Ein Nachruf auf Gerhard Roth.
Gerhard Roth war für mich zuallererst eine Stimme am Telefon. Als im Jahr 2001 sein Vorlass an das Franz-Nabl-Institut kam, war diese Stimme allgegenwärtig, erklärte werkgenetische Zusammenhänge, beantwortete Fragen, kündigte Ergänzungslieferungen an und entwickelte Projektideen. Die Stimme aus dem Hörer monologisierte über die politische Situation im Land, über das kulturelle Klima in Graz – es war die Vorbereitungsphase des Kulturhauptstadtjahrs 2003 –, über Konflikte mit Kollegen, wobei die männliche Form hier bewusst gewählt ist. Ich war ganz Ohr.
Später bekam auch ich eine Stimme. „Wie hast du den Text gefunden?“ Da war die große „Orkus“-Schau, die als Eröffnungsausstellung des Grazer Literaturhauses den Vorlass von Gerhard Roth erstmalig öffentlich präsentieren sollte, trotz des holprigen Anfangs erfolgreich über die Bühne gegangen und das Vertrauen des Autors in das Werkverständnis der Archivarin gewachsen. Erstmalig (und in der Folge bei jedem neuen Buch) durfte ich eine frühe Typoskriptfassung – hier der wahnhaften Irrgänge von „Das Labyrinth“ – für Gerhard Roth Korrektur lesen. „Wie findest du es?“ Wie ein Spürhund mit der Nase noch ganz im Mikrokosmos der Formulierungen gefangen, war ich damals nicht wirklich in der Lage, mich vom Boden der Labyrinth-Gänge zu erheben, um aus der Ikarus-Perspektive den Ausgang aus diesem wahnwitzigen Irrgarten unterschiedlicher Autorfiktionen zu suchen. Die zahlreichen Essays, Abschweifungen, historischen Exkurse etc. – Inseln der Verständlichkeit in einem im großen Ganzen rätselhaften Textuniversum – sind mir vielleicht gerade deswegen so gut in Erinnerung geblieben. Bis heute verursacht mir Roths Buch über „die Könige, die Geisteskranken und die Künstler – und nicht zuletzt über mich selbst“, wie dessen rekursiv in den Anfang mündender Schlusssatz lautet, Schwindel, wenn ich versuche, es rational zu begreifen. Es stürzt einen in einen Abgrund aus Metafiktionen, sodass man meint, an der Wirklichkeit selbst irre zu werden.
Das Zögerliche, Tastende meiner damaligen Antworten, dass ich eher eine Suchende denn eine Wissende war, dürfte dem unermüdlichen Labyrinth-Bauer und Chronisten unsichtbarer Wirklichkeiten gefallen haben. Gerhard Roth war einer, der sich zeitlebens aussetzte, und er forderte dies auch von seinen Leser*innen ein. Schreiben, Lesen und Leben existierten für ihn nicht unabhängig voneinander. Was er erkannte, formulierte er in seinen Werken, und zugleich stellten sich beim Formulieren wieder neue Erkenntnisse ein, die ebenfalls Eingang in den Text fanden, sodass das Schreiben Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern selbst Realitäten erzeugt, die einem beim Lesen den sicheren Boden alltäglicher Gewissheiten und Selbstgewissheit unter den Füßen wegziehen. Wer sich auf dieses – in seinen elendslangen Retardierungen oft auch quälende – Spiel einlässt, dem prägt diese Literatur in Hunderten von Seiten eine Haltung des genauen Hinsehens, des Offenhaltens von Bedeutung, der Vermeidung vorschneller, ideologisch vorformulierter Meinungen ein, die ihn oder sie letztlich die Wirklichkeit mit anderen Augen sehen lässt. Weniger oberflächlich, weniger selbstgewiss, die eigene Sterblichkeit nicht verleugnend, ihr aber auch nicht übermäßig Bedeutung zumessend, und den von unserer Gesellschaft (mit-)produzierten Toten – seien es die Millionen ermordeter Juden oder die hilflos ertrinkenden Flüchtlinge im Mittelmeer – Erinnerung und Mitgefühl nicht verweigernd. Wenn ich etwas von Gerhard Roth gelernt habe, so ist es, den falschen Tönen wissenschaftlicher Scheinrationalisierungen und den ideologischen Glaubenssätzen, egal welcher Richtung, zu misstrauen und zu verstehen, dass wir selbst immer ein Teil des Problems sind, an dessen Lösung wir gerade arbeiten.
Wieder später, ich war gerade mit meiner zweiten Tochter in Karenz, meldete sich die Stimme mit erstaunlicher Beharrlichkeit auf meinem Festnetztelefon. Es war die Vorbereitungsphase für die erste große Fotoausstellung zu Roths südsteirischen Fotografien samt umfangreichem Begleitbuch, „Atlas der Stille“ (2007). Von zuhause aus arbeitete ich an Konzeption und Textredaktion mit, während Studentinnen am Nabl-Institut in enger Abstimmung mit Senta Roth an die 15.000 sogenannte „Land“-Fotonegative und Dias entwickeln ließen, sortierten, scannten und (digitalisiert) wieder aufs Land zurückschickten, wo dann Martin Behr und der Verleger Christian Brandstätter gemeinsam mit dem Fotografen selbst an der Bildauswahl arbeiteten. Es war das vermutlich ausuferndste und forderndste Projekt, an dem ich jemals mit Gerhard Roth zusammengearbeitet habe. Galt es doch, innerhalb weniger Monate einen Bild- und Textkosmos zu durchdringen, an dem der Autor dreißig Jahre lang geforscht und gearbeitet hatte.
Gerhard Roth war ein im besten Sinne Besessener. Was er tat, tat er mit vollem Einsatz. In seinen Fotografien näherte er sich den Dingen des Lebens an – zuerst ganz real den für ihn damals noch fremden Gegebenheiten auf dem Land, Anbauen und Ernten, Jagen, Schlachten, den dörflichen Ritualen, den Gesichtern der Menschen, später den Veränderungen in der Natur, den Spuren, abstrakten Mustern, Himmelsbildern, für deren fotografische Aufnahme er keine Mühen scheute. Ein Foto, auf dem wie aus Nebeln die Umgebung seines südsteirischen Hauses unscharf auftaucht und oben über den Wolkenbänken das erste Sonnenlicht des neuen Tages hellgelb aufleuchtet, hat er mir eigens zugeschickt. Die Stimme aus dem Hörer erzählte damals, er habe vom Bett aus ein wunderbares Morgenrot wahrgenommen, sei trotz der Kälte im Morgenmantel hinausgestürzt, um den Sonnenaufgang zu fotografieren, dabei gestürzt und mit einem offenen Beinbruch am Boden liegengeblieben. Das Foto hat er dennoch aufgenommen. Es ist beschriftet mit: „Nach Sturz und Beinbruch im Dezember, 13.12.2011. Gerhard Roth, Kopreinigg, 26.7.2015“.
Gerhard Roth hatte das Talent, Menschen an sich zu ziehen und für seine Projekte zu begeistern. Seine Einladungen in die Südsteiermark, das Sitzen unter dem Nussbaum, die liebevolle Bewirtung und Betreuung durch seine Frau Senta, die Gespräche bis spät in die Nacht… Einmal zog die Stimme aus dem Telefonhörer einen Vergleich mit den altniederländischen Malern, in deren Werkstätten die berühmten Meister nur die zentralen Bildelemente, Komposition, Gesichter, Hände etc. selbst gemalt hatten, während gewisse Bildpassagen den Assistenten in Eigenregie überlassen blieben.
„Atlas der Stille“ war der vielleicht beeindruckendste Fotoband Gerhard Roths und ist heute vergriffen. Die Art der Zusammenarbeit wurde zum Prototyp für fünf weitere Fotobände, die in wechselnden Verlagen mit wechselnden Mitarbeiter*innen jeweils von Gerhard und Senta Roth gemeinsam mit Martin Behr und mir und in Zusammenarbeit mit dem Nabl-Institut publiziert wurden. Der bereits avisierte „Amerika“-Fotoband mit Bildern aus den 1970er Jahren ist – auch aufgrund der nachlassenden Kräfte Gerhard Roths – nicht mehr zustande gekommen.
In den letzten Jahren klang die Stimme leiser und müder und auch die Archivarin war deutlich älter geworden. „Was sagst du dazu?“ Nun ging es etwa um Titelfragen in Bezug auf Roths jüngste Venedig-Trilogie, und aus der Diskussion darüber entspann sich in der Folge ein Gespräch über – im wahrsten Sinne des Wortes – Gott und die Welt. „Was sagst du dazu?“ Um den ursprünglichen Titel „Dies irae“ (für „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“), den der Verlag aus Gründen der Vermarktbarkeit ablehnte, habe ich – wenig erfolgreich – am Telefon wie eine Löwin gekämpft – schien mir der wuchtige „Tag des Zorns“, der Vorstellungen eines Jüngsten Gerichts aufruft und als Satz-Titel eines musikalischen „Requiems“ zugleich auf das Musik-Thema des Romans hinweist, doch geeignet, die falschen Fährten ausschließlich realistischer Lesarten von vornherein zu verhindern. Vielleicht waren diese aber gar nicht so falsch und das „Zu-kurz-Greifen“ durchaus intendiert, lässt sich der Roman doch auch ganz vordergründig als Kriminalgeschichte und „alternativer Venedig-Reiseführer“ lesen (und verkaufen).
Immer wieder erstaunte mich, mit welcher Leichtigkeit Gerhard Roth Eigenes verwarf und sich Neuem zuwandte, ganze Textpassagen strich, wenn sie ihm nicht mehr zu passen schienen, und eine Offenheit für sich neu Ergebendes an den Tag legte, ohne die dieses riesige Werk wohl nicht zustande gekommen wäre. Kaum jemals habe ich jemanden getroffen, der – obwohl überempfindlich, wenn er sich hintergangen fühlte, und apodiktisch, wenn es um Fragen der (politischen) Moral ging – so offen über sein Werk diskutierte und auch kritische Einwände oder (sprachliche) Korrekturen ohne Verstimmung, ja sogar mit Dankbarkeit annahm, wenn ihm diese einleuchteten.
In allerletzter Zeit klang die Stimme – vor allem auf der Mobilbox – brüchig und gewann erst im Lauf eines längeren Gesprächs ihre alte Festigkeit wieder. Da ging es um jene „Jenseitsreise“, für die Gerhard Roth sich noch einmal mit dem Material seiner früheren Reisen im Kopf in ein fiktives Ägypten aufmachte und die er 2022 abschließen wollte. Gemeinsam mit „Die Imker“ waren die beiden Nachhall-Romane (auf „Landläufiger Tod“ bzw. „Der Strom“ – und damit auf die beiden großen Erzählzyklen) als Teile einer neuen Trilogie geplant, als deren dritter Band, wie ich erfuhr, noch ein fiktives „Tagebuch“ folgen sollte.
Mitten im Schreiben der „Jenseitsreise“ hat Gerhard Roth nun selbst eine Reise in ein Jenseits angetreten. Und damit jene Endlosschleifen vollendet, mit denen er seit vielen Jahren das eigene Leben chiffriert in die Fiktion einschrieb und durch die zyklische Konstruktion wie in einem Film von David Lynch über den Tod hinaus ad infinitum perpetuierte. Die Stimme aus dem Telefonhörer ist verstummt, die Stimme eines seiner wunderbarsten Geschöpfe, des stummen, schizophrenen Imkersohns Lindner wird im Roman „Die Imker“, der im Mai 2022 erscheinen wird, aus dem nunmehrigen Nachlass Gerhard Roths sprechen. Der Roman selbst präsentiert sich als ein ebenfalls nachgelassenes Manuskript Lindners aus der Anstalt Gugging, in dem dieser eine Welt nach dem Verschwinden der Menschen imaginiert. Nur Gegenstände – Kleider, Uhren, Handys… – sind zurückgeblieben, die Menschen selbst haben sich in Luft aufgelöst. Aber einige wenige aus diversen geschlossenen Anstalten, Insassen und deren Wärter, haben überlebt. Wie werden sie die neue Welt einrichten?
Gerhard Roth ist tot. Das Telefon schweigt. Noch stehen einige prall gefüllte Tragtaschen der letzten Vorlass-Nachlieferung mit Werkfassungen, Recherchematerialien, Notizbüchern, Briefen, Einladungen, und was immer der leidenschaftliche Archivar Roth seinem Archiv einverleiben wollte, zur weiteren Bearbeitung in meinem Büro. Eintrittskarten in die Sturm Graz-Arena, Petitionen für einen syrischen Künstler, Aussendungen des Mauthausen-Komitees… Aber der Autor selbst ist nicht mehr da.
In „Grundriss eines Rätsels“ (2015) – wie in eigentlich all seinen letzten Texten – hat er diese Situation vorweggenommen. Dort macht sich ein ehrgeiziger Archivar, eine Figur am Rande des Wahns, nach dem Tod des Autors auf seinen Spuren in die Südsteiermark auf, um dort nach dessen letztem Werk zu fahnden – wobei er (als Bewohner von dessen Haus und Geliebter von dessen Geliebter) in seiner anmaßenden Überidentifikation sukzessiv den Platz des Autors einnimmt. Schließlich findet er eine Abschrift des gesuchten Manuskripts, liest mit zunehmendem Grauen seine eigene Geschichte und entdeckt, dass er nur die Figur in einem vom Autor über den Tod hinaus vor-geschriebenen Spiel ist.
Gerhard Roth ist gestorben. Eigentlich hat er beinahe alles, was über dieses Verschwinden zu sagen wäre, in seiner Literatur bereits vorweggenommen, den eigenen Tod und auch die Wiederkehr in der Fiktion – als Affe oder als Archivar („Grundriss eines Rätsels“), als Zwillingsbruder („Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“).
Gerhard Roths Literatur steht wie ein Monolith innerhalb der österreichischen Literaturlandschaft. Anschlussstellen dieses hochgradig intertextuellen Schreibens finden sich in weltliterarischen Zusammenhängen eines metafiktionalen, die Zeiten aufsprengenden Produzierens: Hermann Melvilles „Moby Dick“, Laurence Sternes „Tristram Shandy“, Jorge Louis Borges oder Vladimir Nabokov, die Filme von Andrei Tarkowski oder David Lynch, die Dramen von Shakespeare und viele andere mehr wären zu nennen. In diesen Kontext hat er sich eingeschrieben – mit einer einzigartigen Passion für die sozial Schwachen, Ausgegrenzten, Wahn-Sinnigen, die kleinen Freuden des Alltags und die großen politischen Zusammenhänge, kurzum für das Universum von seinen kleinsten bis hin zu den großen und letzten Fragen.
Gerhards aufmerksame, engagierte, menschenfreundliche und lebensbejahende Stimme wird fehlen, nicht nur mir.
Daniela Bartens