absichten sehe ich 2015 nicht und von daher:

Literatur wird spätestens ab dem Jahr 2035 vollkommen bedeutungslos für die weitere Zukunft, wird zum abgeschlossenen historischen Phänomen, das Eingeweihte, sogenannte Reader, noch als Quelle für Barcodierungen verwenden, die über das Binäre hinausreichen sollen.

Nora Gomringer, schweizerisch-deutsche Lyrikerin und Rezitatorin, geb. 1980 in Neunkirchen an der Saar. Studium der Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Bamberg, wesentliche Gestalterin der deutschen Poetry-Slam-Szene (2001-2006). Seit 2010 Leitung des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a.: Weilheimer Literaturpreis (2015), Ingeborg-Bachmann-Preis (2015). Zuletzt erschien: „Monster Poems“ (Voland & Quist, 2013) und „Morbus“ (Voland & Quist, 2015).