Selfie © Kastberger
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Es war ihr gegeben. Ein Nachruf auf Friederike Mayröcker (20.12.1924 – 4.6.2021)

in Nachruf

Von Klaus Kastberger

Die Dichterin ist tot. Im Alter von 96 Jahren ist vorige Woche in Wien Friederike Mayröcker verstorben. In früheren Interviews hat sie wiederholt gesagt, dass sie zumindest 120 Jahre alt werden möchte. Warum? Weil es noch so viel zu erleben und zu erfahren gibt und unendlich viel zu schreiben. Vor allem aber: Weil es einfach nicht zu akzeptieren ist, dass der Tod das Leben übertrumpft und ihm seine Möglichkeiten raubt.
Für Mayröcker, diese faszinierende Frau in ikonenhafter Erscheinung, bestanden alle Möglichkeiten des Lebens im Schreiben. Ihre Bücher setzen das ungeheure Talent in Szene, das ihr gegeben war und vor dem die Autorin oft selbst nur ungläubig ins Staunen kam. Während die Schreibende sich klein machte und an manchen Stellen ihrer Literatur nahezu verschwindet, feiert die Sprache in ihren Büchern ein unausgesetztes Fest. Bis zum Schluss hat Mayröcker geschrieben. Es war ihr gegeben.
Sie war eine wirkliche Dichterin und als solche absolut einzigartig. Ihre Literatur ist radikal und ihr Schreiben kompromisslos. Mit knapp fünfzehn Jahren hat sie, die Tochter eines Lehrers und einer Modistin, die Großeltern hatten ein kleines Haus im Weinviertel, zu schreiben begonnen. Zunächst surrealistisch inspirierte Gedichte. Mitte der 1950er Jahre brachte sie die Bekanntschaft mit Ernst Jandl, ihrem dann langjährigen Lebensgefährten, in den Umkreis der österreichischen Avantgarde. Neben Elfriede Gerstl war sie dort, in der Wiener Männergruppe, die einzige Frau, die zumindest am Rand akzeptiert wurde.
Bis Ende der 1960er Jahre arbeitete Mayröcker als Lehrerin in einer Wiener Hauptschule. Ein Studium der Germanistik musste sie abbrechen, weil kein Geld da war. Jahrzehntelang trauerte sie dieser versäumten Ausbildung nach. Das Ende des quälenden Brotberufs war eine Wiedergeburt. Die literarischen Formen, die sie bis dahin entwickelte hatte, „Lange Gedichte“ und avantgardistische „Texte“ (versammelt in dem Band Tod durch Musen, 1966), waren in ihren Dimensionen auch von den äußeren Lebensumständen geprägt. Viel Zeit zum Schreiben hatte Mayröcker damals nicht. Nur an Abenden und in den Ferien war für sie konzentrierte literarische Arbeit möglich, für längere Arbeiten reichte die Zeit nicht aus.
Eine erste große Anerkennung wurde der Autorin mit der Verleihung des renommierten Hörspielpreises der Kriegsblinden (1969) für ein gemeinsam mit Jandl verfasstes Radiostück zuteil. In den nachfolgenden Jahrzehnten stattete der deutschsprachige Literaturbetrieb die Autorin bis hin zum Büchner-Preis (2001) mit allen Ehren aus, die er zu vergeben hat. Um 1970 kam es in Mayröckers Werk zu einer entscheidenden poetologischen Wende. Pur formale Manipulationsverfahren an der Sprache, wie Vertreter der Konkreten Poesie sie propagierten, genügten ihr ab diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Hinter der Abwendung vom nackten und kruden Experiment stand eine Erfahrung, die Mayröcker im Schreiben machte. Die Sprachmaterialien, mit denen sie hantierte, ließen sich für sie nicht länger als rein klinische Gegenstände verstehen. Selbst an sprachlichen Fremdmaterialien, die sie weiterhin in ihre Dichtung integrierte, hängen Inhalte und Emotionen. Mayröckers einzigartiger und jahrzehntelang konsequent beschrittener literarischer Weg war es, diese in der Außenwelt, in Büchern und Briefen, Traumresten oder Aufschriften vorgefundenen und rasch auf Zettel notierten Sprachfetzen fortan mit den eigenen Erfahrungs- und Gefühlswelten zu korrelieren. In ihrer Literatur zeigt sich, dass eigenes Empfinden aus fremder Sprache gemacht ist. Anders wäre Kommunikation und dichterischer Ausdruck nicht möglich. Alle Spiele, die Mayröcker mit der Sprache treibt, tragen im Hintergrund diesen tiefen erkenntnistheoretischen Ernst.
Aus den ihr belanglos gewordenen Formspielen der Avantgarde hat Mayröcker fein ziselierte, manchmal aber auch sehr heftige und an die eigene Existenz rührende Psychocollagen und Psychomontagen gemacht. Dass ihre Literatur „leise“ ist, stimmt insofern nicht, als in ihr ein unbändiger Wille zur poetischen Setzung herrscht, bis hinein in Bereiche, in die die Dichtung vor ihr nicht gekommen war. Mitte der 1970er Jahre wechselte Mayröcker zum Suhrkamp-Verlag. Über Jahrzehnte hinweg hat sie von da an in ihren Publikatonen relativ klassisch zwischen Prosa- und Lyrikbänden unterschieden. Völlig zu Unrecht gilt die Autorin bis heute oft nur als eine reine Lyrikerin.
Mayröcker Prosa ist radikal anti-narrativ. Die Aversion gegen das Erzählen von Geschichten kommt in ihr aber nicht aus programmatischen Erwägungen gegen eine Ideologie des Realismus, sondern aus der unmittelbaren Erfahrungswelt der Autorin. Mayröcker sah ihr eigenes Leben nicht hinlänglich von Chronologien und Kausalitäten bestimmt. Aus einem multiperspektivischen Erfahrungsmodus heraus und auf der Grundlage einer „Biographielosigkeit“ des Daseins entwickelte sie eine beeindruckende Reihe großer Prosaarbeiten. Diese Werkgruppe reicht von Die Abschiede (1980), Reise durch die Nacht (1984) und mein Herz mein Zimmer mein Name (1988) über Stilleben (1991) und Lection (1994) bis hin zu brütt oder Die seufzenden Gärten (1998). Diese Serie stellt einen zentralen Teil ihres literarischen Vermächtnisses dar.
Worum geht es in diesen Büchern? Es geht um das Alter und die Jugend, um Mann und Frau, es geht um Beziehungen, erste und letzte Liebesgeschichten. Es geht um Befindlichkeiten und Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. Lehrstücke des Schreibens und Schaubilder einer poetischen Existenz liefert Mayröcker darin ab, auch schonungslose Blicke auf den eigenen Körper. Die Sprache der Autorin legt sich sanft an die Dinge, schafft zwischen größten und kleinsten Lebewesen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, heult verzückt auf, verzeichnet kleinste Regungen, zeigt Übermut. Umgarnt anderes: Die Texte von Jacques Derrida beispielsweise, die der Autorin eine lebenslange Inspiration waren.
Entscheidend ist, dass diese Geflechte aus psychodynamischen Strömen keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie nach ästhetischen Kriterien geformt sind. Das schiebt den Unsäglichkeiten traditioneller Befindlichkeitsdiskurse einen Riegel vor. Mayröckers Bücher sind niemals Haufen lose hingeworfener Assoziationen. Ganz im Gegenteil: Erst in der Striktheit, mit der hier Formprinzipien eingelöst werden, greifen diese Texte der Leserschaft ans Herz.
Der Tod von Ernst Jandl im Juni 2000 zerfetzte die Mayröckersche Formgebung. Sie wollte damals, so hat die Autorin gesagt, eigentlich nicht mehr weiterleben. Nur langsam fand sie zum Schreiben zurück. Über die Materialberge ihrer Wohnung, dieser einzigartigen Sprachhöhle, deren Fotos ganz wesentlich zu dem Bild gehören, das wir von der Autorin haben, breitete sie damals weiße Leintücher. Wenn man genau hinschaut, kann man diesen vertikalen Schnitt in den Materialtürmen bis heute sehen. Die gesammelten Zettelchen wucherten auf den Tüchern weiter. Das Sammeln von Sprache hörte bei Mayröcker niemals auf, es bildet die kontinuierliche Grundlage ihres gesamten Schaffensprozesses.
Mit dem bruchstückhaften Band Requiem für Ernst Jandl (2001) fand Mayröcker noch einmal zu einer anderen Form des Schreibens. Von ihr selbst als Proeme bezeichnet, fällt in den letzten Büchern Lyrik und Prosa in eins. Die poetische Ausdruckskraft der Autorin teilt sich nicht länger auf jene zwei Tätigkeiten auf, die ihr Schreiben bis dahin strukturiert hatten. Eine kurze Phase der Konzentration beim Gedicht und eine ganz andere und dauerhafte Sitzhaltung bei der Prosa. Ab jetzt ist alles an einem einzigen Strang des Schreibens versammelt.
Es ist kein Alterswerk, das die Autorin in Bänden wie Und ich schüttelte einen Liebling (2005), Scardanelli (2009), Ich bin in der Anstalt (2010), études (2013), cahier (2014) und fleurs (2016) vorlegt. Nichts wird in diesen Büchern zu einem gediegenen Abschluss gebracht. Stattdessen nimmt die Autorin volles Risiko und treibt ihr Schreiben noch einmal ins Offene. Das zeigt sich auch in ihrem letzten Band als ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (2020). Schon der Titel dieses Buches entschlägt sich einer jeden Begrenzung, fliegt über grammatikalische Satzgrenzen hinweg und setzt den Punkt wie eine Wunde oder einen Bruch mitten in den Satz.
Wenn es den langen Weg nicht gegeben hätte, den Friederike Mayröcker in ihrer Literatur genommen hat: Man könnte sich so etwas wie die glanzvollen letzten Bücher der Autorin gar nicht vorstellen. Mehr als sieben Jahrzehnte lang hat Mayröcker die Sprache zu sich gelockt. Sie ist bei ihr eingefallen und hat ihre Existenz in Beschlag genommen. Im letzten Buch breitet sie sich noch einmal über alle Grenzen hinweg aus. Ihre Wachstumsmöglichkeiten scheinen ohne Ende. Mit lautlichen Anklängen wird das Heterogene geglättet und mit poetischen Sirenentönen das Gesetzte verjagt.
Der Text heult auf, gibt sich jugendlich-ungestüm. Kommt er in einer Wendung zur Ruhe, folgt sogleich der nächste sprachliche Sturm, das nächste Capriccio, die nächste hochfliegende Wendung. Ein Changier-Bild der Autorin entsteht: Das Porträt einer Dichterin, die sich in ihrer Literatur ganz gegeben und die Sprache auf ungeahnte Himmelsbahnen gehievt hat. Nur von großer Dichtung gilt: Ein Stück von ihr bleibt in der Sprache. Friederike Mayröcker hat es mit ihrem Werk dahin geschafft.

(In: Falter, Wochenzeitung Wien, 9.6.2021)